Rezension Rezension (5/5*) zu Geister: Roman von Nathan Hill.

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.743
9.827
49
Eine Achterbahnfahrt des Lesens,...

... oder das Wesen des Elefanten!

Elefantendick ist das Buch, respekteinflößend und genial. Sechs Blinde ertasten einen Elefanten, einer ein Bein, der nächste einen Stoßzahn, ein dritter den Rüssel und so weiter. Anschließend befragt, was ein Elefant ist, konnten sie sich vortrefflich darüber streiten...

Wer nur ein Stück der Wahrheit kennt, erkennt die Wahrheit nicht.

So versteht auch der siebenjährige Samuel nicht, warum sich seine Mutter im Spätsommer 1988 von ihm verabschiedet und nicht mehr wiederkommt. Es ist auch der Sommer, in dem er den Außenseiter und neuen Schulkameraden Bishop kennenlernt und sich unsterblich in seine Zwillingsschwester verliebt. Um sie zu beeindrucken, möchte er Schriftsteller werden. Samuels Mutter kennt seinen Wunsch und verspricht ihm, alles zu lesen, was er schreiben wird.

Im Jahr 2011, Samuel ist inzwischen Professor für Literatur an der Universität, hat Kindheit und Jugend aus seinen Erinnerungen verdrängt, ärgert sich über seine unfähigen Studenten und betäubt sich regelmäßig mit exzessivem Onlinespiel, da erreicht ihn der Anruf eines Anwalts. Samuel soll für seine Mutter, die er seitdem nie wiedergesehen hat, ein Leumundsschreiben aufsetzen. Sie wird des tätlichen Angriffs auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten beschuldigt.

Zunächst weigert sich Samuel, doch mit den Erinnerungen werden auch sämtliche Geister seiner Vergangenheit wieder wach und wir (die Leser) begeben uns auf eine Reise in die Geschichte. In die Geschichte von Fay (seiner Mutter), von Bishop (seinem Freund aus Schultagen) und von Frank (Fays Vater, Samuels Opa), der eigentlich Fridtjof heißt und einst seine Geister aus Norwegen mit nach Chicago brachte.

Diese Geschichte, die sich in die Lebensläufe der Familienmitglieder und Freunde begibt, verschiedenste Themen wie Spielsucht, Missbrauch, Demenz und Gewalt unter einen Hut bringt, mich auf manchen Seiten lauthals lachen und dann wieder vor Schreck erstarren ließ, ist kein Familiendrama im üblichen Sinne, wie man anhand des Rückentextes vielleicht vermuten könnte. Es ist die reine Freude, wie es der Autor schafft, die Studentenrevolution der 68er mit der aktuellen politischen Lage der 2011er Jahre in den USA zu verknüpfen, leichtfüßig noch ein paar Seitenhiebe auf Literaturbetrieb, Universitätsleben und Public Relations in Kunst und Politik einstreut, mit den Zeiten, vom mythischen Norwegen der Nixen und Nissen zum einfachen Holzhaus zwischen Bohrinseln, spielt und dann noch die Kraft aufbringt die Emanzipation der Frauen zu thematisieren.
Zu konfus? Keinesfalls! Hill gibt dem Leser Raum und Zeit, behutsam, Stück für Stück "den ganzen Elefanten" zu erkunden und es macht wirklich Spaß dabei zu sein, zu verstehen, warum eine Mutter ihren Sohn verlässt und zu erkennen, dass Mutter und Sohn nicht allein ein Elefant sind.

Dieses Buch steigt in den Olymp meiner Lieblingsbücher auf, komplex, aber nicht kompliziert, amüsant und ernsthaft zugleich, mythisch und reell, politisch und äußerst privat!

Ich hoffe inständig, dass Nathan Hill mehr solcher Romane schreibt und nicht all seine Ideen und Visionen in diesem einen "verschossen" hat.

 

Yolande

Bekanntes Mitglied
13. Februar 2020
1.801
6.622
49
Sehr schön, bravo :). Ich fand es damals auch überwältigend, vor allem der Schreibstil hat mich begeistert. Bisher ist mir leider noch kein weiteres Buch von Hill über den Weg gelaufen, ich würde es sofort lesen wollen
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.488
50.100
49
Dieses Buch steigt in den Olymp meiner Lieblingsbücher auf, komplex, aber nicht kompliziert, amüsant und ernsthaft zugleich, mythisch und reell, politisch und äußerst privat!
Das ist so ein Buch, das ich nach dem Onleihe Lesen noch in gebundener Form fürs Späterlesen im Regal brauchte:D
Sehr schöne, passende Rezension!
 

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