2. Leseabschnitt: S. 89 bis S. 170 (Kapitel 7 bis Kapitel 11)

ulrikerabe

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Es gab in diesem Abschnitt mehrere Stellen, die mich bewegen konnten.

Wie sich Ingwer erinnert, dass sein Schulfreund, der jetzt die Line Dance Gruppe leitet, als Kind geprügelt wurde, und kein Erwachsener hier eingegriffen hätte. Was braucht es wohl in Brinkebüll, um von der Ortsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden!?, denkt Ingwer doch.
In diesem Dorf wird vornehmlich weggesehen. Auch Maretts Schwangerschaft wurde nicht hinterfragt, bei einem Mädchen dass offensichtlich geistig oder psychisch beeinträchtigt ist.

Die Szene, in der Ella ganz allein im Dunkeln Eislaufen geht, hat mich berührt, diese stille und so einsame Frau. ich habe mich gefragt, ob wohl der Lehrer Maretts Vater sein könnte.

Als Ingwer seinem Großvater bei der Körperpflege hilft und nachdenkt, über das Berührtwerden, den tatsächlichen Körperkontakt, über die Menschen, die Jahrzehnte lang nebeneinander leben und nicht miteinander.

Einsamkeit und Isolation, das sind für mich die großen Schlagworte bislang in diesem Buch. Dabei ist es ganz egal ob man am Dorf oder in der Stadt lebt, so wie Ingwer in seiner Dreier WG
 

FrancieNolan

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5. Januar 2019
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Ich frage mich gerade, in wie weit hier die Gefahr besteht, durch das Festmachen am „typischen Dorfleben“ die Zeitebene zu übersehen. Es geht ja auch um eine andere Zeit, und darin „verkrüppelte“ Menschen, körperlich (Krieg, u.a.infolge die „Kuckuckskinder“), aber vor allem natürlich seelisch. Die Autorin hat hier ja schon die besonderen Typen und Schicksale rausgepickt und spielt auch mit unseren Vorurteilen und Klischees.
 

Leseglück

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ich habe mich gefragt, ob wohl der Lehrer Maretts Vater sein könnte.
So habe ich es auch verstanden.

In diesem Abschnitt fand ich besonders die Beschreibung der Altenpflege toll. Das Buch ist echt ein Muss für alle Menschen, die ihre Eltern pflegen. Man kann da echt mit Ingwer mitfühlen.

Es wird auch klarer was Ingwer an seinem Leben stört:
"Es schien auch lange Zeit das Richtige zu sein für ihn, das Ungefähre, Schwebende und nicht ganz Ernstgemeinte zwischen Ragnhild, Claudius und ihm, das nie in Worte gefasst worden war."
Jetzt, im schon fortgeschrittenen Alter scheint ihm das nicht mehr zu genügen. Das für ihn vorgesehene Leben im Dorf als Gastwirt und vielleicht als Ehemann und Vater wollte er nicht. Aber was dann? Das scheint ihm nicht klar zu sein. In der Welt der Studierten fühlt er sich als Hochstabler und Schwindler (meiner Meinung nach zu unrecht).
Auch er hat Dinge nicht beim Namen genannt, auch er bleibt im Schwebenden wie seine Dorfmitbewohner.
Ich bin gespannt ob der Roman in dieser Hinsicht einen Ausweg findet.

Ingwer ist also in dem Glauben aufgewachsen, dass seine Großeltern die Eltern sind und seine Mutter die große Schwester. Auch hier finde ich ganz toll beschrieben, wie er zuerst nur eine Ahnung hatte, dass da was nicht stimmt, dann den ersten Hinweis und die Wahrheit von dem Schreikind Gönke Boysen erfahren hat.
"Sett bloß nix in de Welt"
"Zwischen wahr und nicht wahr gab es eine Menge Luft, in der die Dinge schweben konnten, leicht, fast durchsichtig, solange man nicht sprach von ihnen....es wurde wahrer wenn man es benannte, die Dinge bekamen mehr Gewicht."

Neben den ernsten Stellen gibt es auch immer wieder lustige Stellen. Die Sache mit dem Präsentkorb! Echt witzig!
 

Leseglück

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Ich frage mich gerade, in wie weit hier die Gefahr besteht, durch das Festmachen am „typischen Dorfleben“ die Zeitebene zu übersehen
Meinst du mit Zeitebene die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg,die allgemein von Verdrängung geprägt war? Meinst du, dass man den Roman nicht nur als "Dorfroman" lesen sollte? Das finde ich einen interessanten Gedanken. Im Dorf konzentrieren sich die Probleme, die es überall gibt wie unter einem Brennglas.
 
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ulrikerabe

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Meinst du mit Zeitebene die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg,die allgemein von Verdrängung geprägt war? Meinst du, dass man den Roman nicht nur als "Dorfroman" lesen sollte? Das finde ich einen interessanten Gedanken. Im Dorf konzentrieren sich die Probleme, die es überall gibt wie unter einem Brennglas.
Ich lese das Buch nicht als "Dorfroman" dazu bin ich auch viel zu wenig vertraur mit norddeutschen Gemeinden. Aber alles was in Brinkebüll passiert, passiert doch in allen gesellschaftlichen Strukturen. Im Dorf eben viel konzentrierter.
 

Querleserin

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Wie sich Ingwer erinnert, dass sein Schulfreund, der jetzt die Line Dance Gruppe leitet, als Kind geprügelt wurde, und kein Erwachsener hier eingegriffen hätte. Was braucht es wohl in Brinkebüll, um von der Ortsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden!?, denkt Ingwer doch.
Das hat mich auch bewegt, vor allem die Tatsache, dass niemand eingreift. Man schimpft über den Vater, aber keiner bringt den Mut auf, sich gegen ihn zu stellen - ein Phänomen, wenn jeder jeden kennt? Ist es dann schwerer einzuschreiten?

Die Szene, in der Ella ganz allein im Dunkeln Eislaufen geht, hat mich berührt, diese stille und so einsame Frau. ich habe mich gefragt, ob wohl der Lehrer Maretts Vater sein könnte.

Das habe ich auch gedacht. Wie viel Einsamkeit doch in der Beziehung zwischen Sönke und Ella liegt, unterbrochen nur beim gemeinsamen Walzertanzen - sehr traurige Szene!

Im Dorf eben viel konzentrierter.
Das Dorf erscheint als Mikrokosmos, in dem sich die Probleme bündeln.
 

Literaturhexle

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Ich lese das Buch nicht als "Dorfroman" dazu bin ich auch viel zu wenig vertraur mit norddeutschen Gemeinden. Aber alles was in Brinkebüll passiert, passiert doch in allen gesellschaftlichen Strukturen. Im Dorf eben viel konzentrierter.
Da stimme ich zu. In den Städten lebt man mitunter viel anonymer, keiner kümmert sich um den anderen. Auch im Dorf ist nicht alles schwarz oder weiß...
Ich denke, man muss einen solchen Roman im Dorf ansiedeln einfach weil man dort eine überschaubare Anzahl an Personen versammeln kann, die die Grundproblematik deutlich machen. Dass da manches auch Fiktion und überzogen ist - keine Frage. Das macht den Roman ja aus. Wer will schon von durchschnittlichen Leuten wie dir und mir lesen ;)
So manche Schrullen erkennt man wieder: wie die Schwester von Ragnhild Ingwer und sein Plattdeutsch "vorführt"... Hat das nicht jeder schon erlebt: "Sag doch mal was auf...". Da müssen sich die Betroffenen ja wie Zirkuspferde vorkommen.
 

Literaturhexle

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Ich frage mich gerade, in wie weit hier die Gefahr besteht, durch das Festmachen am „typischen Dorfleben“ die Zeitebene zu übersehen.
Da hast du natürlich recht. Ingwer müsste Anfang der 70er Jahre geboren sein. Da hinein fällt auch die Flurbereinigung. Das waren noch andere Zeiten, da haben selbst wir noch die Milch in Kannen beim Bauern geholt. Kinder wurden noch geschlagen, die Großeltern- und Elterngeneration war noch kriegsgeschädigt...
Das muss man berücksichtigen. Mit Sicherheit sind auch die norddeutschen Dorfmenschen heute aufgeschlossener und mobiler. Das gilt auch für die Bildung, Biografien sind heutzutage nicht mehr in dem Maße festgeschrieben, Universitäten breiter zugänglich.
 

Renie

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Die Szene, in der Ella ganz allein im Dunkeln Eislaufen geht, hat mich berührt, diese stille und so einsame Frau
Das war für mich ein ganz magischer Moment. Ella gönnt sich eine Auszeit von ihrem Alltag und genießt die Stille und ihre Unbeschwertheit, die sie ja sonst nicht zeigt. Das hat mich berührt.
 

Renie

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Ich habe mich immer gefragt, wie sich die Handlung entwickeln wird. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass Ingwer auf der Suche nach seinem Ich ist und dafür sein Sabattjahr nutzt. Ich finde es rührend, wie er sich um die beiden Alten kümmert. Ingwer ist ständig daran gelegen, dass es ihnen gut geht. Er richtet sich nach Söhnkes Gewohnheiten und versucht, Ella ihr dementes Leben so komfortabel wie nur möglich zu gestalten. Alle Achtung, welche Geduld er dabei an den Tag legt!

Mittlerweile frage ich mich auch, was aus Marrett geworden ist. Habe ich da etwas überlesen? Ich habe bis jetzt noch keine Hinweise darauf gefunden. Sie ist zwar in den Erinnerungen präsent, aber nicht in der Gegenwart.

Und immer noch entdecke ich viele Dinge aus meiner Kindheit. Es macht ungeheuer viel Spaß, in den Erinnerungen zu kramen und darüber nachzudenken, was damals wichtig war. Mir ist z. B. auch immer eingeimpft worden, zu grüßen. Das ging sogar so weit, dass man sich bei unseren Eltern beschwert hat, wenn wir Kinder mal nicht gegrüßt haben (weil wir im Spiel versunken waren).
Oder auf gar keinen Fall gekauften Kuchen servieren, wenn man zum Kaffeetrinken eingeladen hat. Falls es doch gekauften Kuchen gab, wurde der vorher noch "präpariert", damit er nicht so perfekt aussah.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Und immer noch entdecke ich viele Dinge aus meiner Kindheit. Es macht ungeheuer viel Spaß, in den Erinnerungen zu kramen und darüber nachzudenken, was damals wichtig war.
Genau so ergeht es mir auch! Da ist Norddeutschland gar nicht so viel anders als West-oder Mitteldeutschland in unseren Fällen... Mit der Grüßerei hatten sie es überall :D

Marret habe ich auch schon vermisst. Das wird bestimmt noch aufgelöst.

Ingwer war in diesem Abschnitt die Hauptperson. Er sieht sein Leben relativ klar, aber auch kritisch.
Diesen spießigen Präsentkorb finde ich zum Piepen! Ich hoffe, er wird standhaft bleiben und wirklich nicht den Küchenjungen für Ragnhilds Geburtstag geben...
 

Querleserin

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Mittlerweile frage ich mich auch, was aus Marrett geworden ist. Habe ich da etwas überlesen?
Das habe ich mich auch schon gefragt. Sie ist zumindest nicht mehr im Gasthof.
Ingwer scheint jedenfalls seine Auszeit zu nutzen, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergeht. Dass er sich selbst nicht als Wissenschaftler sieht, scheint eine Folge der Verachtung Sönkes für sein Studium zu sein. Das hat er noch nicht abgeschüttelt.
Traurig fand ich auch, dass Ella Marrett nicht helfen konnte- warum ist sie so in sich gekehrt?
 

wal.li

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Die Erzählung vom Winter erinnert mich sehr an diesen Winter 1978/79, da lief die Welt auch anders und mein Vater hat das Auto nicht mehr aus der Garage (im Keller) bekommen, weil die Einfahrt zugeweht war. Von der Logik her, hätte ich gemeint, im Buch müsste das früher sein.

Was mit Marret ist, habe ich mich auch schon gefragt. Vor allem wann sie zu Marret Untergang wurde und ob sie noch lebt oder wo sie abgeblieben ist. Dass Ingwers Entstehung irgendwie mit der Flurbereinigung zusammenhängt, habe ich auch schon gedacht. Nach meinem Empfinden hätte sich keiner der Dorfbewohner über Marret hergemacht.

Flurbereinigungen gab und gibt es wohl immer wieder, so dass man da nicht auf eine genaue Zeit schließen kann.

Als Marret das mit der Schwangerschaft versteht, habe ich sie beinahe schreien gehört.

Das Kapitel, in dem beschrieben wird, wie Ingwer seine Eltern pflegt, hat mich sehr berührt. Ich könnte mir vorstellen, dass das sehr nahe an der Wahrheit liegt. Zwar wollen alle alt werden, aber wie Jackie Fuchsberger schon sagte, das ist nichts für Feiglinge.
 

Momo

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Es gab in diesem Abschnitt mehrere Stellen, die mich bewegen konnten.

Wie sich Ingwer erinnert, dass sein Schulfreund, der jetzt die Line Dance Gruppe leitet, als Kind geprügelt wurde, und kein Erwachsener hier eingegriffen hätte. Was braucht es wohl in Brinkebüll, um von der Ortsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden!?, denkt Ingwer doch.
In diesem Dorf wird vornehmlich weggesehen. Auch Maretts Schwangerschaft wurde nicht hinterfragt, bei einem Mädchen dass offensichtlich geistig oder psychisch beeinträchtigt ist.

Die Szene, in der Ella ganz allein im Dunkeln Eislaufen geht, hat mich berührt, diese stille und so einsame Frau. ich habe mich gefragt, ob wohl der Lehrer Maretts Vater sein könnte.

Ich war hier ein wenig betriebsblind, nach dem ich mich mit einer Freundin aus diesem Forum über WhatsApp ausgetauscht hatte, weil mein Augenmerk ständig auf Ingwer gelenkt war, ich mich permament gefragt habe, wer der Vater sein könnte?

Dass Marret schwanger wurde, woher wusste sie, dass sie ein Kind erwartet? Damals wurden die jungen Leute sexuell nicht aufgeklärt und Marret ist geistig eingeschränkt, sie hätte es am wenigsten ahnen oder wissen können ...

Ella schafft ein Anatomielxikon aus der Schulbiblithek bei, in dem der menschliche Körper abgebildet wird. Hier erfährt Marrit, wie und aus welchem Körperteil das Kind geboren wird. Sie dreht fast durch, weil sie sich nicht vorstellen kann, dass ein so großer Körper aus ihrem Unterleib passen könnte ...

Der zweite Unfall, dass Marrit sich sämtliche Knochen gebrochen hat, um das Kind zu verlieren, aber das Baby im Mutterleib trotzdem unversehrt geblieben ist. Gibt es das?
 
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Momo

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Ich lese das Buch nicht als "Dorfroman" dazu bin ich auch viel zu wenig vertraur mit norddeutschen Gemeinden. Aber alles was in Brinkebüll passiert, passiert doch in allen gesellschaftlichen Strukturen. Im Dorf eben viel konzentrierter.

In meiner Arbeit mit psychisch kranken Menschen kann ich das nur bestätigen. Eine Frau, Anfang 50, hat eine Tochter, die von ihren Eltern aufgrund ihrer psychischen Erkrankung adoptiert wurde, sodass die eigentliche Mutter hier wie im Roman die ältere Schwester war. Irgendwann wurde aber diese Tochter, Enkelin aufgeklärt. Mich hatte das lange beschäftigt. Deshalb ist es mir hier auch nicht neu.
 

Momo

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Mich stimmt Ingwer ein wenig nachdenklich und traurig, dass auch er innerlich gegenüber seiner Familie einsam ist, weil er anders ist. Er kommt auf das Gymnasium, sein gesamter Werdegang ist besonders für Sönke ein Rätsel. Er hätte sich gewünscht, dass der Junge mal in seine Fussstapfen tritt. Ohne es zu wollen, hat Ingwer seinen Ziehvater enttäuscht. Ingwer schlägt ein völlig anderes Leben ein. Er studiert, dadurch verlässt er Brinkebüll, gründet in Kiel eine Dreier-WG, und hängt noch einen Doktortitel dran. Damit kann Sönke gar nichts anfangen. Ingwer wird ihm fremd.

[zitat]Sönke kannte Claudius und Ragnhild, sie waren beide in Brinkebüll gewesen, aber das Kieler Leben hatte ihn nie interessiert. Wie diese drei miteinander hausten, ging ihn ja nichts an, das wollte man auch lieber gar nicht wissen. Er schien sich aber sinst was auszumalen, eine Frau, zwei Männer, Orgien wahrscheinlich, Kraut und Rüben, großes Kuddelmuddel, (170)[/zitat]

Ich glaube eher, dass das Fantasien sind. Viele Menschen machen sich Gedanken über das Andersleben eines anderen Menschen und versuchen sich vorzustellen, wie sie sexuell fubktionieren.

Ingwer jedenfalls hat die Zuwendung seiner Familie eingebüßt, als er sich für ein komplett anderes Leben entschieden hatte.
 

FrancieNolan

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Meinst du mit Zeitebene die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg,die allgemein von Verdrängung geprägt war? Meinst du, dass man den Roman nicht nur als "Dorfroman" lesen sollte? Das finde ich einen interessanten Gedanken. Im Dorf konzentrieren sich die Probleme, die es überall gibt wie unter einem Brennglas.

Ja, das war mein Gedanke.
 

Momo

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Zusätzlich hat mich traurig gestimmt, als Ella mit Sönke einen Walzer tanzt.

[zitat]Sie schienen die Musik zu brauchen, um ein Paar zu sein, sie war ein Seil, das sie zusammenhielt. Langsamer Wälzer hielt am besten. 123[/zitat]

Ich glaube, dass Ella einen großen Preis zahlt, dass sie mit Sönke verheiratet bleibt. Mittlerweile glaube ich, dass sie sich nach einem anderen Mann sehnt. Sönke wirkte nicht gerade einfühlsam, auf mich wirkte er recht hart, aber sein Leben, das er sich auch nicht selbst ausgesucht hat, fordert auch einiges von ihm ab. Auch Sönke hat seine Träume und Sehnsüchte und mit der Schnulz bzw. mit der Schlagermusik hielten diese Menschen ihre Träume auf künstliche Art aufrecht. Füreinander dazuzusein, sich innig liebend ...

[zitat]Sönke ging noch einmal zur Musikbox, wählte Heidi Brühl. Wir wollen niemals auseinandergehn, wir wollen immer zueinander stehn ... Sie tanzten, hielten sich so wie ein Paar, und waren trotzdem froh, als später Hanni Thomson an die Fensterscheibe klopfte. Halb betrunken und so einsam, dass er Heiligabend mit dem Mofa in die Kneipe fahren musste, weil er es allein nicht aushielt.[/zitat]

Hier scheint jeder eine einsame Insel zu sein. Nicht nur die Feddersen empfinden eine kollektive Einsamkeit.
 

FrancieNolan

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Da hast du natürlich recht. Ingwer müsste Anfang der 70er Jahre geboren sein. Da hinein fällt auch die Flurbereinigung. Das waren noch andere Zeiten, da haben selbst wir noch die Milch in Kannen beim Bauern geholt. Kinder wurden noch geschlagen, die Großeltern- und Elterngeneration war noch kriegsgeschädigt...
Das muss man berücksichtigen. Mit Sicherheit sind auch die norddeutschen Dorfmenschen heute aufgeschlossener und mobiler. Das gilt auch für die Bildung, Biografien sind heutzutage nicht mehr in dem Maße festgeschrieben, Universitäten breiter zugänglich.

Eben. Und nicht nur die Provinz hat sich verändert, im Guten wie im Schlechten - wenn ich an die WG denke, ist da ein ganz anderes Zusammenleben gemeint wie in den WGs heute, die meistens Zweckgemeinschaften sind, mit „alternativen Lebensformen“ höchstens im Generationenmodell. Hier muss man das Zeitfenster auch beachten, um Ingwer zu verstehen, finde ich.

Mir gefällt das außerordentlich, was alles in dieserGeschichte drin steckt...dass es eben verschiedene Ebenen gibt, um die es geht, eigentlich sind ja alle Beziehungsebenen abgebildet, die es so gibt, Eltern-Kind (später umgekehrt), Mann-Frau (über verschiedene Generationen und Beziehungsmodelle), dazu Lehrer-Schüler, Pflegebeziehungen...und verschiedene Umwelten und Umwelteinflüsse, die Land und Menschen prägen, angefangen von der Kneipe als „Sozialraum“, Schule, Kirche, über die fremden Flurbereiniger, die Zugezogenen, und dann Ingwers Stadtwelt, die ganz anders ist, aber für ihn ist auch dort alles geprägt durch seine Herkunft als Landkind. Die Szene mit Ragnhilds Schwester fand ich auch sooo köstlich, diese Selbstinzenierung als „Landversteherin“, zum K...eigentlich, und jeder kennt sie;-), ja, wirklich, sogar in Details viel Universelles.
 
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