Rezension Rezension (5/5*) zu Die Harpyie: Roman von Megan Hunter.

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.885
49
Beklemmend-faszinierendes Leseerlebnis


„Es geschah an einem Freitag, die Jungs waren in den letzten Zügen ihrer Wochenroutine, ich bemühte mich ihretwegen um Gefasstheit, ein Schiff im Trockendock, etwas, dessen Ende kaum abzusehen war. Ich holte sie von der Schule ab, verteilte Snacks, sammelte Schnipsel des Tages, die Verpackungen ihrer Süßigkeiten.“(S. 16)

Ich-Erzählerin Lucy und ihr Ehemann Jake leben am Rand einer wohlhabenden englischen Kleinstadt. Sie haben zwei Söhne im Grundschulalter. Jake hat lange Arbeitstage, kommt häufig erst nach Hause, wenn die Kinder schon schlafen. Lucy hat eine Teilzeitarbeit, die sie von zu Hause aus erledigen kann. Sie scheint nicht zufrieden zu sein mit diesem Leben als Hausfrau und Mutter, fühlt sich reduziert. So parkt sie die Kinder vor dem Fernseher, serviert ihnen lieblose Mahlzeiten und fühlt sich ihrer Rolle nicht gewachsen. Sie hat ein geringes Selbstwertgefühl, bemüht sich aber stets, für die Außenwelt sichtbar gut zu funktionieren. Lucy erlegt sich manchen Perfektionismus auf und lechzt nach Anerkennung durch Nachbarn und Bekannte.

Das oberflächlich intakte Familienleben wird plötzlich durch einen Anrufer zerstört, der Lucy mitteilt, dass Jake eine Affäre mit einer deutlich älteren Kollegin, der Ehefrau des Anrufers, hat. Diese Nachricht wirkt wie ein „Atomzertrümmerer“ und erschüttert Lucys ohnehin fragile Psyche: „Etwas in mir brach aus seiner Verankerung, dergleichen hatte ich schon oft befürchtet. Als habe sich ein Organ losgerissen, um entwurzelt durch meinen Körper zu treiben.“ (S. 31)

Lucy ist völlig überfordert mit der Situation. Sie stellt ihren Mann zur Rede, der die Affäre als unbedeutend herunterspielt und sogar in Tränen ausbricht. Die Eheleute gehen auf Distanz, gestalten aber den Alltag, so gut es geht, gemeinsam. Lucy gibt uns Einblicke in die Vergangenheit. Nach und nach reflektiert sie ihre bewegte Familiengeschichte, das gemeinsame Kennenlernen, ihre junge Ehe, den aufkommenden Kinderwunsch. Die Rückblicke ergänzen sich mit den aktuellen Geschehnissen. Als Leser bekommt man dadurch einen tiefen Einblick in Lucys Gedanken, die extrem hin und her gerissen werden. Lucy stellt sich die Affäre sehr bildlich vor, empfindet Schwäche und Ekel. Im nächsten Moment ist da nur noch unbändige Wut ihrem Mann gegenüber. Man kann sich ihre Empfindungen angesichts des Treuebruchs sehr gut vorstellen.

Lucy und Jake schließen ein Abkommen: Auch Lucy darf Jake verletzen. Drei Mal. Danach soll die Schuld abgegolten sein. Lucy plant ihre Rache perfide und genau. Sie erwischt Jake völlig unvermittelt, die Folge ihres Tuns zieht weite Kreise. Die Handlung nimmt immer mehr Fahrt auf. Gebannt verfolgt man die Geschehnisse, die zunehmend ihre eigene unvorhersehbare Dynamik entfalten.

In kurzen, intensiven Einschüben erfahren wir zudem immer mehr über Lucys schwierige Kindheit, über ihre Ängste und ihre gewalttätigen Eltern. Außerdem hat Lucy seit jeher eine unbändige Faszination für die Harpyien, Mischwesen (Vogel/Frau) aus der griechischen Mythologie, die als Zorn- und Rachegöttinnen gelten. „Ich fragte meine Mutter, was eine Harpyie sei; sie sagte, dass sie Männer für das strafen, was sie tun.“ (S. 37) Der Zusammenhang zwischen diesem Wesen der Harpyien und dem Abkommen der Eheleute, dass Lucy ihren Mann drei Mal bestrafen darf, wird für den Leser offensichtlich…

Literarisch hat der Roman ein hohes Niveau. Die Autorin verzahnt unterschiedliche Ebenen perfekt miteinander, man wird tief in die Gedankenströme Lucys hineingezogen. Man spürt früh, dass Lucy seelisch verletzt ist, dass ein familiäres Trauma im Hintergrund lauert. Zudem ist ihre Fokussierung auf die Harpyie, die immer mehr Gestalt annimmt und sich zur Verwandlungsfantasie steigert, nicht normal. Lucy entwickelt Charakterzüge einer Psychopathin, versucht dabei aber krampfhaft, ihre Demütigung nicht nach außen dringen zu lassen. Sie hat keine Freunde, die ihr in der verfahrenen Situation helfen könnten. Als Leser wird man in ihren dunklen Gedankenstrom hineingezogen und von der Handlung mitgerissen.

Wir erfahren ausschließlich Lucys Perspektive, andere Figuren bleiben verhältnismäßig blass, spielen im Grunde nur Nebenrollen. Der Roman lebt vom Innenleben seiner Protagonistin. Schlicht begeistert bin ich vom Sprachstil! Megan Hunter schreibt metaphernreich und bildhaft. Die geheimnisvolle Psyche Lucys wird schrittweise aufgedeckt. Innen- und Außenleben der Figur verschwimmen vor den Augen des Lesers immer stärker, bis es zu einem fesselnden, unvorhergesehenen Finale kommt.

Das Buch hat mich von der ersten bis zur letzten Seiten unglaublich fasziniert. Es ist dermaßen perfekt komponiert, dass ich es Lesern, die Spannung und psychologischen Thrill mögen, unbedingt ans Herz legen möchte.