Rezension Rezension (5/5*) zu Noch alle Zeit: Roman von Alexander Häusser.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Noch alle Zeit: Roman von  Alexander Häusser
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Wehmütig, doch voller Hoffnung

Wehmütig, doch voller Hoffnung⠀

Alexander Häusser zeichnet seine Charaktere einfühlsam, mit leisem Strich. Dennoch lösen ihre Gedanken und Gefühle beim Lesen einen tiefen Widerhall aus – eindringlich, glaubhaft und lebendig. Vieles wird nur angerissen; nichts wird zu Tode erklärt oder löst sich allzu glatt in Wohlgefallen aus. Auch Ecken und Kanten werden nicht geglättet und abgeschmirgelt.⠀

Die zwei hier im Fokus stehenden Mutter-Kind-Beziehungen sind beide auf ihre ganz eigene Art gestört und bis zu einem gewissen Grad auch toxisch, aber keine davon wird in Schubladen gesteckt oder mit Diagnosen versehen. Gerade dadurch, dass der Autor der Uneindeutigkeit Raum gibt, fühlt sich das an wie ein Blick ins echte Leben – nicht immer schön, oft schmerzhaft, aber mit unendlichem Potential.⠀

Protagonist Edvard wurde als Teenager nach dem plötzlichen Verschwinden seines Vaters von der Mutter in eine Erwachsenenrolle gedrängt und damit sicher auch in seiner Entwicklung empfindlich gestört. Auch später als Erwachsener drehte sich sein ganzes Leben nur darum, sich um die labile, bedürftige Mutter zu kümmern, und nach ihrem Tod stellt er ernüchtert fest, dass er ein alter Mann ist, der nie wirklich gelebt hat.⠀

“Er wollte einmal in seinem Leben die Stimme erheben, wollte brüllen, toben, hinausschreien, dass das Leben einfach vergehen kann, ohne eine Hoffnung, ohne ein Versprechen.”⠀
(Zitat)⠀

Warum hat er nie ernsthaft versucht, sein eigenes Leben für sich zu beanspruchen? War es ihm wirklich so unmöglich, sich aus der Abhängigkeit zur Mutter zu lösen? Mit Bestürzung muss er realisieren, dass er dadurch auch seine Jugendliebe Elsie in die Opferrolle zwang, bis diese die Reißlinie zog. Diese Liebesgeschichte zieht sich durchs ganze Buch – wehmütig, mit leiser Hoffnung und ganz ohne Kitsch.⠀

Protagonistin Alva ist jung und hat offensichtlich schwerwiegende psychische Probleme. Ständig trägt sie Kopfhörer und hört immer wieder lautstark die gleiche Musik, um die Welt auszublenden – inklusive ihrer kleinen Tochter, die sie einerseits liebt, sich aber andererseits auch von ihr überfordert fühlt. Sie vermisst das Kind nicht, wenn es nicht da ist. Sie macht sich keine Sorgen, wenn die Kleine aus dem Haus stürmt, sie könne auf die vielbefahrene Straße laufen.⠀

»In mir ist etwas, das nichts fühlt und nichts will. Schon lange, schon immer«⠀
(Zitat)⠀

Sex mit ihrem Freund ist etwas, das sie tut, um ihn positiv zu stimmen – aber auch dabei zieht sie die Kopfhörer nicht aus. Alvas Einsamkeit schneidet beim Lesen bis ins Mark. Man kann spekulieren: Postnatale Depression? Autismus? Aber letztlich ist Alva einfach Alva, die die Leere in sich nicht füllen, das Leben nicht einfach spüren kann.⠀

Eine Begegnung der Gegensätze⠀
Natürlich treffen Edvard und Alva aufeinander, und man merkt im Kontrast: Edvard, von seiner Mutter auf Fürsorge trainiert, kümmert sich zu viel und vernachlässigt den eigenen Seelenfrieden . Alva kümmert sich zu wenig und verzweifelt daran. Als Leser*in verfolgt man gespannt die Entwicklungen, die bei beiden durch diese Begegnung in Herz und Verstand ausgelöst werden.⠀

“Er öffnete die Augen sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt ist.”⠀
(Zitat)⠀

Das ist nicht immer einfach, es spielt sich auch nicht ohne Konflikte ab, aber es scheint genau das zu sein, was beide brauchen, um mit gewissen Dingen abzuschließen. Beide suchen etwas in Norwegen (Edvard den Vater, Alva magische Orte für eine Reportage) und müssen erst noch verstehen, dass sie im Grunde nur sich selber suchen.⠀

Die Geschichte ist auf vielerlei Ebenen spannend.⠀
Weil das Verschwinden von Edvards Vater ein Rätsel ist, das sich über zwei Länder erstreckt. Weil man mitfühlt mit Edvard und Alva, sich so sehr wünscht, dass sie ihre jeweiligen Wunden heilen und Frieden finden können. Weil die Geschichte von Edvard und Elsie noch nicht abgeschlossen ist.⠀

Die Geschichte ist komplex und schlüssig konstruiert, lässt aber einiges am Schluss auch ganz bewusst offen. So ist eben das Leben: oft ist der Weg das Ziel, und manchmal reicht auch das Wissen, dass man neue Erkenntnisse gewonnen hat – und noch alle Zeit. Alexander Häusser spricht viel über das Ungesagte, das Verschwiegene, das nie Aufgearbeitete, und das entwickelt seinen ganz eigenen Sog.⠀

Häussers Sätze sind nie belanglos.⠀

Jedes Wort, so war mein Eindruck, wurde bedacht gewählt, reiht sich ein in die leise und doch ausdrucksstarke Poetik des Buches. Die Teile der Geschichte, die in Norwegen spielen, punkten darüber hinaus mit wunderbar lebendigen Beschreibungen, die die ganz besondere Magie Norwegens einfangen und Reisesehnsucht wecken.⠀

Fazit⠀

Auf der Überfahrt nach Norwegen lernen sich zwei Reisende kennen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten:⠀

Edvard folgt den Spuren seines angeblich vor 50 Jahren verstorbenen Vaters nach Oslo, nachdem er erst vor kurzem nach dem Tod seiner Mutter feststellen musste, dass diese ihm die ganzen Jahre hindurch etwas verschwiegen hatte. Alva ist auf Recherchereise für einen Dokumentarfilm über die magischen Orte Norwegens – aber auch auf der Flucht, weil sie sich als Mutter ihrer kleinen Tochter überfordert fühlt.⠀

Die Begegnung stößt für beide einiges an, und am Ende dieser Reise werden sie viel über sich gelernt haben. Eine wunderbare Geschichte, die mit ruhiger Poetik zum Mitfühlen und Nachdenken einlädt.

 

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