Picknick mit Anna

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Wieder ein männlicher Ich-Erzähler, der offenbar nachts einen Mord an einem jungen Mädchen beobachtet hat, der Polizei aber nichts sagen will.
Mein erster Gedanke, dass es eine „Beziehung“ zwischen Anna und dem Ich-Erzähler, einem Lektor, gegeben hat, bestätigt sich. Aus Nachhilfeunterricht erwächst eine Freundschaft und von Seiten des Ich-Erzählers eine Liebe, aber er wird nicht übergriffen, genießt die Nähe und die gemeinsamen Aktivitäten mit dem jungen Mädchen, auch ein Picknick.
Anna genießt aber auch die Provokation und spielt mit dem Ich-Erzähler, verletzt ihn, testet ihre Grenzen aus, bis der Kontakt abbricht, da sie sich auf einen gewalttätigen Freund einlässt, der auch den Ich-Erzähler zusammenschlägt.
Zunächst dachte ich kurz, der Ich-Erzähler selbst habe sie ermordet, aber das wäre unwahrscheinlich, es ist der Freund gewesen. Warum hat er keine Hilfe gerufen? Er glaubt, Anna verdiene diese Strafe, doch er rappelt sich auf und beschließt sie zu rächen. Auch in dieser Geschichte stellt sich der Protagonist vor, was geschehen wird. Ob er tatsächlich den Freund Annas erschießt? Der Konjunktiv am Ende lässt vermuten, dass er es sich nur vorstellt.
Er will seine Schuld wieder gut machen, im Gegenteil zu dem Ich-Erzähler der letzten Geschichte.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Es geht hier um eine Pygmalion-Geschichte, die immer auch wieder einen Hauch von Lolita-Motiven aufkommen lässt. Jedenfalls ist die Beziehung zwischen dem Erzähler und der Nachbarstochter Anna vor allem für den Erzähler selber ein Mysterium, dem er nicht so ganz auf die Spur kommt. Als Anna sich dann von ihm entfremdet und unter seiner Zeugenschaft ermordet wird, fällt es ihm -gerade wegen des ungeklärten Verhältnisses und seiner Gefühle für sie - sehr schwer, mit seinem Wissen um die Tat und sein Nichthandeln umzugehen. Denn bei jeder polizeilichen Ermittlung würde er immer in den Fokus geraten angesichts einer komplexen, aber auch deutlichen Motivlage: enttäuschte Liebe, Eifersucht, Verlustängste angesichts eines unfreiwilligen Abschieds, den Anna ihm beschert hat bzw mit dem sie ihn konfrontiert hat.
Die Konsequenz des Mordes und seiner Zeugenschaft lässt der Autor bewusst offen. Wird er die Waffe gebrauchen, die er so zufällig besitzt? Wir er Anna rächen? Oder wird er in der Unklarheit der vergangenen „Beziehung“ lieber verharren?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wieder eine ausdrucksstarke Erzählung!

Der Erzähler plaudert zunächst. Über die nette Nachbarschaft, das gute Verhältnis, die Familie aus Kasachstan, deren Söhne so erfolgreich sind...
Dann die Erwähnung des Mordes - ein Schock.

Anfangs schildert er Anna sehr liebevoll. Befremdet hat mich allerdings die Szene auf S. 38, als das Mädchen im Freibad offenbar masturbiert... (Alt-Männer-Phantasien:confused:)

Er unterstützt sie, bildet sie auch kulturell:
[zitat]was für eine Freude war es, ihr die Welt zu erschließen![/zitat]

Als Anna älter wird, verändert sie sich und ihr Verhalten. Sie genießt die Provokation. Das geht über ein Spiel deutlich hinaus, weil sie andere Menschen bewusst diffamiert und verletzt. Diese Waffe wendet sich zunehmend gegen den Erzähler. Die Attacken werden immer schärfer, enden in Gewalt.
Eine ganze Zeit spielt er noch mit, sucht die Schuld bei sich. Er möchte das Mädchen nicht verlieren. Dann kommen die jungen Männer ins Spiel. Ihre Mutter bittet ihn um Hilfe. Da ist der Zug aber bereits abgefahren...

Der Erzähler hat den Burschen ja bereits mit einem anderen Mädchen im Park erlebt. Auch Anna wird geschlagen, hat blaue Flecken. Wahrscheinlich ist sie dem Typen wirklich hörig.

Ich kann die Reflexionen des Erzählers nachvollziehen, verstehe aber nicht, warum er nicht mit der Polizei kooperiert. Mit der geplanten Selbstjustiz wird seine Schuld ungleich höher.

Doch ihn befreit die Entscheidung! Er ist ein einsamer alter Mann. Seine Würfel werden neu geschüttelt (S.50/51), der Plan, den Burschen zu töten, stimmt ihn hoffnungsfroh.

Mir gefällt das offene Ende. Eine vollzogene Tat würde keinen Abschluss bilden. Der Konjunktiv genügt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich weiß nicht so recht, was ich mit diesem Erzähler anfangen soll. Das Verhältnis zu dem Nachbarmädchen geht mir zu weit. Die Nachhilfe am Anfang ist noch verständlich, aber dann Spaziergänge, Picknick, die Museums- und Opernbesuche. Ich hätte bei meiner Tochter eine solche Beziehung zu einem älteren Nachbarn nicht erlaubt.
 

Literaturhexle

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Ich hätte bei meiner Tochter eine solche Beziehung zu einem älteren Nachbarn nicht erlaubt.
Zumindest hätte es hierzulande "ein Geschmäckle" ;)
Nun kommt diese Familie aber aus Kasachstan. Offensichtlich wünschen sie sich für ihre Kinder eine gute Zukunft, legen auf Bildung wert, können diese aber nicht aus eigener Kraft gewährleisten.
Zunächst einmal war die Beziehung zwischen den beiden auch unverdächtig. Es hat sich nur etwas Ungesundes daraus entwickelt.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Schlink befasst sich bei seinen Geschichten nicht nur mit dem Thema Abschied. Er geht viel tiefer, und benennt menschliche Abgründe, Gefühle die eher hinter Verschluss gehalten werden. Hier beschreibt er das sehr zwiespältige Gefühle eines erwachsenen Mannes gegenüber einem Kind und späteren jungen Frau. Es ist schwer sich dem Sog der Geschichte zu entziehen, auch wenn das gelesene mich sehr bestürzt hat. Es findet zwar kein direkter Missbrauch statt, aber die Gedanken des Erzählers sind für mich schon eindeutig zu viel um noch von reiner Nächstenliebe zu sprechen. Die Richtung die alles annimmt scharf an der Grenze. Dann die Erkenntnis, dass er sich so sehr gekränkt gefühlt hat durch Annas Distanziertheit, dass er ihr dieses Ende fast schon gönne, wie er sich selbst ausdrückte, hat mich wirklich erschreckt.
Sein Entschluss am Ende ist nicht für Anna, er tut dies einzig für sich wie mir scheint.
 

Literaturhexle

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geht viel tiefer, und benennt menschliche Abgründe, Gefühle die eher hinter Verschluss gehalten werden.
Ja. Das hast du gut formuliert. Er zeigt viel vom nicht ausgesprochenen Innenleben seiner Figuren.
Die Richtung die alles annimmt scharf an der Grenze. D
Ja und Nein. Diese Anna entwickelt sich zu einer Femme fatale. Sie spielt mit ihren Reizen, stellt sie mit (für das Alter übertriebener) Schminke heraus - wie Lolita eben. Und sie spielt mit den Männern.

Insofern bin ich von den Gedanken des Erzählers nicht schockiert. Er hat sie im Griff, lässt keine Taten folgen. Allerdings ist er als unzuverlässig einzuschätzen, wir lernen nur seine Version der Geschehnisse kennen.

Mich schockiert eher, dass er Anna verbluten ließ und keine Hilfe organisierte. Bei aller Verletztheit: Das geht zu weit!
 

Literaturhexle

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Hier habe ich mich auch gefragt, was diese Szene soll? Ist sie ein Beleg für Annas spätere negative Entwicklung? ??
Man kann das im Nachgang so verstehen. Aber man liest so etwas glaube ich häufiger, als es tatsächlich stattfindet.
Derlei Dinge macht so ein Mädchen nicht im öffentlichen Freibad! Für mich sind es Phantasien eines in die Jahre gekommenen Autors ;)
 
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RuLeka

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Mich schockiert eher, dass er Anna verbluten ließ und keine Hilfe organisierte. Bei aller Verletztheit: Das geht zu weit!
Gekränkter älterer Mann, der feststellen muss, dass seine „ Eliza“, trotz all der hohen Kultur, die er ihr zukommen ließ, nicht die wünschenswerte Entwicklung genommen hat. Hätte ihm das Mädchen wirklich etwas bedeutet , hätte er sofort eingegriffen.
 

Literaturhexle

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Gekränkter älterer Mann, der feststellen muss, dass seine „ Eliza“, trotz all der hohen Kultur, die er ihr zukommen ließ, nicht die wünschenswerte Entwicklung genommen hat. Hätte ihm das Mädchen wirklich etwas bedeutet , hätte er sofort eingegriffen.
Genau den Gedanken hatte ich auch!!! Ein oberflächlicher Typ unser Erzähler.
 

Bibliomarie

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Das hat mich auch befremdet. In dem Alter...
Ansonsten sind die Charaktere glaubwürdig.

Ich glaube nicht ungewöhnlich. Schon kleine Kinder erfahren ihren Körper und die Gefühle, die sie nicht benennen können. Mein kleiner Neffe (Kindergartenalter) spielte zum Entsetzen meiner Schwägerin auch an seinem Glied und reagierte auf das energische Verbot ganz unverständlich mit "das ist aber schön!"
 

Literaturhexle

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Ich glaube nicht ungewöhnlich. Schon kleine Kinder erfahren ihren Körper und die Gefühle, die sie nicht benennen können. Mein kleiner Neffe (Kindergartenalter) spielte zum Entsetzen meiner Schwägerin auch an seinem Glied und reagierte auf das energische Verbot ganz unverständlich mit "das ist aber schön!"
Da bin ich bei dir. Im Kindergarten gehen Kinder völlig freizügig mit ihrem Körper um. Aber war Anna nicht schon 12 oder 13? Da wäre es dann keine kindliche Spielerei mehr. Sehr früh erfahren Kinder, was peinlich sein könnte und entwickeln ein Gefühl für Privatheit.
 
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Bibliomarie

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Diese Geschichte beginnt wieder ganz beiläufig. Eine gute Nachbarschaft, ein schönes Viertel, die Einwandererfamilie aus Kasachstan, die ihre Kinder sehr streng erziehen, aber ein Teil der Gemeinschaft ist.
Anna, die Jüngste, scheint ein wenig auszubrechen.

Aber vorher spricht der Ich-Erzähler von ihrer Kinderzeit, seiner Nachhilfe, seinem Wunsch, ihr die Welt zu erklären. Da ist schon eine ganze Menge Pygmalion dabei. Aber je älter Anna wird, desto mehr will sie ihre Grenzen austesten. Sie provoziert ihn, ob sie spürt, dass er vielleicht tiefere Gefühle für sie hegt?
Er tritt ihr nie zu nahe, auch als sie ihn provoziert, da kommt tatsächlich auch das Lolita-Motiv ins Spiel.

Ihr Umgang mit den üblen Jungs ist vielleicht auch ein Ausbrechen aus der familiären Strenge. Die große Frage ist, warum schaut er zu und schweigt?
Ich könnte mir vorstellen, dass er anfangs nicht an eine solche Eskalation dachte und ihr die Prügel als eine Art Strafe gönnte. Dann war es zu spät. Seine Rachefantasien sind nur zu seiner eigenen Rechtfertigung. Ja, als er den Entschluss fasste, fühlte er sich wieder gut und überlegen. Aber ich glaube nicht, dass er je handeln wird, denn konkrete Konfrontationen scheut er.

Auch in dieser Geschichte gibt es viel Spielraum für Interpretationen, Schlink gibt da keine Richtung vor. Er stellt nur die Figuren vor, lässt sie agieren, wertet nicht, stupst lediglich die Gedanken des Lesers an.
 

Bibliomarie

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Ich weiß nicht so recht, was ich mit diesem Erzähler anfangen soll. Das Verhältnis zu dem Nachbarmädchen geht mir zu weit. Die Nachhilfe am Anfang ist noch verständlich, aber dann Spaziergänge, Picknick, die Museums- und Opernbesuche. Ich hätte bei meiner Tochter eine solche Beziehung zu einem älteren Nachbarn nicht erlaubt.

Er will Anna eine Welt außerhalb der sehr engen Grenzen der Eltern zeigen. Das ist per se nicht mal was Schlechtes, denn offensichtlich ist er ihr nie zu nah getreten. Wie es sich aber entwickelt hätte, wenn Anna sich nicht selbst auf ihre sehr provokante Art gelöst hätte, weiß ich gar nicht zu sagen. Vielleicht spürte sie es instinktiv, denn von ihr kam ja die Anspielung auf das Blumenmädchen.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Da bin ich bei dir. Im Kindergarten gehen Kinder völlig freizügig mit ihrem Körper um. Aber war Anna nicht schon 12 oder 13? Da wäre es dann keine kindliche Spielerei mehr. Sehr früh erfahren Kinder, was peinlich sein könnte und entwickeln ein Gefühl für Privatheit.

S. 38 Ich sehe sie auch als Vier-oder Fünfjährige vor mir, mit ihren Eltern und Brüdern im Freibad, während ich ein paar Bäume weiter lagere. Sie sieht mich nicht........

Allerdings kam mir jetzt spontan der Gedanke, ob der Erzähler zufällig auch im Freibad in der Nähe lag, oder ob er ganz absichtlich da war. Je mehr man darüber nachdenkt, umso mehr Interpretationsmöglichkeiten gibt es.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Gekränkter älterer Mann, der feststellen muss, dass seine „ Eliza“, trotz all der hohen Kultur, die er ihr zukommen ließ, nicht die wünschenswerte Entwicklung genommen hat. Hätte ihm das Mädchen wirklich etwas bedeutet , hätte er sofort eingegriffen.

Ich meine auch, dass er anfangs nicht eingriff, weil er ihr die "Strafe" gönnte, allerdings nicht mit der Gewaltbereitschaft ihres Freundes rechnete. Oder vielleicht doch?