2. Leseabschnitt: Kapitel III.

Leseglück

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7. Juni 2017
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Ein weiterer Handlungsstrang kommt hinzu: Die Ich-Erzählerin Iris beginnt im hohen Alter ihre Erinnerungen aufzuzeichnen. Es scheint für sie ein Anliegen zu sein. Vielleicht möchte sie mit ihrer Familiengeschichte und ihrem Anteil daran ins Reine kommen. Für uns Leser ist das natürlich sehr gut, wir können uns auf eine Geschichte freuen :)

Iris erzählt von den Großeltern, von deren Haus Avilion, von ihrem Vater und der Mutter, deren Tod am Brottag, bzw. 5 Tage später schildert sie ausführlich. Eindringlich beschreibt sie auch die psychischen Folgen des Krieges bei ihrem Vater und die Entfremdung der Ehepartner nach der Trennung durch den Krieg.
"Mein Vater war ein zerrüttetes Wrack, wie die Schreie in der Dunkelheit bezeugen, die Albträume, die plötzlichen Wutanfälle...."

Iris ist mir ganz sympathisch, obwohl oder weil sie manchmal etwas gehässiges hat. Iris wird von der Mutter in die Rolle der Beschützerin der kleinen Schwester gedrängt. Vom Vater in die Rolle der Nachfolgerin für die Firma. Nachvollziehbar, dass sie das als Bürde empfindet.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich habe diesen Abschnitt jetzt auch beendet.
In diesem Abschnitt begegnen uns nur zwei Handlungsebenen: die Gegenwart, in der die alters- und herzschwache Iris, betreut von Mira, der Tochter ihrer "Ziehmutter" und Haushälterin Reenie, zurückgezogen lebt. Daneben rollt sie ihre Vergangenheit auf, die sie schriftlich niederlegen will.

Schon in früher Kindheit haben Iris und ihre Schwester schlimme Erfahrungen mit Krieg, Krankheit und Tod machen müssen. Teilweise konnten sie das damals noch nicht verstehen.

Mich begeistert der Schreibstil, auch wenn er nicht ganz leicht zu lesen ist. Ich kann mich sehr gut in das Erzählte hineinversetzen, in schlichten, unpathetischen Worten werden die Schicksale wunderbar greifbar gemacht.

Iris scheint die Büchse der Pandora öffnen zu wollen, sie will sich ihrer Vergangenheit stellen: " Aber sie Wunde ist aufgerissen worden, das unsichtbare Blut strömt hervor. Bald werde ich ausgeleert sein ." (S. 62)

Die familiären Beziehungen werden deutlich. Reenie wird Stadtdolmetscherin und Ersatzmutter. Zumindest vermute ich das, weil deren Ratschläge und Weisheiten für Iris auch im Alter noch große Präsenz haben.

Ebenso wird der Konflikt um Enkelin Sabrina beleuchtet. Iris ist der Meinung, dass man ihr das Kind vorenthalten hat, diesem vielleicht auch Schlechtes über sie erzählt hat. Dadurch haben sich die beiden nicht mehr gesehen, worunter die alte Frau leidet, wie bei der Preisverleihung deutlich wurde.

Spannend auch der Aufbau der Knopffabrik durch Iris' Großvater Benjamin, die keiner der drei Söhne übernehmen wollte. Der erste Weltkrieg löscht anschließend zwei dieser Söhne komplett und den dritten mindestens zur Hälfte aus. Welch eine Tragik!

Iris' Mutter ist keine warmherzige Frau. Sie ist gläubige Methodistin und sehr kontrolliert. Der Heiratsantrag erfolgte seinerzeit auf dem Eis. Ist das ein Symbol für die Ehe, die sich daraus ergeben wird? Es scheint fast so. Das Glück stellt sich zu keinem Zeitpunkt ein. ( Iris' Quelle für die Geschichte der Eltern ist übrigens immer Reenie.)

Der Vater leidet an den Kriegsfolgen, zieht sich von seiner Familie zurück, trinkt und trifft Fehlentscheidungen für die Fabrik.
Die Mutter wird immer schwächer, stirbt schließlich. ("Dieses Ereignis veränderte alles." S. 120). Was für ein Schicksal für die Töchter! Iris wird die Verantwortung für die Schwester übertragen. Welch ein Ballast!

Was bahnt sich jetzt mit dem Vater an? Will er mit der Serviererin durchbrennen, die offensichtlich eine Abneigung gegen Kinder hegt?

Ich finde den Roman bislang sehr spannend. Auch eines der Bücher, wo jeder Abschnitt einen Sinn hat, sich bestimmt alles zu einem perfekten Ganzen zusammenfügen wird. Daumen hoch !
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Iris ist mir ganz sympathisch, obwohl oder weil sie manchmal etwas gehässiges hat. Iris wird von der Mutter in die Rolle der Beschützerin der kleinen Schwester gedrängt. Vom Vater in die Rolle der Nachfolgerin für die Firma. Nachvollziehbar, dass sie das als Bürde empfindet.
Und genau darin ist sicher ihre Gehässigkeit, wie du es nennst, begründet.
Mir ist die Passage im Gedächtnis geblieben, dass die quietschenden Räder geschmiert werden - sie hätte mehr schreien sollen anstatt still und brav zu sein.
Gehässig würde ich es allerdings nicht unbedingt nennen, das ist mir für sie zu hart. Jetzt, im Alter, nenne ich es eher zynisch, manchmal auch Galgenhumorig. Als Kind musste sie wohl zu oft stramm stehen, und die einzige Situation, in der sie Laura bewusst weh tut, ist nach dem God der Mutter am Tag der Beerdigung. Für mich sehr verständlich, denn sie soll stark sein und ist es nicht, ihre kleine Schwester ist für Iris unerklärlich fröhlich und damit kommt sie einfach nicht klar,
 

KrimiElse

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Ebenso wird der Konflikt um Enkelin Sabrina beleuchtet. Iris ist der Meinung, dass man ihr das Kind vorenthalten hat, diesem vielleicht auch Schlechtes über sie erzählt hat. Dadurch haben sich die beiden nicht mehr gesehen, worunter die alte Frau leidet, wie bei der Preisverleihung deutlich wurde.
Wer weiß - vielleicht hat Iris auch ihren Anteil daran? Sie äußert an einer Stelle, dass sie sich auch von der Familie fern gehalten hätte...
 

KrimiElse

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Was bahnt sich jetzt mit dem Vater an? Will er mit der Serviererin durchbrennen, die offensichtlich eine Abneigung gegen Kinder hegt?
Ich vermute, er hat eine Affäre und will sich versichern, dass seine Mädchen auch gut versorgt sind, wenn sie auf sich gestellt sind. Ob er weggehen will, sich der Serviererin zuwendet oder irgendetwas anderes ist noch unklar. Er ist ein unruhiger Geist nach dem Krieg, der sich nach etwas sehnt, das ihm weder die Knopffabrik noch sein Heim, was er wohl beides aus Pflichtbewusstsein erduldet, geben kann.
Oder warum spricht Iris von den Dingen über dem Strich, nach denen sie kaum zu graben wagt?
 

KrimiElse

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Den hochgerecktem Daumen kann ich mich nur anschließen, ich mag das Buch bisher sehr, es ist trotz der verschiedenen Stränge und Ebenen gut verständlich, hetzt nicht durch die Geschichte sondern erzählt mit der Langsamkeit, in der sich Iris mittlerweile bewegt, ohne zu langweilen.
Mir gefällt sehr, dass man Iris in der Gegenwart über die Schulter schaut (die Toilettenkritzeleien - herrlich, oder?) und mit ihr Erinnerungen heraufbeschwört.
 

Literaturhexle

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Gehässig würde ich es allerdings nicht unbedingt nennen, das ist mir für sie zu hart. Jetzt, im Alter, nenne ich es eher zynisch, manchmal auch Galgenhumorig. A
Da bin ich bei dir. Sie hat immer mal wieder so einen Dreizeiler drin, bei dem ich schmunzeln musste. Für mich ging das fast Richtung Ironie: Aus der Distanz werden die Dinge in einem anderen Licht gesehen. Vielleicht auch ein etwas bissiger Humor? Mehr habe ich bis jetzt auch nicht darin gesehen. Iris scheint mir doch eine recht umgängliche alte Dame zu sein.
 

Helmut Pöll

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Eindringlich beschreibt sie auch die psychischen Folgen des Krieges bei ihrem Vater und die Entfremdung der Ehepartner nach der Trennung durch den Krieg.
Im Grunde ist ja die ganze Gesellschaft mit den vielen traumatisierten Kriegsinvaliden eine ganz andere geworden. Und das macht auch vor Iris Familie nicht halt.
[zitat]Aber etwas viel Schlimmeres war geschehen: mein Vater war jetzt Atheist: Über den Schützengräben war Gott zerplatzt wie ein Luftballon, und nichts war von ihm übrig geblieben als ein paar schmuddelige kleine Fetzen der Heuchelei.[/zitat]
S. 108
 

Literaturhexle

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Im Grunde ist ja die ganze Gesellschaft mit den vielen traumatisierten Kriegsinvaliden eine ganz andere geworden. Und das macht auch vor Iris Familie nicht halt.
[zitat]Aber etwas viel Schlimmeres war geschehen: mein Vater war jetzt Atheist: Über den Schützengräben war Gott zerplatzt wie ein Luftballon, und nichts war von ihm übrig geblieben als ein paar schmuddelige kleine Fetzen der Heuchelei.[/zitat]
S. 108
Den Satz habe ich mir auch angestrichen! Das muss für sie gläubige Mutter auch schwer gewesen sein. Ein weiterer Punkt, der die beiden voneinander entfernte.
 

KrimiElse

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Im Grunde ist ja die ganze Gesellschaft mit den vielen traumatisierten Kriegsinvaliden eine ganz andere geworden. Und das macht auch vor Iris Familie nicht halt.
[zitat]Aber etwas viel Schlimmeres war geschehen: mein Vater war jetzt Atheist: Über den Schützengräben war Gott zerplatzt wie ein Luftballon, und nichts war von ihm übrig geblieben als ein paar schmuddelige kleine Fetzen der Heuchelei.[/zitat]
S. 108
Die Familie driftet sowieso schon auseinander, und dort, wo früher einfach wenig da gewesen ist, gibt es wohl keine Verbindung mehr zwischen dem Vater und der Mutter. Erstaunlich, wie die beiden Mädchen dazwischen aufwachsen können. Aber ich glaube, das ist nicht zuletzt der Verdienst von Renie.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Daneben rollt sie ihre Vergangenheit auf, die sie schriftlich niederlegen will.

Und dieses Aufrollen geschieht chronologisch, was für die Leser*innen neben den anderen Erzählsträngen, die vom Blinden Mörder, entspannend ist.

in schlichten, unpathetischen Worten werden die Schicksale wunderbar greifbar gemacht.
Schlichte Sprache, aber auch ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche, die mir besonders gut gefallen:
"Wir wollen unsere Existenz bestätigen, wie Hunde, die an Feuerhydranten pinkeln."
Meine Besitztümer schwebten in ihren höchsteigenen Schattenpfützen, von mir losgelöst, verleugneten, dass ich ihre Besitzerin war."
Die Sommerhitze hat ernsthaft Einzug gehalten und sich über die Stadt gelegt wie ein Cremesuppe."
"An den Abenden donnert es gelegentlich, ein fernes Poltern und Stolpern, wie Gott auf einer mürrischen Sauftour."

Das entlockt mir immer wieder ein Schmunzeln beim Lesen - ich bin wirklich begeistert!
 

KrimiElse

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Schlichte Sprache, aber auch ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche, die mir besonders gut gefallen:
"Wir wollen unsere Existenz bestätigen, wie Hunde, die an Feuerhydranten pinkeln."
Meine Besitztümer schwebten in ihren höchsteigenen Schattenpfützen, von mir losgelöst, verleugneten, dass ich ihre Besitzerin war."
Die Sommerhitze hat ernsthaft Einzug gehalten und sich über die Stadt gelegt wie ein Cremesuppe."
"An den Abenden donnert es gelegentlich, ein fernes Poltern und Stolpern, wie Gott auf einer mürrischen Sauftour."

Das entlockt mir immer wieder ein Schmunzeln beim Lesen - ich bin wirklich begeistert!
Das liebe ich auch ganz besonders, und musste wie du oft schmunzeln.
 

Leseglück

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7. Juni 2017
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Schlichte Sprache, aber auch ungewöhnliche Metaphern
Ja genau, diese Metaphern sind mir auch aufgefallen. Ich bin schon im nächsten Leseabschnitt und habe nun angefangen, mir diese Vergleiche zu markieren, es kommen noch viele davon:)

Die Vergleiche haben etwas freches, schnoddriges und schonungslos ehrliches an sich...sie passen sehr gut zur Ich-Erzählerin Iris finde ich.

"...ein Rest Käse, in Pergamentpapier eingeschlagen und so hart und durchscheinend wie Zehennägel."
Igitt wie treffend!

"...die Worte, die ich schreibe, zerlaufen an den Rändern wie Lippenstift auf einem alternden Mund."

Zwei Beispiele aus dem zweiten Leseabschnitt, die in die ähnliche Richtung gehen.
 

MRO1975

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11. August 2018
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Während der erste Abschnitt aufgrund der häufigen Wechsel der Perspektiven und Erzählebenen sehr abwechslungsreich, fast unruhig war, bringt der zweite Abschnitt nun sehr viel Stetigkeit. Es erzählt ausschließlich Iris, mal aus ihrem aktuellen Leben, mal aus ihrer Vergangenheit. Beides ist sehr spannend und unheimlich gut geschrieben. Die Beschreibungen sind wundervoll!
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ihr habt es schon angemerkt, aber ich möchte mich auch noch in die Reihe derer einreihen, die sagen: was für eine wahnsinnig tolle, poetische und bildhafte Sprache - versetzt mit Humor und Tiefsinn. Ich bin noch lange nicht am Ende dieses Abschnittes, aber die "Memoiren" einer älteren Dame zu lesen, die zuweilen unfreiwillig komisch, weil absolut treffend sind - hach, einfach toll gemacht. :rolleyes::cool:
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich vermute, er hat eine Affäre und will sich versichern, dass seine Mädchen auch gut versorgt sind, wenn sie auf sich gestellt sind. Ob er weggehen will, sich der Serviererin zuwendet oder irgendetwas anderes ist noch unklar. Er ist ein unruhiger Geist nach dem Krieg, der sich nach etwas sehnt, das ihm weder die Knopffabrik noch sein Heim, was er wohl beides aus Pflichtbewusstsein erduldet, geben kann.
Oder warum spricht Iris von den Dingen über dem Strich, nach denen sie kaum zu graben wagt?
Ja, den Gedanken mit der Affäre kommt einem beim Lesen unweigerlich - schön ist hier die Beschreibung von Iris, dass sie die Berührung der Beiden wahrgenommen, aber (natürlich) noch nicht einordnen konnte.