An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr.
Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.Kaufen
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Es ist ein Sommertag im August in Petropawlowsk, als die beiden Schwestern, die elfjährige Aljona und die achtjährige Sofija, von einem unbekannten Mann entführt werden. Eine Zeugin will einen dunklen Wagen erkannt haben. Nach Wochen der erfolglosen Suche beliebt der Verbleib der Mädchen ungewiss.
Rund um diesen Kriminalfall rankt sich der Roman „Das Verschwinden der Erde“ der amerikanischen Schriftstellerin Julia Phillips. Doch das Buch, mit dem die Autorin auf der Shortlist für den National Book Award 2019 platziert war, ist keineswegs ein Krimi. Episodenhaft entwickelt sich die Geschichte Monat für Monat, ein ganzes Jahr, weiter und zeigt eine stark defizitäre Gesellschaft. Jedes Kapitel wird einer Frau gewidmet, die direkt oder indirekt vom Verschwinden der Mädchen betroffen ist. (Das Personenverzeichnis zu Beginn des Buches ist absolut hilfreich und aussagekräftig.)
Der Schauplatz Kamtschatka im Osten Russlands ist gut gewählt. Die Halbinsel, auf drei Seiten von Meer umgeben und durch unwegsames Gebirge vom Rest des Landes abgetrennt, ist nur per Schiff oder Flugzeug erreichbar. Majestätisch und bedrohlich ragen enorme Vulkane auf. In dieser Enge gedeiht Fremdenhass, unverhohlener Alltagsrassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung, Korruption, Verwahrlosung auf der einen Seite und postsowjetischer Kapitalismus auf der anderen. Es ist ein maskulin geprägtes System, diese toxische Dominanz zieht sich wie ein Netz über alle Bevölkerungsschichten und Generationen.
Die Frauen in diesem Buch sind desillusioniert, unglücklich und scheinen chancenlos, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern zu können. Sie erhalten keine Unterstützung, nicht von den Behörden, nicht von ihren Männern, nicht von ihren Geschlechtsgenossinnen. Manches Einzelschicksal wird bisweilen zu ausufernd, doch in seiner Gesamtheit zeichnet sich das triste und zynische Bild einer „geschlossenen Gesellschaft“ ab.
„Wie nett von der Polizei, ihre ganze Kraft auf die Suche nach zwei kleinen weißen Leichen zu konzentrieren. Ein willkommener Vorwand, um die Korruption, die Ungerechtigkeit, due betrunkenen Autofahrer oder kleinen Brandstifter in der Stadt zu ignorieren.“
Mit den beiden letzten Kapiteln schließt Autorin Julia Phillips den (Jahres)Kreis und führt Erzählstränge zusammen, nähert sich dem Genre literarischer Thriller wieder an (womit am Klappentext geworben wird) und überrascht mit ihrem Finale.
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