Rezension Rezension (5/5*) zu Was wir scheinen: Roman von Hildegard E. Keller.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Was wir scheinen: Roman von Hildegard E. Keller
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Einfühlsames und lebendiges Portrait

Hildegard Keller schätze ich als kompetente und sympathische Gesprächspartnerin aus dem Schweizerischen Literaturclub. Sie ist Professorin für Literatur an der Universität Zürich, lehrte zehn Jahre lang in den USA und war von 2009-2019 Jurorin beim Ingeborg- Bachmann- Wettbewerb. Mit „ Was wir scheinen“ hat sie ihr Debut vorgelegt, eine Romanbiographie über Hannah Arendt, eine der bedeutendsten Frauen des 20. Jahrhunderts.
Es beginnt mit einer Zugfahrt. Die 69jährige Hannah Arendt ist auf dem Weg nach Tegna, einem kleinen Dorf im Tessin und freut sich auf vier Wochen Erholung. Es sollte ihr letzter Sommer sein; Hannah Arendt starb im Dezember 1975 in New York.
Diese Reise ist der Ausgangspunkt zu einer Reise in die Vergangenheit.
Hildegard Keller hat ihr umfangreiches Buch in zwei Erzählsträngen angelegt.
Der eine, die Wochen im Tessin, ist gewissermaßen die Rahmenhandlung.
Der zweite Erzählstrang beginnt im Jahr 1941, mit Hannah Arendts Ankunft in Manhattan. Hinter ihr, der Jüdin aus Königsberg, liegen Jahre der Flucht. Der Anfang im Exil ist für sie, ihren Mann Heinrich Blücher und ihrer Mutter nicht leicht. Hannah Arendt verdient den Lebensunterhalt mit Artikeln und Essays für diverse Zeitungen, v.a. für das deutsch -jüdische Magazin „ Aufbau“. Nach dem Krieg hatte sie an verschiedenen Universitäten Professuren inne.
Und im Jahr 1961 reist Hannah Arendt als Journalistin für die Zeitschrift „ The New Yorker“ zum Jahrhundertprozess gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem. Hannah Arendt will auch hier verstehen: „ Wie kommt ein Mensch dazu, sich in einen Massenmord verwickeln zu lassen und pflichtgetreu nur seine grauenhafte Arbeit zu verrichten, ohne sich auch nur eine Sekunde lang auszumalen, was er da tut?“
Mit ihren Artikeln und dem daraus resultierenden Buch „ Eichmann in Jerusalem“ sorgte sie für heftige Debatten und es gab Anfeindungen, v.a. von jüdischer Seite. Denn Hannah Arendt ging völlig neutral an das Thema heran und sprach danach von der „ Banalität des Bösen“. Sie wollte das Böse nicht dämonisieren, sondern die vermeintliche Größe des Bösen zerstören. Eichmann, „ der Mann im Glaskasten“, erschien ihr als ein völlig gewöhnlicher und durchschnittlicher Mensch, lächerlich in seinem Gehabe und seinem Auftreten. „ Ich war frappiert von der Seichtheit des Täters. Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter - zumindest jene einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand - war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich.“
Hildegard Keller zeigt Hannah Arendt als freien, selbständigen Geist, der sich „ zwischen den Stühlen richtig fühlt“. Trotzdem haben sie die Vorwürfe, insbesondere von den Freunden, schwer getroffen.
Freundschaften waren ihr zeitlebens sehr wichtig . Sie pflegte sie mit zahlreichen Intellektuellen ihrer Zeit ( Karl Jaspers, Kurt Blumenfeld, Mary McCarthy u.a.) Gespräche mit ihnen waren essentiell für ihr Denken. Zahlreiche Briefe zeugen von ihrer Verbundenheit.
Dabei scheute sie nicht die Kontroverse. Der Disput war wichtig, aber die Freundschaft sollte nicht darunter leiden. Denn : „ Menschen sind mehr wert als ihre Meinungen.“
Hildegard Keller zeigt uns in diesem Buch die private Hannah Arendt, wir erleben sie als Tochter, Geliebte, Ehefrau, Freundin, Professorin und Philosophin. Sie war eine Intellektuelle mit Witz und Humor.
Um uns ihr Denken nahezubringen, gibt es zahlreiche Dialoge; Gespräche mit ihrem Mann, mit Kollegen und Freunden. Und in einem Hörsaal stellt sich Hannah Arendt den Fragen der Studierenden und erzählt ihren Werdegang. Sie gibt den jungen Menschen Ratschläge auf den Weg wie : „ Stop and think. Denken ist nicht ungefährlich, aber ich halte das Nichtdenken für gefährlicher. Suchen Sie sich‘s aus.“ Oder : „ Carpe die. Nutzen Sie Ihre Zeit in der Welt. Wer zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, merkt nicht, worum es in Wirklichkeit geht.“
Hildegard Keller bedient sich dabei einer Vielzahl von Originaltexten, die sie sinngemäß oder wortwörtlich zitiert.
Sie bringt uns dabei auch die lyrische Seite Hannah Arendts näher, indem sie Gedichte und ein Märchen von ihr locker in den Text einbindet. So stammt auch der Titel „ Was wir scheinen“ aus einem Gedicht der Philosophin.
„ Was wir sind und scheinen,
ach wen geht es an.
Was wir tun und meinen,
niemand stoß sich dran.“
Doch angeeckt mit ihrem Denken ist Hannah Arendt immer wieder.
Hildegard Keller hat intensiv recherchiert und unendlich viel Material zu einem geschmeidigen Text verarbeitet. Die Sprache ist leicht verständlich, die einzelnen Ebenen sind elegant miteinander verwoben. Trotzdem ist es keine ganz leichte Lektüre.
Mit „ Was wir scheinen“ ist der Autorin ein einfühlsames und lebendiges Portrait dieser bedeutenden Philosophin gelungen.
Allerdings sollte man als Leser gewisse Vorkenntnisse mitbringen. Ansonsten versteht man nicht gleich, wer sich hinter Kurt, Karl, Günther, Mary und Benji verbirgt. Der Verlag hat es leider versäumt, ein sorgfältiges Register der wichtigsten Personen aus Hannah Arendts Umfeld hinzuzufügen.
So blieb mir anfangs nur die Recherche im Internet.
Im Anschluss an das Buch empfehle ich den 2012 erschienenen Film „ Hanna Arendt“ von Margarethe von Trotta und auf YouTube das legendäre Interview von Günter Gaus aus dem Jahr 1964 und natürlich die Werke von Hannah Arendt.

von: Nora Benrath
von: Samuel Bjørk
von: Camilla Läckberg
 

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