Thema "Tage in der Geschichte der Stille" von Merethe Lindstrøm

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Tage in der Geschichte der Stille von Merethe Lindstrøm
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Inhalt (Quelle: Amazon):
Eva und Simon haben ein schönes und erfülltes Leben: ein großes Haus, drei erwachsene Töchter, verdienter Ruhestand nach erfolgreichen Karrieren als Lehrerin und Arzt. Doch als Simon aufhört zu sprechen, beginnt die Vergangenheit an Eva zu nagen. Bedingt durch die Stille, die mit Simons Rückzug entsteht, macht sie sich auf die Suche im Gespräch mit sich selbst nach den erschwiegenen Flecken in ihren beiden Leben. Sie versucht sich zu öffnen, sich der Isolation und Stille zu entziehen, in der sie schon viel länger leben, als sie es sich eingestehen will. Sie sucht das Gespräch mit dem örtlichen Priester, arbeitet allein an ihrer Erinnerung und plötzlich tauchen einzelne Bilder auf, werden für sie wieder greifbar: der mysteriöse Einbrecher damals, als die Kinder noch klein waren, die jähe Entlassung der ehemaligen Hausangestellten, die ihnen doch beiden so nah stand. Doch während Eva ihrer eigenen Lebensgeschichte näher kommt, verschwindet Simon in sich selbst, verstummt zusehends, bis er fast kein Wort mehr herausbringt. Eva beginnt zu verstehen, dass seine Erinnerungen andere sind als ihre. Ein für die Poetik seiner Sprache mit dem Kritikerprisen 2011 und dem Literaturpreis des Nordischen Rates 2012 ausgezeichneter Roman, der zwischen Erinnerung und Vergessen oszilliert. Ein Buch über das Schweigen und die Liebe zweier Menschen, die sich am Ende eingestehen müssen, dass es Dinge gibt, die vielleicht immer unaussprechlich bleiben.

Wieder einmal äußerst spontan hat sich eine kleine Lesegemeinde gefunden, die diesen Roman aus dem Matthes & Seitz Verlag Berlin lesen will.

Er passt zum Gastland Norwegen der diesjährigen Buchmesse. Wir beginnen am Ende dieser Woche (11. Okt.). Weitere Mitleser sind willkommen!

@KrimiElse @Querleserin @MRO1975 @kingofmusic @renee @ElisabethBulitta @ulrikerabe
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich passe - ich nehme keine Leserunden mehr an. Hab im Oktober noch zwei bzw. drei, im November (glaube ich) drei, Dezember auch mindestens zwei...
Wünsche euch aber viel Spaß!
Mein König, ich würde verführt, brutal verführt! Ich wollte auch keine LR mehr. Aber das Buch soll so besonders sein... Ich hole es gleich ab und werde berichten:rolleyes::p
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Mein König, ich würde verführt, brutal verführt! Ich wollte auch keine LR mehr. Aber das Buch soll so besonders sein... Ich hole es gleich ab und werde berichten:rolleyes::p
Du musst dich nicht rechtfertigen, liebe Hexe :D. Aber ich habe auch noch mit anspruchsvollen Prosatexten und
Buchinformationen und Rezensionen zu Kafkas Welten: Erzählungen aus Absurdistan von Brigitte Halewitsch
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, welches auch nicht leicht zu lesen ist, auch wenn es bis auf zwei oder drei Zitate nix mit Kafka zu tun hat *g*...
Ich bin gespannt auf eure Berichte bzw. Rezensionen.
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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MRO1975

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11. August 2018
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Ich passe auch. Das Thema reizt mich momentan nicht so, ich schaue erst mal, was ihr so schreibt. ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Morgen werde ich nicht zum Lesen kommen. Deshalb habe ich heute Abend schon mal die ersten 27 Seiten genossen. Ich bin beeindruckt von der Sprache! Man ist sofort gefangen:rolleyes:.
Soweit mein allererster Eindruck.
Gute Nacht.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Morgen werde ich nicht zum Lesen kommen. Deshalb habe ich heute Abend schon mal die ersten 27 Seiten genossen. Ich bin beeindruckt von der Sprache! Man ist sofort gefangen:rolleyes:.
Soweit mein allererster Eindruck.
Gute Nacht.
Das klingt sehr gut! Ich habe die ersten paar Seiten gestern gelesen, habe ab4 dann Übernachtungsbesuch bekommen. Ich lese entweder heute abends oder morgen weiter. Mir gefällt es sprachlich auch ganz ausgezeichnet.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Ich bin etwas vorgeprescht ;) Urlaubszeit ist Lesezeit. Da ich auf dem E-Reader lese und die Kapitel weder Zahlen noch Überschriften haben, kann ich als Anhaltspunkt nur 60% bieten. Der Roman beinhaltet für mich so viele Fragen, dass ich geduldig auf euch warten werde. Die erste Episode fand ich schon sehr bedrohlich, aber ihr Verhalten hat mich auch etwas befremdet. Wer lässt mit drei kleinen Kindern einen Fremden ins Haus?
Ihr Leben scheintcwrnig spektakulär, sie Lehrerin ;) und dann noch für Literatur, Kinder und einen Arzt als Mann, der plötzlich immer weniger redet. Mir ist aufgefallen, dass das Verschweigen eine wichtige Rolle spielt - ihre Weigerung über das Wesentliche zu sprechen. Stille und Verschweigen sind Leitmotive. Und jetzt warte ich, bis ihr soweit seid ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 115
Eines vorweg: Ich bin sehr sehr angetan von diesem Buch! Es hat eine sehr ruhige, aber atmosphärisch dichte Sprache. Wir haben es mit einer Ich-Erzählerin (Eva) zu tun. Sie ist 15 Jahre jünger als ihr Ehemann Simon und war Lehrerin. Die beiden haben zwei erwachsene Töchter.

"Ich habe ihn selbst hereingelassen", so lautet der erste Satz. Es wird von einer "Episode" berichtet, als vor Jahren ein junger, eventuell verwirrter junger Mann vor der Tür stand und darum bat, telefonieren zu dürfen. Die Episode endete mit großem Schrecken und schleicht sich immer wieder ins Bewusstsein der Erzählerin.
Dieser ist aber nicht der einzige "Eindringling", bis jetzt wurden bereits drei erwähnt.

Simon scheint an einer Demenz zu leiden. Zumindest spricht er nicht mehr, was für Eva nur schwer auszuhalten ist. Neuerdings bringt sie ihn auf Anraten ihrer Tochter in eine Tagesstätte für Senioren, die Simon anscheinend gerne besucht.

Es gab eine Haushaltshilfe, Marija. Sie arbeitete drei Jahre für Eva und Simon. Dann war aber etwas vorgefallen, das zur Kündigung führte. Was das genau war, kann ich noch nicht sagen. Die Erzählerin berichtet immer mal wieder etwas, macht Andeutungen, lässt diese aber wieder fallen.

Simon musste in seiner Kindheit schon einmal schweigen: Im Versteck vor den Nazis, er ist Jude. Hat sein neuerliches Schweigen damit zu tun? Fast seine gesamte Familie ist dem Holocaust zum Opfer gefallen. Er leidet darunter, keine Familie mehr zu haben und greift nach jeder Gelegenheit, auch entferntere Verwandte kennenzulernen.
Eva hat sehr früh als junge Frau einen Jungen geboren und weg gegeben. Die näheren Umstände sind noch nicht bekannt und Simon hat für dieses Verhalten überhaupt kein Verständnis.

Herkunft/Familie/Identität (die sich evtl. durch die Demenz verliert?) ist eines der behandelten Themen.
Die drei Eindringlinge (junger Mann, Marija und der Vetter) sind auffallend.

Der Buchtitel "Tage in der Geschichte der Stille" ist Programm. Die Erzählerin hüpft hin und her und berichtet über einzelne Sequenzen ihres Lebens sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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Ich schreibe bei diesem Buch so viel auf und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu diskutieren.

ich bin inhaltlich auch etwa so weit wie du, liebe Literaturhexle.

Zunächst einmal: sprachlich gefällt es mir sehr, die vielen Sprünge stören nicht, vermitteln eher ein Gefühl der Gedanken, denen die Erzählerin folgt. Ich habe das Gefühl, dass sie sich selbst oft nicht ganz im Klaren darüber ist, was sie eigentlich zusammengrübelt.
Auffällig ist, dass sie zwar immer von „uns“ spricht, aber Dinge allein aus ihrer Sicht betrachtet und erinnert. Und ihr Mann schweigt, man bekommt zunächst keinen Eindruck davon, was sein Blick auf das Geschehen ist. Ich glaube bei manchen Bemerkungen der Erzählerin, dass sie der Kraft der falsch abgelegten Erinnerungen unterliegt oder vielleicht ihren Ehemann Simon nie richtig kannte. Aber ich kann mich täuschen...
die Geschichte umreißt aus ihrer Sicht das Kennenlernen des Paares, ein paar Episoden aus dem Leben mit den Kindern, und die Haushälterin, deren Weggang mit einem vielleicht tragischen Ereignis verknüpft ist. Hier fällt auf, dass immer wieder betont wird, wie freundschaftlich alle doch miteinander verbunden waren, aber andererseits lese ich viel Diskriminierung und elitäres Denken aus den Gedanken der Erzählerin heraus. Ich habe so gar keine Idee, was vorgefallen sein könnte...
Ich zweifle ehrlich gesagt momentan auch an, dass Simon krank ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass er sich den Dingen einfach verweigern möchte. Es wurde nichts festgestellt außer dass er schweigt. Und besonders redselig scheint er auch zuvor schon nicht gewesen zu sein.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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aber andererseits lese ich viel Diskriminierung und elitäres Denken aus den Gedanken der Erzählerin heraus.
Das elitäre Denken habe ich nicht empfunden. Für mich war die Entwicklung von der reinen Putzkraft zur Freundin glaubwürdig erzählt. Eva verurteilt ja eher die Nachbarn, weil die ihre Haushaltshilfen nicht angemessen behandeln.
Es wurde nichts festgestellt außer dass er schweigt. Und besonders redselig scheint er auch zuvor schon nicht gewesen zu sein.
Er zieht sich ins Schweigen zurück. Andererseits streunt er umher und läuft weg. Die Unruhe gehört auch zur Demenz. Die Kinder wollen ja auch, dass er ins Heim kommt. Deshalb dachte ich daran, dass es mehr Ausfälle geben muss als nur das Schweigen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich bin mit dem Buch gerade fertig geworden. Es ist echt ein Hammer!
Auch das Ende! Wo sich der Verlust des Vetters am Verlust des Sohnes spiegelt. Dieser Gedanke muss doch unglaublich quälend sein.

@KrimiElse : Ist es nicht ein Zufall, dass wir zwei Bücher hintereinander gelesen haben, in denen ein Junge zur Adoption freigegeben wurde?! Und ist es nicht ein riesiger Unterschied, WIE das Thema aufbereitet wird?!?

Puh. Ich muss wirklich nachdenken. Ich fand die Geschichte ganz großartig. Auch und gerade die Sprache. Da hat die Übersetzerin ganze Arbeit geleistet.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Die Erzählerin berichtet immer mal wieder etwas, macht Andeutungen, lässt diese aber wieder fallen.
Die Erzählerin scheint um das Wesentliche zu kreisen - schweigt, anstatt zu reden und erst ganz am Ende werden die einzelnen Fäden verknüpft bzw. erfährt man, was es mit dem Bruch mit Maija auf sich hat und dass Eva durchaus unter dem Verlust des Kindes gelitten hat.
Wo sich der Verlust des Vetters am Verlust des Sohnes spiegelt. Dieser Gedanke muss doch unglaublich quälend sein.
@Literaturhexle: Wie meinst du das? Dass der Brief, der über den Verbleib des Vetters informiert, die schmerzhafte Erinnerung an ihren Sohn weckt?
Tragisch, wie der Vetter entdeckt wurde und dass Simon sich deswegen Vorwürfe gemacht hat.
Wie deutet ihr sein Schweigen? Einerseits wollte er seine Vergangenheit den Kindern mitteilen, aber da hat Eva ihn zurückgehalten, dann hat er recherchiert und mit ihr gesprochen, seinen Bruder eingeladen und immer wieder versucht, es den Kindern zu sagen, auch brieflich. Doch es ging nicht mehr und daraufhin hat er sich in seine Schweigen zurückgezogen. Vielleicht auch, weil Eva ihn darin unterstützt hat, darüber zu reden. Erst jetzt wird sie es tun? Mit Helena? Zumindest deutet einiges darauf hin.
Auch mit Marjia gab es keine offene Aussprache - in dieser Familie, in dieser Beziehung scheint es mehr Ungesagtes als Ausgesprochenes zugeben. Von daher passt der Titel, die ganze Ehe scheint von Stille und (Ver-)schweigen durchdrungen zu sein.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie meinst du das? Dass der Brief, der über den Verbleib des Vetters informiert, die schmerzhafte Erinnerung an ihren Sohn weckt?
Der Geist des Vetters war ein weiterer "Eindringling". Desöfteren war von ihm die Rede, weil sein Schicksal ungewiss war. Ich erinnere mich u.a. daran, dass die Mutter von ihrem Sohn weggespült wurde (im Traum) und der Junge allein zurückblieb.
Im letzten Abschnitt bekommt Simon das amtliche Schreiben, aus dem die Sterbedaten des Vetters hervorgehen. Eva geht raus, kommt an der Kirche (auch ein Motiv!) vorbei und erinnert sich an ihren Sohn, an dessen Blicke, als sie ihn weggibt und einem ungewissen Schicksal überlässt.
Für mich war das eine Spiegelung der beiden erlittenen Verluste/Traumata. Ich fand diesen Schluss extrem stark und bewegend. Ich habe die Blicke der beiden verlassenen Jungen vor meinem inneren Auge gesehen.
Tragisch, wie der Vetter entdeckt wurde und dass Simon sich deswegen Vorwürfe gemacht hat.
Hier stehe ich auf dem Schlauch: Hat das was mit dem bellenden Hund zu tun? Als eine Frau mit Kind aus der vermeintlich leeren Wohnung geholt wurden?
Wie deutet ihr sein Schweigen?
Für mich ist es auch Teil einer demenziellen Erkrankung. Der Arzt fand zwar nichts (man findet bei einer weniger fortgeschrittenen Demenz auch nicht unbedingt etwas), aber das zunehmende Schweigen ist auch mit Unruhe verbunden, später läuft Simon auch weg und klopft bei fremden (?) Leuten. Manchmal möchte er auch etwas sagen und kann es nicht. Irgenwo am Anfang schildert Eva auch, dass er sich aus einer Sammlung von Redewendungen bedient, die meistens passen (das machen Betroffene genau so;)).
Ich glaube nicht, dass man es rein bewusst schaffen kann, das Reden einzustellen. Auch wenn Eva das auf S. 125 behauptet. Sie wünscht sich einfach die Gespräche zurück.
 
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Literaturhexle

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Eva schildert das sie umgebende Schweigen. Sie sagt: "Simon beginnt, sich davon zu machen". Das Verschwinden ist aus meiner Sicht ein weiteres Thema (neben dem Schweigen und der Stille), es taucht auch immer wieder auf.

Ebenso die "Eindringlinge":
  • Der Fremde (war es ihr Sohn?), der telefonieren wollte
  • Der Geist des Vetters
  • Marija (in dem Moment, als ihre "Weltanschauung" zutage tritt)
Den ersten Eindringling bezeichnet sie auf S. 11 als einen Riss in der Leinwand, der etwas auftauchen lässt, das nicht gesehen werden sollte. Deshalb steht diese Episode wohl am Anfang.

Die Eltern haben nie den Mut gehabt, ihren Töchtern etwas von der Vergangenheit zu erzählen. Mit den Jahren wird es immer schwieriger. In Simons Brief erkennt man den guten Willen, aber er scheint wirklich die Worte nicht mehr zu finden. Wie tragisch!

Verstehen kann man das nicht und höchstens mit den erlittenen Traumata erklären. Aufgrund dieses Verschweigens können sie auch die Kündigung von Marija nicht erklären, können nicht berichten, was sie an deren Abschätzigkeit so verletzt hat. Infolge sind die Töchter sauer (allerdings in ihrer Konsequenz auch mehr als hart, als sie zum Hochzeitstag nicht kommen).
Warum öffnen Simon und Eva Marijas Briefe nicht? Wollen sie auch nichts HÖREN? Haben sie Angst vor Rechtfertigungen oder Vorwürfen?
 
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