Rezension Rezension (5/5*) zu Ein Lied für die Vermissten: Roman von Pierre Jarawan.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Vom Schweigen über die Vergangenheit

In “Ein Lied für die Vermissten“ kehren wir mit Amin nach Beirut zurück, das er als Baby 12 Jahre zuvor mit seiner Großmutter in Richtung Deutschland als Bürgerkriegsflüchtlinge verlassen hat. Viel ist in diesen 12 Jahren in dieser Stadt passiert. Sie liegt in Schutt und Asche und nicht nur die Gebäude haben schwere Verwundungen davongetragen. Die strikte Teilung der Stadt in Ost und West ist aufgehoben, und doch ist noch viel, viel Teilendes in den Menschen und ihren Köpfen verankert und zeigt sich in ihrem Denken und Handeln. Nur in ihren Worten, da zeigt sich sehr wenig davon. Ein tiefes Schweigen liegt über der Vergangenheit und das schließt auch die Jahre vor dem Bürgerkrieg mit ein, in denen das zuvor blühende Land in diese schreckliche Situation hineintaumelte.
Amin versteht von dem allen viel zu wenig, steht immer wieder in dieser zerstörten Stadt und hat eine Unzahl von Fragen und niemanden, der sie ihm beantworten wollte. Weder in der Schule noch in seinem Freundeskreis, noch von seiner Großmutter erhält er Antworten auf all seine Ungewissheiten. Geschichtsaufarbeitung findet weder durch den Staat noch in den Köpfen der Menschen statt.
<blockquote> Eine ganze Generation Nachgeborener suchte Antworten. Doch noch immer gab es kein Geschichtsbuch, das eine neutrale Version der Bürgerkriegszeit bereithielt, schlicht, weil es keine offizielle Version gab, die man an Schulen hätte lehren können. War es das, was Herr Labaki gemeint hatte, als ich vor seinem Pult stand und er mir sagte, vom Sprechen über den Bürgerkrieg seien wir noch Jahrhunderte entfernt? </blockquote>
Und solange der Kampf um die Deutungshoheit nicht ausgetragen ist, liegt die Vergangenheit dunkel und unerkannt über diesem Land. Der Junge Amin spürt dies, wie es ein Kind spüren kann, und ist auf der ständigen Suche nach Bezugspunkten und -personen, die ihm ein Puzzleteilchen seiner Familienvergangenheit liefern können.
Mein Fazit:
Ein überzeugender Roman, der die Hilflosigkeit des Einzelnen angesichts des komplexen historischen Geschehens deutlich macht, aber auch eine ungemein warmherzige Sicht auf ein Land wirft, das wirklich viel zu verlieren hatte (die „Schweiz des Nahen Ostens“, Beirut – das Paris des Nahen Ostens) und immer noch viel verliert. Und diese Sichtweise wird sehr glaubwürdig aus einer Jugendlichenposition aus erzählt. Ich gebe 5 Sterne.


 
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Reaktionen: Wandablue und Xirxe

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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49
Brandenburg
Zur Literatur in der Schule hat Constantin Schreiber, 2019, ein gutes Sachbuch herausgebraucht. Gut, in punkto Information, in punkto Lesbarkeit ist es nicht so dolle, aber trotzdem sollte sein Buch "Kinder des Koran" Pflichtlektüre sein.
 
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