Rezension Rezension (4/5*) zu Kafka mit Flügeln: Roman von Daniela Emminger.

ThomasWien

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19. März 2021
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Wien
Überraschungspaket

Inhalt

Als Samat eines Tages plötzlich spurlos verschwindet und sich auf die Suche nach seinen kirgisischen Wurzeln begibt, bleibt seine Jugendfreundin Sybille verloren in Österreich zurück. Ein Vierteljahrhundert später stößt sie auf seine seitdem verfassten Briefe und beschließt, ihrem einstigen Seelengefährten hinterherzureisen.

Eindruck und Bewertung

Als ich das Buch zu lesen begann, war ich nach den ersten Kapiteln auf eine Liebesgeschichte zwischen Samat und Sybille eingestellt. Ich war darauf eingestellt, dass ich viel über Kirgistan lernen werde, dass mich die Autorin auf eine Reise in ein fremdes, für mich mystisches Land mitnimmt und dass sich Samat und Sybille nach Jahrzehnten letztendlich in einer Jurte wiederfinden werden und den Rest ihres Lebens miteinander verbringen. Doch mit jeder gelesenen Seite wurde die anfangs realistische, konventionelle Geschichte, fortlaufend bizarrer. Die Suche nach Samat begann wie eine moderne, sich über tausende Kilometer erstreckende, Schnitzeljagd, mündete zeitweise in eine Art Spionagegeschichte mit thrillerähnlicher Dynamik und pseudo-wissenschaftlichem Hintergrund. Ehrlicherweise war ich über den Verlauf geschockt, da ich selber keine Rezensionen lese, war ich auch nicht darauf vorbereitet. Gut, ganz stimmt das nicht, natürlich habe ich mir schon anhand des Titels gedacht, dass hier eine absurde Wendung stattfinden könnte, das Ausmaß überraschte mich dann aber doch sehr. Eine Gratwanderung; auf der einen Seite Faszination auf der anderen Seite Absurdität. Glücklicherweise konnte ich auf dem Grat bis zum Ende des Buches bleiben ohne in die absolute Absurdität abzustürzen. Wobei mir gerade im Mittelteil die wissenschaftliche Abhandlung bzw. Erklärung des „psukh“, dem Experiment an dem Samat arbeitet, eindeutig zu langatmig und zu detailliert war. Keine Frage, darin steckt sehr viel Mühe, allerdings bremste es doch sehr meinen Lesefluss. Manchmal ist Weniger mehr.

Was man als Leser auf jeden Fall bemerkt ist die aufwendige Recherchearbeit, die Daniela Emminger im Vorfeld zu ihrem Roman durchgeführt hatte. In einem Interview habe ich gelesen, dass sie mehrere Monate in dem ehemals sowjetischen Land Kirgisistan verbracht hatte. Sie wollte sich fremd fühlen. Sie wollte am eigenen Leib verspüren, wie es sich anfühlt, wie es sich für Sybille anfühlen könnte. Wobei man hier sagen muss, sowohl Sybille als auch viele ihrer Gesprächspartner in Kirgisistan sprechen ein wunderbares Englisch, sodass sie zwar alleine war, sich aber dennoch verständigen konnte. Wie fremd muss man sich erst fühlen, wenn man weder die Landessprache noch Englisch beherrscht?

Das Buch handelt von Selbstfindung und neuen Perspektiven nach schmerzlichen Verlusten. Sowohl das Buch als auch die Charaktere sind in einer ständigen Metamorphose. Da die Geschichte zunehmend skurriler wird, kann man sie durchaus als kafkaeske Metamorphose bezeichnen.

Schlussendlich kann man sagen, dass ich wieder ein Land bereisen durfte, zu dem ich im Voraus keinerlei Bezug hatte. Wer sich weder an bizarren Wendungen noch an ausschweifenden Wissenschaftlichen Abhandlungen stört, gerne reist, gerne neue Welten entdeckt, hat mit „Kafka mit Flügeln“ mit Sicherheit eine gute Wahl getroffen.

Autorin

Daniela Emminger, geboren 1975 in Oberösterreich, lebt und arbeitet seit 2008 als Schriftstellerin und freie Journalistin in Wien. Davor war sie Werbetexterin in Hamburg und Berlin und Redakteurin in Litauen und Lettland. Bisherige Veröffentlichungen: »Leben für Anfänger« (2004), »Schwund« (2014), »Die Vergebung muss noch warten« (2015), »Gemischter Satz« (2016). Diverse Stipendien und Auszeichnungen. Zuletzt war sie 2016 mit »Gemischter Satz« auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises.

 

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