Rezension Rezension (4/5*) zu Vor Rehen wird gewarnt von Vicki Baum.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Was für ein Miststück!

“Vor Rehen wird gewarnt“ ist ein lange Zeit vergessener Roman der etwas vergessenen Autorin Vicky Baum, den der Arche-Verlag 2020 neu aufgelegt hat.
Wir begegnen darin im ersten Teil zwei Damen aus guter Gesellschaftsschicht bei ihrer Zugfahrt von San Francisco an die Ostküste. Stiefmutter und Stieftochter sind zusammen auf Reisen und noch ist nicht zu erahnen, welch belastetes Verhältnis die beiden zueinander haben. Doch bald schon landet die Stiefmutter Ann oder auch Angelina genannt im Graben, gestürzt aus dem fahrenden Zug aber doch relativ unversehrt und munter. Triefend nass und verletzt ist es für sie und uns als Leser Zeit für einen Rückblick auf ihr Leben und so erfährt der Leser immer mehr über diese Angelina und schon bald ist klar: Hier verbirgt sich hinter gesellschaftlicher Stellung und Ehrbarkeit ein Charakter, der über Leichen geht und in allen Situationen des Lebens immer nur eines im Sinn hatte: sich selbst und das eigene Glück. Diesem Sinn ordnet Angelina alles unter, erwartet auch von anderen, dass sie genau diesem Lebenszweck - Angelinas Glück – huldigen und kennt keine Gnade, sollte jemand einmal nicht ganz in ihrem Sinne „ticken“. Die Opfer dieser Haltung sind vielfältig, Opfer pflastern sozusagen ihren Weg und doch behält Angelina immer und überall ein Gefühl bei, ganz im Sinne aller unterwegs zu sein.
Der zweite Teil der Geschichte wird dann aus der Sicht eines ihrer Opfer geschildert, ihrer Stieftochter Joy, die ganz am Anfang des Romans zunächst als Täterin daherkommt, stößt sie Angelina doch aus dem Zug. Doch nicht erst in diesem zweiten Teil des Buches erhält der Leser den Eindruck, dass diese Tat notwendig und unausweichlich, quasi zwangsläufig geschah, als einzige Möglichkeit, weiteres durch Angelinas Handeln verursachtes Unglück zu verhindern.
Dabei sind die Taten Angelinas meist unterschwellig und fein verpackt in ein üppiges gutbürgerliches Drumherum. Kleine Nadelstiche des Tratsches und des Ausplauderns von Geheimnissen an genau die falsche/richtige (?) Person zu genau dem falschen/richtigen (?) Zeitpunkt werden im Waffenarsenal Angelinas zu wirkungsvollen Werkzeugen der Zerstörung. So werden die Leben ihrer Schwester Maud, ihres Ehemannes Steven, ihrer Stieftochter Joy allein durch die Verbindung ihres Lebens mit dem von Angelina in Richtungen gelenkt, die für sie nur Unglück und Frustration bedeuten, während von außen und oberflächlich gesehen alles wunderbar funktioniert.
Im dritten Teil des Buches kehrt der Leser dann wieder zurück zu Angelina und mit ihr zu einem Einblick in spätere Abschnitte ihres Lebens. Sie schleppt sich weg von der Unfallstelle; während sie von Joy und einem Tross von Polizei und Rettungswagen gesucht wird. Sie kann überleben und wird wohl auch diese Erfahrung ihres Lebens nicht dazu genutzt haben können, eine neue Einsicht und einen neuen Zugang zum Umgang mit ihren Mitmenschen gewonnen zu haben.
Mein Fazit:
Der Roman schafft es, den Charakter eines abgrundtiefen Miststücks zu entwerfen. Zwischendurch war ich als Leserin schon teilweise etwas gefrustet von diesem manchmal Zu-Viel an Bösartigkeit, aber es ist absolut überzeugend von der Autorin gestaltet und mit vielen interessanten Wendungen ausgestattet, so dass die Lesefreude bei mir bis zum Ende blieb und ich mit offenem Mund und immer wieder der Frage. Wie kann sie nur??? Bis zur letzten Seite mit dem Geschehen mitgefiebert habe. Gerne gebe ich 4 Sterne


 
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