2. Leseabschnitt: "Die Sintflut" (S. 37 bis S. 62)

ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich bin sehr, sehr zwiespältig, was dieses Buch betrifft.
Einerseits ist es unedlich brutal, der geprügelet Cristofaro, Nikola, das Kind, das wie Vieh gehalten wird. Wo und wann, frage ich mich immer wieder, sind wir, dass soetwas möglich ist.
Dann kommen derart poetische Passagen wie der Duft des Brotes, der Sterbende tröstet, Hurenböcke bemitleidenswert macht, den mPden stärtk, den Räuber zum tragischen Helden macht.
Es scheint mir alles zu vereinfacht, so reduziert. Alle Männer, Familienväter gehen zur Prostituierten. Das erfüllt doch jedes Klischee.

Dann kommt das Unwetter, das von Gotte (!?) geschickt wird um das Viuertel zu bestrafen. Weil Celeste lernt? Damit die Schuld Carmelas sich mittels Celest auf alle überträgt.
Ich kann dem ehrlich gesagt nicht folgen, das ist mir zu esoterisch.

Dabei entbehrt das Ganze nicht einer gewissen Komik. Der Stromausfall sorgt dafür, dass Giovannis Waage wieder richtig het. (Nur, wer kauft bei einem Unwetter dieses Ausmaßes schon Mortadella)
Auch Cristifaro profitiert, weil der Vater ihn im Dunkeln nicht erwischt.

Überhaupt scheint mir der Autor mit den Namen zu spielen. Domenico, das Sonntagskind, Celeste, die Himmlische und Cristofaro, der Christus trägt (soll das die Leidensfähigkeit darstellen?)

"archaische Schönheit über Gut und Böse"- einmal passt ein Klappentext tatsächlich
 

claudi-1963

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Puhh was für ein Abschnitt, dieser skurrile Nikola, der wie mir scheint geistig behindert war. Anderseits schlief er bei den Schafen und aß aus einem Napf wie ein Tier. Unbegreiflich für mich was für Zustände in diesem Dorf herrschten. Das Celeste ein verwirrendes Bild von Sexualität hat wundert mich nicht im Anbetracht dessen was sie da alles durch das Loch im Rolladen sehen kann. Ich denke auch nicht das ihre Mutter da die Madonna anbetet, sondern kniet damit ihr Kunde sie so von hinten nehmen kann.
Doch schlau scheint sie zu sein, das sie zu nutzen macht sich die Kinder vom Hals zu halten, weil sie die Größe vom besten Stück ihrer Väter kannte. :)

Mimmo scheint ja total verknallt in sie zu sein, wenn er sogar die Zeit vergisst in dem er sie beobachtet wie sie auf dem Balkon sitzt. Allerdings finde ich das schon grenzwertig, das eine Mutter so ihre Tochter behandelt. Selbst als es in tosenden Bächen regnet, lässt sie Celeste noch da draußen, nur weil sie noch einen Kunden hat.

Cristofaro ist dann wirklich schlau, das er so lange bei Nana bleibt bis es dunkel war, so konnte er sich vor seinem Vater verstecken.

Der starke Regen muss wirklich extrem gewesen sein, wenn man die Schilderungen da so liest. Lustig fand ich das die Alten in falsche betten krochen und es keiner merkte. Aber das es so stark war, das es sogar am anderen Tag tote Tiere und Menschen gab, ist schon heftig.

Der Duft des Brotes und was er mit der Dorfgemeinschft macht, das hat mich wirklich sehr ergriffen. Die Vorstellung was ein Brotgeruch alles vermag, fand ich schon beeindruckend. Aber vielleicht liegt es daran weil ansonsten im Dorf kein schöner Geruch herrschte?

Tragisch ist dann das man Nikola nicht mehr findet.

Auch wenn ich noch nicht mit dem ganzen Schreibstil klarkomme, bewundere ich die bildhafte Sprache die der Autor hier in vielen bereichen anwendet. Sie lässt einem sofort einen Film ablaufen wenn man dieses Buch liest. Trotzdem habe ich manchmal den Eindruck das es vereinzelt zu übertrieben dargestellt wurde. Doch vielleicht ist das die Absicht des Autors.
 
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claudi-1963

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Dabei entbehrt das Ganze nicht einer gewissen Komik. Der Stromausfall sorgt dafür, dass Giovannis Waage wieder richtig het. (Nur, wer kauft bei einem Unwetter dieses Ausmaßes schon Mortadella)
Ja da musste ich auch schmunzeln, den nun bekamen wohl alle das was er ihnen zuvor nicht gegeben hatte. :)
Vielleicht haben alle noch schnell Hamsterkäufe getätigt, bevor das Unwetter noch schlimmer wurde?
 

ElisabethBulitta

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Was Mimmo über Celeste und Carmela denkt bzw. dem Pferd erzählt, impliziert ein wenig, dass er zwischen Sex und Liebe nicht unterscheiden kann. Aber wahrscheinlich wächst er in einer Gegend auf, in der eben Liebe an sich eine nur sehr geringe Rolle spielt.

Die Geschichte rund um Nicola fand ich absolut schlimm zu lesen - sowas von unmenschlich. Da fehlen mir echt die Worte. Das sagt mir viel über den Umgang mit Behinderten. Auch wenn es überzogen ist, findet sich hier doch ein Körnchen Wahrheit.

Auch die Szene mit den Polizisten hat mich schockiert. Wobei mir dabei aber auch klar wird, weshalb niemand sich um Cristofaros' Schicksal kümmert. Ein wahres "Sodom und Gomorrha". Selbst der Priester mischt mit. Den Trick mit dem Tabernakel fand ich einfach toll. Wobei mich da, das ist jetzt Korinthenkackerei, der Artikel "das" ein wenig irritiert hat. Ich weiß, dass es beide Artikel gibt, aber "der" ist eindeutig verbreiteter.

Dann kommt das Unwetter, das von Gotte (!?) geschickt wird um das Viuertel zu bestrafen. Weil Celeste lernt? Damit die Schuld Carmelas sich mittels Celest auf alle überträgt.
Ich kann dem ehrlich gesagt nicht folgen, das ist mir zu esoterisch.

Ich habe es eher so verstanden, dass Gott den Regen schickt als Strafe für Carmelas Verhalten. Esoterisch finde ich es nicht, eher alttestamentlich: Gott straft die Menschen für ihr sündiges Verhalten. Dazu passt auch die Sintflut, die Gott ja gesendet hat, um die Menschen "auszurotten" und anschließend einen Neubeginn zu starten. Hier werden eher althergebrachte Glaubensvorstellungen transportiert, was m.E. zu der ganzen dort dargestellten Gesellschaft passt. Dieser unmittelbare Zusammenhang, Gott schickt gleich die Strafe, bestraft oder belohnt unmittelbar für ein Verhalten, hat für mich was mit mangelnder Bildung zu tun. Wahrscheinlich weil ich mit einem anderen Gottesbild aufgewachsen bin.
Celestes Lesen sehe ich eher als Zeichen für den Willen, diesem Leben zu entgehen. Ich hoffe nur, dass es ihr auch gelingt.

Was mir ansonsten auffällt, sind die zahlreichen religiösen Symbole: das Brot (hier als Brotduft) als Zeichen für Leben und Lebenskraft, das Lamm als Opfertier, das zur Schlachtbank geführt wird (und dann noch als Weihnachtsbaum geschmückt. Das hat mich an Bachs Weihnachtsoratiorium erinnert, in dem er als ersten Choral "Wie soll ich dich empfangen" auf die Melodie von "Oh Haupt voll Blut und Wunden" singen lässt, hier also auch schon in der Weihnachtsfreude einen Ausblick auf die Passion gibt, allerdings weiß ich nicht, ob der Autor hier auch beides in Verbindung bringen will.). Ebenso die Sintflut ... Mich würde wirklich interessieren, was der Autor mit diesen Symbolen bezwecken will. Ich fürchte ja fast, dass das Buch negativ endet ...
 
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claudi-1963

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Ich habe es eher so verstanden, dass Gott den Regen schickt als Strafe für Carmelas Verhalten. Esoterisch finde ich es nicht, eher alttestamentlich: Gott straft die Menschen für ihr sündiges Verhalten. Dazu passt auch die Sintflut, die Gott ja gesendet hat, um die Menschen "auszurotten" und anschließend einen Neubeginn zu starten. Hier werden eher althergebrachte Glaubensvorstellungen transportiert, was m.E. zu der ganzen dort dargestellten Gesellschaft passt. Dieser unmittelbare Zusammenhang, Gott schickt gleich die Strafe, bestraft oder belohnt unmittelbar für ein Verhalten, hat für mich was mit mangelnder Bildung zu tun. Wahrscheinlich weil ich mit einem anderen Gottesbild aufgewachsen bin.
Celestes Lesen sehe ich eher als Zeichen für den Willen, diesem Leben zu entgehen. Ich hoffe nur, dass es ihr auch gelingt.

Da könntest du recht haben mit dem alttestamentlichen und das Gott da die Strafe sendet. Aber nicht weil da eine mangelnde Bildung in dem Dorf herrscht, sondern ich glaube eher weil sie doch sehr an der katholischen Kirche haften. Von daher auch immer wieder das Bild der Madonna, das ja im Widerspruch zu der Arbeit vom Carmela steht.
 
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ElisabethBulitta

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Aber nicht weil da eine mangelnde Bildung in dem Dorf herrscht, sondern ich glaube eher weil sie doch sehr an der katholischen Kirche haften.

Ich bin auch gläubige Katholikin, habe aber dennoch ein anderes Gottesbild. Genau wie meine Eltern schon ein anderes hatten und die meisten anderen ein anderes haben. Ganz davon abgesehen, dass das Bild des strafenden Gottes mit dem NT an sich überholt ist.
 
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Ich bin auch gläubige Katholikin, habe aber dennoch ein anderes Gottesbild. Genau wie meine Eltern schon ein anderes hatten und die meisten anderen ein anderes haben. Ganz davon abgesehen, dass das Bild des strafenden Gottes mit dem NT an sich überholt ist.

Das stimmt schon, aber zum einen wissen wir nicht wann dies spielt und zum anderen bin ich davon überzeugt, das es viele Katholiken noch anders von ihrer Religion denken wie wir hier.
 

ElisabethBulitta

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Das stimmt schon, aber zum einen wissen wir nicht wann dies spielt und zum anderen bin ich davon überzeugt, das es viele Katholiken noch anders von ihrer Religion denken wie wir hier.

Deshalb würde mich auch interessieren, was der Autor mit den zahlreichen Anspielungen sagen will. Aber mal schauen, vielleicht steige ich noch genauer dahinter.
 
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Ich habe es eher so verstanden, dass Gott den Regen schickt als Strafe für Carmelas Verhalten. Esoterisch finde ich es nicht, eher alttestamentlich: Gott straft die Menschen für ihr sündiges Verhalten. Dazu passt auch die Sintflut, die Gott ja gesendet hat, um die Menschen "auszurotten" und anschließend einen Neubeginn zu starten.
Das hast du sehr gut zusammengetragen, Elisabeth! Genau so würde ich das auch verstehen. Auch ich habe eher das Bild des verständigen, verzeihenden Gottes in mir und nicht das des bestrafenden, unbarmherzigen.

In einer (kleinen) Sache widerspreche ich: aus Südniedersachsen stammend heißt es für mich DAS Tabernakel ;) :D
 

Literaturhexle

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Die oben genannte Zwiespältigkeit empfinde ich auch. Sodom und Gomorrha - das passt.
In diesem Ort geschehen so viele unglaubliche Dinge, dass es schwer fassbar ist. Der schwachsinnige Nikola, dem regelmäßig der Freund vor seinen Augen abgeschlachtet wird, die Sintflut (ein sehr biblischer Begriff!), die sich aus Zorn über Celestes Lerneifer auf den Ort ergießt,....
Dann die Komik bezüglich der Waage, der Fische, Cristofaros Versteckspiels, des Bettentauschs,...
Die Poesie: der wabernde Brotgeruch, der magische, unglaubliche Ausmaße annimmt...

Meine Zwischenmeinung ist noch ebenso ambivalent wie die oben genannten verschiedenen Stilrichtungen:confused:
 

Bibliomarie

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Aufgefallen ist mir, dass das ganze Dorf völlig ohne Empathie ist. Hat der Überlebenskampf alle so hart gemacht, dass kein Mitgefühl mehr möglich ist?
Nikola, der behinderte Junge wird gehalten wie Vieh und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auch zur Unterhaltung herhalten muss. So in dem Sinn - schaut euch diesen Schwachkopf an!

In den Hinterzimmern liegen die mumifizierten Alten, damit die Enkel die Rente kassieren können. Hausfrauen ertrinken, weil sie krampfhaft ihre Einkäufe festhalten und durch das Gewicht unter Wasser gezogen werden, genau wie die Markthändler, die ihre Waren umklammern und ertrunken zwischen den Feldfrüchten treiben.

Celeste klammert sich an ihre Schulbücher, sie liest über die gotteslästerlichen Riten der anderen Religionen - es klingt so, als ob sie die Auslöserin dieser alttestamentarischen Bestrafung ist. Ihre Mutter stellt ihr Geschäft auch bei diesem apokalyptischen Wolkenbruch über ihre Tochter. Erst als der letzte Freier sich erleichterte, kümmert sie sich um ihr Kind und um ihr Überleben.

Ich kann hier zustimmen, die Flut hat etwas von einer biblischen Bestrafung an sich. Der Unrat von Borgo Vercchio wird fortgeschwemmt, der Himmel zeigt sich nach dem Wolkenbruch zum ersten Mal klar und voller Sterne. Ein Neuanfang?
Die Anspielungen wie auf das Lamm, und das Brot und ein wenig auch auf Carmela als eine Art Maria Magdalene legt das nah.
 

Bibliomarie

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Überhaupt scheint mir der Autor mit den Namen zu spielen. Domenico, das Sonntagskind, Celeste, die Himmlische und Cristofaro, der Christus trägt (soll das die Leidensfähigkeit darstellen?)

Das ist ein sehr guter Gedanke, ich habe die Namen gar nicht hinterfragt, aber du hast sicher recht, sie sprechen zu uns.
 

Bibliomarie

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Die Geschichte rund um Nicola fand ich absolut schlimm zu lesen - sowas von unmenschlich. Da fehlen mir echt die Worte. Das sagt mir viel über den Umgang mit Behinderten. Auch wenn es überzogen ist, findet sich hier doch ein Körnchen Wahrheit

Ich glaube, wohl mehr als ein Körnchen. Wenn wir nur einige Jahrzehnte zurückgehen, war der Umgang mit Behinderten unmenschlich, sie wurden auch in "Heilanstalten" angekettet wie die Tiere. Hier spielt auch wieder die Zeitlosigkeit des Borgo Vecchio eine Rolle, hier spielt sich - von einigen Kleinigkeiten (Strom, Fernseher etc) abgesehen - das Leben seit ewigen Zeiten unverändert ab.
 

Bibliomarie

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Aber nicht weil da eine mangelnde Bildung in dem Dorf herrscht, sondern ich glaube eher weil sie doch sehr an der katholischen Kirche haften. Von daher auch immer wieder das Bild der Madonna, das ja im Widerspruch zu der Arbeit vom Carmela steht.

Aber ich denke nicht im Sinne von Frömmigkeit, eher glauben sie an eine übergeordnete und zementierte Macht der Kirche, die ja auch immer ein Mittel der Unterdrückung war und vielleicht noch ist. Besonders die katholische Kirche stand immer auf der Seite der Machthaber und war Handlanger im ruhig stellen der Massen.

Carmela stellt sich unter den Schutz der Mantelmuttergottes, einer Frau, die alles kennt und alles verzeiht.