1. Leseabschnitt// Erster Teil: Die Jahre (S. 11 - 86)

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Trina schreibt ihrer Tochter einen Brief, durch den der Leser mitgenommen wird, auf eine Reise durch die Ereignisse, die sich in Graun, einem Südtiroler Bergdorf zugetragen haben. Die Bewohner dürfen wählen, ob sie bleiben, und sich den Faschisten unterordnen, oder nach Deutschland auswandern.
Die Vorstellung sich auf einmal für eine Seite entscheiden zu müssen ist befremdlich, zumal jede Wahl ihre Schattenseiten zu haben scheint. Dennoch entscheidet die junge Trina, frisch gebackene Lehrerin sich dafür in ihrem Dorf zu bleiben. Doch sie darf nicht unterrichten, tut dies aber heimlich, und geht damit ein großes Risiko ein. Als sie erwischt und aufgeknüpft wird, macht sie trotzdem weiter. Als sie eine ihrer besten Freundinnen, Barbara, ebenfalls überredet ihren Beruf heimlich auszuüben, wird diese leider auch ertappt und soll in die Verbannung.
Über Trina wissen wir schon früh, dass sie sich eher zu Frauen hingezogen fühlt. Der einzige Mann, den sie mag, ist Erich, der ab und an im Elternhaus einkehrt. Als der Vater dann eigenmächtig die Initiative ergreift, und den Weg für die beiden jungen Leute ebnet, erschien es mir, als ob Trina eher resigniert als sich zu freuen.
Die Hochzeit hat einen derben Beigeschmack, da hilft es nicht, dass Maja, ihre andere Freundin die Kirche herrlich geschmückt hat, denn Barbara wird in die Verbannung gebracht. Trina muss große Schuldgefühle haben, schließlich hat sie Barbara überredet als Lehrerin zu arbeiten, obwohl es verboten ist.
Der Faschismus überschattet Trinas Leben. Die Ehe ist gut für sie, mehr wohl nicht, vieles lässt sie einfach über sich ergehen. Die Gedanken an Barbara belasten Sie nach wie vor sehr. Dass sie vor der Eheschließung mit der Polizei sprechen wollte, sich stellen wollte, hat mir sehr imponiert. Doch was hätte es gebracht, ich denke sie wären beide fortgeschafft worden. Sie hätte Barbara wohl nicht vor diesem Schicksal bewahren können.
Als das erste Kind, Michael, kommt, bleibt Trina noch Zeit weiter zu unterrichten. Michael ist ein ruhiges Kind, die Mutter kommt und hilft. Doch als das von Trina ersehnte Mädchen kommt, wird es anstrengend, denn die Kleine ist ein echter Wirbelwind. Trina hat das Gefühl wichtige Dinge in ihrem Leben zu verpassen, während sie Mutter sein muss.
Erich wird von den Kindern abends sehnsüchtig erwartet, er tollt mit ihnen herum, trotz der harten Arbeit die er tagsüber verrichtet.
Die Zeiten werden nicht besser, doch wegziehen möchte Erich nicht, er ist seinen Wurzeln treu, möchte dies nicht aufgeben.
Am Ende des Abschnitts ein schlimmer Schicksalsschlag. Erst die Anfeindungen der Dorfbewohner, die sich auf Hitlers Rat aufmachen, ihre Häuser verlassen, und sich auf den Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft machen. Dann die Erkenntnis, dass Erichs Schwester und dessen Mann Marica mitgenommen haben.
Ich habe die ganze Zeit gegrübelt, warum dieser Brief nur an die Tochter gerichtet ist, nun macht es Sinn.
Der Roman nimmt mich emotional sehr mit. Meist vergesse ich, dass es ein Brief einer verzweifelten Mutter an ihr Kind ist, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich mir die Sorgen und Ängste gut vorstellen kann. Der Autor bringt alle Gefühle gut rüber und ich lese gerne weiter.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich finde den Pfarrer bemerkenswert.
[zitat] »Sagt euren Männern das, wenn ihr heiratet, und denkt auch selber dran: Wenn ihr euch nicht mit der Politik beschäftigt, beschäftigt sich die Politik mit euch!« [/zitat]

und auch sein Engagement für den Katakombenunterricht

Ein sehr weltlicher Geistlicher wie mir scheint.
Sein Spruch ist leider allzu wahr.
Diese Szene hat mich an „ Patria“ und „ Langsame Jahre“ von Fernando Aramburu erinnert. In beiden Büchern geht es um die ETA im Baskenland.Da sind es auch die Priester, die die Unabhängigkeitsbewegungen unterstützen. Schon verwunderlich.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Geschichte Südtirols weist Parallelen zum Elsass auf. Dieses Gebiet war im 19. und 20. Jahrhundert immer mal wieder Teil von Deutschland und wurde danach wieder Frankreich zugeteilt. Auch hier wurden Straßen usw. umbenannt, Amtssprachen geändert usw. Balzano zeigt uns hier eindrucksvoll, was so etwas für die Bevölkerung bedeutet.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Beeindruckend fand ich an dem Gelesenen, wie die Faschisten gesehen werden. Es geht hier gar nicht um Politisches, was abstoßend wirkt, sondern es ist rein der Konflikt zwischen Italienern/Italienisch und Deutsch, der die Gefühle und Haltungen der Menschen antreibt. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass die Menschen in Graun die Faschisten (die italienischen) verabscheuen, sich aber von Hitler die Befreiung erhoffen. Eine national geprägte Befreiung ist damit eigentlich gemeint. Aus der Sicht einer Minderheit in einem immer nationaler ausgerichteten beherrschenden Staat, ist das eine nicht ganz unerklärliche Haltung. wenn auch blöd (aus meiner Sicht).
Die immer einsamer werdende Leere in dem Dorf, wenn die Optanten wegziehen, hat mich ebenfalls sehr berührt.
Interessant finde ich in dem Roman auch die Erzählhaltung, in der eine Frau ihrer Tochter ihr Leben und ihre Vergangenheit erzählt/erklärt.
 

Yolande

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13. Februar 2020
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Ich muss mit dem Schluss anfangen. Ich bin völlig schockiert, dass die Schwägerin von Trina einfach das Kind mitnimmt. Was für eine schreckliche Vorstellung :(. Das Buch hat mich schon völlig gepackt, auch wenn ich einen Moment brauchte um hineinzukommen. Leider muss ich jetzt zu einem Termin. Ich werde mich heute Abend oder spätestens morgen Euren Beiträgen widmen
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Die Erzählhaltung ist dadurch, dass eine Mutter sich an ihre Tochter richtet, sehr persönlich und ermöglicht, dass man sich angesprochen fühlt und mitleidet, der Schock, dass die Verwandten Marcia mitgenommen haben, ist geradezu körperlich zu spüren - sie spürt es auch bereits vorher.

Dass die Südtiroler Hitler als „Retter“ angesehen haben, ist aus heutiger Perspektive kaum nachzuvollziehen. Allerdings war Südtirol vor dem ersten Weltkrieg ein Teil Österreichs, sie haben sich nie als Italiener gefühlt und das ist teilweise bis heute so. Ich war schon häufiger dort in Urlaub und vor allem in den Tälern und auf den Bergen, fernab der Städte Meran und Bozen sprechen die Südtiroler*innen untereinander deutsch, fühlen sich unabhängig von Italien - sind es ein Stück weit ja auch.
Insofern finde ich den Roman historisch gesehen sehr interessant.
Trina leidet auch unter der Bestrafung Barbaras, die sie liebt - auch wenn sie diese Liebe nicht leben kann. Was verbindet sie mit Erich? Er liebt die Kinder und scheint ein freundlicher Mensch zu sein, der feste Grundsätze hat und Widerstand leisten will.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Hier war ich total schockiert. Damit hatte ich nun garnicht gerechnet.
Auch wenn ja einige Dinge darauf hinweisen, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht so entspannt war. Von daher würde es mich nicht wundern, wenn Marica freiwillig mit ihrer Tante und ihrem Onkel mitgegangen ist.
Ansonsten finde ich es überaus spannend, etwas (mehr) über den italienischen Faschismus zu lernen! Ich bin jetzt voll drin in der Geschichte und freue mich auf das Weiterlesen. :cool:
 

Querleserin

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Von daher würde es mich nicht wundern, wenn Marica freiwillig mit ihrer Tante und ihrem Onkel mitgegangen ist.
Marcia möchte weiter zur Schule gehen und es gefällt ihr nicht, dass sie von den anderen als Dableiber beschimpft werden, insofern könnte es tatsächlich sein, dass sie freiwillig mitgegangen ist, allerdings ist sie zu jung, um das Ausmaß dieser Option zu begreifen. Vielleicht haben Onkel und Tante auch gesagt, deine Eltern kommen nach...
Unglaublich finde ich es jedoch von Lorenz und Anita, das Kind einfach mitzunehmen.
 

Circlestones Books Blog

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Wienerin auf Rügen
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Ist es nicht absolut grotesk, dass die Südtiroler die Faschisten hassen und sich auf Hitler freuen!


Aus Sicht der damaligen Zeit nicht, denn als sie sich auf Hitler freuten, wussten sie wenig, worauf sie sich wirklich einlassen. Sie durften ihre deutsche Sprache nicht mehr verwenden, bekamen keine Arbeit, es wurden ihnen mit Absicht Italiener aus dem tiefsten Süden ins Land gesetzt, mit einer damals wirklich völlig unterschiedlichen Mentalität. Dann kamen die Nazis und versprachen ihnen ihre deutsche Identität zurück. So erstaunt es nicht, dass doch relativ viele Menschen, trotz der inneren Verhaftung zur Heimat Südtirol die Option in Südtirol annahmen. Damals erhielten sie Wohnungen in rasch gebauten Siedlungen, teilweise mit kleinem Garten, um ihnen die Umstellung zu erleichtern. Ich kenne die Südtirolersiedlung Feldkirch, Vorarlberg gut, es gibt diese Häuser und Wohnungen, natürlich renoviert, noch heute. Besonders auch, wenn man in diesem Buch die Schilderung des einfachen Lebens, der ärmlichen Verhältnisse liest und die Unmöglichkeit, als Lehrerin einen Arbeitsplatz zu finden, kann man die Entscheidung schon nachvollziehen.
 

Literaturhexle

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Insofern finde ich den Roman historisch gesehen sehr interessant.
Das ist auch mein erster Gedanke, den ich äußern möchte. Ich wusste wohl, dass sich viele Südtiroler noch immer Deutschland und der deutschen Sprache verbunden fühlen. Die Zusammenhänge waren mir aber nicht so klar. Jeder würde mit Widerwillen reagieren, wenn man gezwungen wird, die eigene Identität (und die Sprache gehört unbedingt dazu!) aufzugeben. Noch dazu wird das Studium von Trine und ihren Freundinnen nicht anerkannt,was ihnen Freiheit nimmt. Mutig von ihnen, sich im Untergrund mit ihrem Beruf zu engagieren.
 

Circlestones Books Blog

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Wienerin auf Rügen
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Marcia möchte weiter zur Schule gehen und es gefällt ihr nicht, dass sie von den anderen als Dableiber beschimpft werden, insofern könnte es tatsächlich sein, dass sie freiwillig mitgegangen ist, allerdings ist sie zu jung, um das Ausmaß dieser Option zu begreifen. Vielleicht haben Onkel und Tante auch gesagt, deine Eltern kommen nach...
Unglaublich finde ich es jedoch von Lorenz und Anita, das Kind einfach mitzunehmen.
Ich finde das Verhalten von Trinas Eltern "nun iss doch in Ruhe" und auch Erich sehr eigenartig, ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass alle es gewusst haben, nur Trina selbst nicht. Andererseits war sie keine sehr begeisterte Mutter, vielleicht hielten es alle für "das Beste" für Marica.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Unglaublich finde ich es jedoch von Lorenz und Anita, das Kind einfach mitzunehmen.
Das bricht einem selbst beim Lesen das Herz! Lorenz scheint überzeugter Nazi zu sein, das wurde schon früher deutlich..wahrscheinlich kann das Paar keine eigenen Kinder haben und so entstand die Idee, Marica mitzunehmen. Die Kleine mochte Tante und Onkel (waren die Geschenke ein längerfristiges Bestechungsmanöver?) und nichts ist dann einfacher, als zu manipulieren. Wie Querleserin schon sagte, Kinder begreifen die Tragweite nicht - zumal wenn über die Dauer der Reise geschwiegen wird.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Aus Sicht der damaligen Zeit nicht, denn als sie sich auf Hitler freuten, wussten sie wenig, worauf sie sich wirklich einlassen. Sie durften ihre deutsche Sprache nicht mehr verwenden, bekamen keine Arbeit, es wurden ihnen mit Absicht Italiener aus dem tiefsten Süden ins Land gesetzt, mit einer damals wirklich völlig unterschiedlichen Mentalität. Dann kamen die Nazis und versprachen ihnen ihre deutsche Identität zurück. So erstaunt es nicht, dass doch relativ viele Menschen, trotz der inneren Verhaftung zur Heimat Südtirol die Option in Südtirol annahmen. Damals erhielten sie Wohnungen in rasch gebauten Siedlungen, teilweise mit kleinem Garten, um ihnen die Umstellung zu erleichtern. Ich kenne die Südtirolersiedlung Feldkirch, Vorarlberg gut, es gibt diese Häuser und Wohnungen, natürlich renoviert, noch heute. Besonders auch, wenn man in diesem Buch die Schilderung des einfachen Lebens, der ärmlichen Verhältnisse liest und die Unmöglichkeit, als Lehrerin einen Arbeitsplatz zu finden, kann man die Entscheidung schon nachvollziehen.

Auch in Bregenz gibt es eine Südtirolersiedlung.
In Hans Platzgumers Roman Am Rand wird diese thematisiert
 

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