Das Amulett

Anjuta

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8. Januar 2016
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Das Amulett ist für mich die bisher schwächste Geschichte in diesem Band mit bisher drei wirklich guten Erzählungen. Die Situation ist ziemlich konventionell: verlassene Ehefrau schleppt ihren Gram über das Verlassenwerden mit sich herum. Ein letztes Treffen mit dem sterbenden Ex lässt Erinnerungen aufkommen, die Gefühlswelt ankurbeln und die Beziehungen zu den Nächsten erneuern. Was dazu das Amulett beizutragen hat, hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Es ist irgendwie nur ein kleines schmückendes Beiwerk und kann der Geschichte auch nicht mehr Tiefgang geben.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Da muss ich widersprechen! Für mich ist diese Geschichte ebenso gut gelungen wie die anderen. Auch wenn über die Grundthematik schon viel geschrieben wurde (Scheidungen gehören heute leider für viele zur Lebenswirklichkeit), finde ich sie sehr gut umgesetzt.

Sabine wurde vor 19 Jahren von ihrem Mann verlassen. Er brannte mit dem polnischen Aupair durch, was die Ex-Frau offensichtlich nie verwunden hat.
Sie wird eines abends von Milena, eben jenem Aupair, aufgesucht, weil Michael sie zu sehen wünsche. Er sei schwer an Krebs erkrankt und habe nicht mehr lange zu leben. Sabine reagiert unentschlossen, sie will es sich überlegen. Milena geht.

In Folge bekommen wir eine Menge Fakten über Sabine. Während man zunächst Mitgefühl mit der tüchtigen Ärztin hat, die so plötzlich um ihr Eheglück betrogen wurde, tun sich nun völlig neue Sichtweisen auf:

Sabine ist noch immer von Rachegedanken erfüllt. Zum Teil sind diese nachvollziehbar, denn offensichtlich ging Michael ihr damals aus dem Weg und lehnte jede Form einer Aussprache ab, worunter die Verlassene sehr litt. Sätze wie "Sie gönnte ihm die Krankheit. Sie war wie ein Sieg, den sie über ihn errungen hatte.", sind allerdings ein extrem hartherziges Kaliber! Offensichtlich ist Sabine eine Alpha-Natur, die andere gerne dirigiert. Bezeichnend, dass beide Kinder entscheidungsschwach bzw. wenig selbstbewusst sind. So etwas habe ich bei Kindern sehr dominanter Eltern gesehen. Später erwartet sie auch von ihrem Sohn sofortige Auskünfte, weil SIE ihm die Wohnung gekauft habe, SIE ihn unterstütze etc. (spätestens da verlor Sabine meine anfänglichen Sympathien).

Auch Volker, ihr Lebensgefährte, wird nur "als Mann, mit dem sie schlief", bezeichnet.... Welch eine Eisscholle diese Frau ist!

Zum Glück hat Sabine eine Freundin, die sich auch traut, Kritik zu üben, die Sabine sogar als richtig anerkennt, wenn auch Herz und Verstand in unterschiedliche Richtungen weisen. Die Freundin führt zur Verhaltensänderung: Sabine tritt mit ihrem Ex in Kontakt. Sehr bezeichnend hier ihre rückblickende Ehrlichkeit: "Wenn er nicht gegangen wäre, hätte sie früher oder später gehen müssen. Auf Dauer hätte sie die leere Routine nicht ausgehalten." Hallo!? Da richtet sich die Frau 19 (!) Jahre im Verdruss des Verlassenwerdens ein und kommt erst jetzt zu dieser Einsicht?! (Diese Stelle ist in der Tat etwas merkwürdig - aber vielleicht auch realistisch? Wer weiß?)

Sabine richtet sich gedanklich auf einen demütig um Vergebung bittenden Michael ein. Da wird sie enttäuscht. Letztlich ist der Anlass für das Treffen ein Vermächtnis seiner Mutter... Michael bittet NICHT um Vergebung, sagt aber, dass ihm alles leid tue. In Folge dieser tolle Satz:
[zitat]Meine Traurigkeit legt sich auf alles, sie macht mich müde, sie ist ein schwarzes Wasser, ein schwarzer See, in dem ich ertrinke, unentwegt ertrinke. (S.115)[/zitat] Welch ein Bild!

Selbst die Konfrontation mit dem Kranken führt nicht zu einer wirklichen Verständigung ("Sie verstand ihn nicht."). Trotzdem scheint Sabine abschließen und offener für die Beziehung mit Volker sein zu können. Diesen letzten Absatz hätte ich tatsächlich nicht gebraucht. Diese Wendung ist althergebracht, da stimme ich @Anjuta zu.

Sabine ist eine harte und selbstgerechte Frau. Nicht einmal ihre Kinder durften den Vater in all den Jahren erwähnen, sie hat auch kein herzliches Verhältnis zu ihnen. Mit seiner Mutter hat sie (ohne persönlichen Grund) gebrochen. Für einen Neuanfang braucht sie 19 Jahre. Ich mag die Figur nicht. Aber die Geschichte ist klasse! :)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die meisten Ich- Erzähler bisher sind zwiespältige Figuren, von etwas seltsam bis unsympathisch:
Der Wissenschaftler der ersten Geschichte ein Widerling,
der Nachbar eine undurchsichtige Figur
einzig Philipp‘s Verhalten ist nachvollziehbar
Sabine eine kalte Frau.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Ich finde die Geschichte auch schwächer als die ersten drei, aber immer noch gut. Zur Ich-Erzählerin hat @Literaturhexle schon vieles gesagt, sie ist verbittert ob des Verrats Michaels. Seinen Betrug kann sie nicht verzeihen, über Jahre hinweg. Es gelingt ihr nicht Abschied zu nehmen, erst mit dem Amulett stellt sich das Gefühl ein, sie könne „abschließen“. Es ist eine eher alltägliche Geschichte - bis auf das Amulett, die Bilder, die Michael für Sabine hineingetan hat, wirken auf mich wie eine Entschuldigung.
 

Bibliomarie

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Auch wenn diese Geschichte fast alltäglich wirkt, finde ich viel in ihr versteckt.
Sabine hat sich einen Panzer zugelegt, musste in der Situation Stärke zeigen und hat sich sicherlich auch verhärtet. Sie hat als verlassene Ehefrau ihre Energie in den Aufbau ihrer Praxis gesteckt, das Kapitel Ehe abgehakt, ohne wirklich abzuschließen. Erst die Begegnung mit dem sterbenden Michael eröffnet ihr diese Möglichkeit.

Michael ist schwach gewesen, die erste Möglichkeit nutzt er, um an die Tür des Au Pair zu klopfen. Aber offensichtlich ist er glücklich geworden, auch wenn Milena wohl schon einen neuen Freund hat (oder mit wem war sie Arm in Arm unterwegs?)

Vorhalten kann und muss man Sabine, dass sie den Kontakt der Kinder zu ihrem Vater und ihrer Großmutter wohl unterbunden hat. Das war rachsüchtig und kleinmütig. Wie schön, dass zum Ende ihre ehemalige Schwiegermutter diese großherzige Geste machte.

Dass ihre Kinder unselbständig und ihrer Mutter entfremdet sind, mag an der Scheidung liegen und dass sie für den Vater Partei ergriffen. Nicht ungewöhnlich, wenn sich die Partner nicht auf einen Umgang einigen können.
Es waren aber wohl auch verwöhnte Wohlstandskinder, die alles aus dem Weg geräumt bekamen.

Ich kann schon, wenn auch nicht mit Sympathie, doch mit Verständnis auf Sabine reagieren.
 

Bibliomarie

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Später erwartet sie auch von ihrem Sohn sofortige Auskünfte, weil SIE ihm die Wohnung gekauft habe, SIE ihn unterstütze etc. (spätestens da verlor Sabine meine anfänglichen Sympathien).

So extrem sehe ich das nicht, schließlich scheint Sabine nicht ständig mit Wünschen oder Forderungen auf seiner Matte zu stehen. Dass sie in diesem Fall sauer ist, dass er seine Party nicht für einige Minuten verlassen kann, verstehe ich.
 

SuPro

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28. Oktober 2019
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Die Ärztin Sabine wird von ihrem ehemals hübschen Au-Pair-Mädchen Milena überrascht, das inzwischen jegliche Schönheit eingebüßt hat.
Vor 20 Jahren hat sich Sabines Mann Michael in Milena verliebt, die beiden haben geheiratet und eine Familie gegründet.

Jetzt hat Michael Lymphknotenkrebs und möchte sich mit Sabine treffen.
Sabine, die vom einstigen Verrat noch immer schwer gedemütigt und gekränkt ist, ist schadenfroh.
Sowohl was Michaels Krankheit als auch was Milenas verblichene Schönheit betrifft.

Der Autor verschafft dem Leser einen Einblick in die menschlichen Abgründe und formuliert das Ganze obendrein bravourös.

Dann reflektiert Sabine, macht sich Gedanken über die Dynamik und Rollenverteilung in ihrer damaligen Beziehung. Was waren ihre Anteile?
Es ist eine höchst analytische Auseinandersetzung!
Ihre Freundin stellt die richtige Frage und provoziert Sabine so, einem Treffen zuzustimmen.

Dass Bernhard Schlink psychologisch versiert ist, erkennt man auf Seite 111 ganz deutlich.
Um abschließen zu können, muss man nicht verzeihen und vergeben.
Das ist eine sehr laienhafte Annahme. Um abschließen zu können, muss man sämtliche Gefühle sozusagen konstruktiv durchleben, durcharbeiten, verarbeiten und damit überwinden.
Es ist also eine intensive und konstruktive Auseinandersetzung notwendig, um etwas abzuschließen.
Der kognitive Entschluss zu verzeihen, reicht nicht.

Genau das scheint dem Autor klar zu sein, denn er spricht von Herz und Kopf/Einsicht (s. S. 111) und zeigt das Dilemma von Sabine.

Sie fragt sich, was es außer ihrer Einsicht noch brauchte.
Die Antwort: das dazu passende Gefühl.
Eine Art von Gleichgültigkeit, eine innere Distanz, die sich erst einstellen kann, wenn der innere Konflikt verarbeitet worden ist (bei so einem Prozess kann eine Therapie helfen.)

Das Treffen war hilfreich für Sabine. Michael war glaubhaft reumütig und aufrichtig. Es war eine versöhnliche Begegnung und sie hat Sabine geholfen, abzuschließen.
Aber nur, weil sie emotional dazu bereit war.
Und die Folge dieses Abschließens war eine neue Offenheit. Eine Befreiung.

Diese Geschichte ist die schriftstellerische Übersetzung eines fachlichen Textes über die Notwendigkeit des Durcharbeitens.

Ein Lehrstück.
Ich denke, ich werde sie in einem Seminar zum Thema „Durcharbeiten“ meinen Analyseauszubildenden zum Lesen anbieten.

Es ist die ideale Version eines Prozesses, die da aufgezeigt wird.

Wunderbar!!!
 
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SuPro

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Die meisten Ich- Erzähler bisher sind zwiespältige Figuren, von etwas seltsam bis unsympathisch:
Der Wissenschaftler der ersten Geschichte ein Widerling,
der Nachbar eine undurchsichtige Figur
einzig Philipp‘s Verhalten ist nachvollziehbar
Sabine eine kalte Frau.
... Ja, sie sind zwiespältig. Aber das ist ja gerade das wunderbare in diesen Geschichten. Dass die Personen nicht Eindimensional gezeichnet worden. Sondern in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, Differenziertheit und Komplexität.
Deinen Beschreibungen der Erzähler kann ich nur zustimmen.
 

SuPro

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So extrem sehe ich das nicht, schließlich scheint Sabine nicht ständig mit Wünschen oder Forderungen auf seiner Matte zu stehen. Dass sie in diesem Fall sauer ist, dass er seine Party nicht für einige Minuten verlassen kann, verstehe ich.
... ich empfinde Sabine aus der Geschichte da auch sehr krass. Ziemlich dominant. Sie knüpft ein Geschenk (Wohnung) und Unterstützung (mtl. Finanzspritzen) an Bedingungen (sofort alles stehen und liegen lassen für die Frau Mama)... das mag ich gar nicht!
 

Sassenach123

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Eine kurze und prägnante Geschichte die einen Abschied darstellt, der sich aus zwei Komponenenten zusammensetzt. Zuerst die Scheidung, die ja auch einen Abschied darstellt. Diesen Abschied hat Sabine noch nicht verdaut, daher zeigt sie auch erstmal meine Tendenzen ihrem Mann zu verzeihen. Warum ihm etwas Gutes tun, wo sie den Schmerz immer noch verwunden hat. Nach und nach gelingt es dem Autor aber eine Kehrtwende einzubauen, es ist doch keine Sackgasse, Sabine bewältigt es am Ende doch. Schön gemacht wie ich finde
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Ich fand es gut, dass Sabine sich einen Ruck gibt (oder geben lässt) und sich mit ihrem Ex-Mann trifft. Eine Trennung in fast 20 Jahren nicht richtig zu verarbeiten, ist schon etwas eigenartig. Vielleicht ist es tatsächlich ein sich einrichten, so muss man sich nicht auf etwas Neues einlassen. Eigentlich ist es doch auch schade, dass man bei einer Trennung häufig noch mehr Menschen verliert und nicht bedenkt, dass die das vielleicht nicht so toll finden.
Mir hat diese Geschichte bisher am besten gefallen.
 

parden

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Es ist schon interessant zu lesen, wie unterschiedlich diese Geschichten bei den Lesern ankommen. Auch wenn sie ein 'Lehrstück' sein mag hinsischtlich des 'Durcharbeitens' emotionaler Aspekte, gehöre ich zu denen, die die Erzählung nicht sonderlich anspricht. Ich finde allerdings auch, dass es zu den dargestellten Figuren, vor allem zu der spröde wirkenden Ich-Erzählerin, passt, dass hier nicht alles kitschig und rührselig endet, sondern eben nüchterner: es wurde letztlich alles gesagt, und mehr ist eben nicht. Gerührt war die Ich-Erzählerin, als sie erkannte, dass ihre harte Haltung in der Vergangenheit weniger denjenigen traf, für den sie gedacht war, sondern sozusagen reichlich Kollateralschäden hinterlassen hat. Vielleicht war ihr Ex-Mann nicht der einzige, dem etwas leid tun sollte...
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Wow, krass. Wie gut, dass es Frauen gibt, die ihren Männern eine Affäre verzeihen und bereit sind, auch an sich selbst zu arbeiten und die Schuld nicht nur dem Mann geben.
Sabine ist schon krass in ihrem Verhalten - konsequent, aber sehr "einseitig".
 
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