Zirkuskind von John Irving

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Zirkuskind (detebe, Band 22966) von John Irving
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@Querleserin ist eine große Freundin des Autors John Irving und hat gerade in letzter Zeit einige seiner Werke mit Freude gelesen.

@Literaturhexle hat einst das Zirkuskind bei Erscheinen (1996) mit Begeisterung gelesen, neuere Werke jedoch wegen "Langeweile" abgebrochen...

So hat es sich ergeben, dass wir beide uns zu dieser kleinen Leserunde verabredet haben, die bestimmt eine Weile dauern wird wegen der vielen neuen Lesetermine. Falls noch jemand einsteigen möchte: Ihr seid herzlich eingeladen!
@MRO1975 @Sylli @Leseglück @Anjuta @Sassenach123 ......
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Zirkuskind (Originaltitel: A Son of the Circus) ist der 1995 erschienene, achte Roman von John Irving, übersetzt von Irene Rumler.

Der aus Indien stammende und in Kanada lebende Arzt Dr. Daruwalla verbringt regelmäßig einige Monate in Bombay, um dort in einer Klinik für verkrüppelte Kinder zu operieren und nach dem Zwergen-Gen – einem genetischen Marker für Zwergwüchsigkeit – zu suchen. Die Handlung setzt mit der Auffindung einer Leiche auf dem Golfplatz des von Dr. Daruwalla bevorzugten Clubs ein. Der Doktor wird in die Ermittlungen hineingezogen.

Theoretisch ist Zirkuskind ein Kriminalroman, die Haupthandlung wird jedoch von mehreren teilweise gleichberechtigten Subplots begleitet. Der jesuitische Zwillingsbruder des mit Dr. Daruwalla befreundeten Schauspielers John D. besucht erstmals Indien und zwei Straßenkinder sollen in einem Zirkus untergebracht werden.

Für Irving typische Elemente wie groteske Szenen, sexuelle Freizügigkeit und ein Ensemble aus skurrilen Nebenfiguren sind auch in Zirkuskind zu finden. Die in der Gegenwart voranschreitende Story wird immer wieder von Rückblenden in Form von Erinnerungen der Personen unterbrochen.
(Quelle: Wikipedia)
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 100
Als ich das Buch zum ersten Mal las, war ich Mitte 20 und fand es einfach super. Der Zufall (Hauptvorschlagsband beim Bertelsmann) hatte es mir in die Hände gespielt. Der Autor sagte mir NICHTS (unvorstellbar aus heutiger Sicht). Nun bin ich ganz gespannt, wie es mir heute damit geht.

Die ersten 100 Seiten waren sehr kurzweilig. Man lernt den Arzt Daruwalla kennen, der gerne in indische Zirkusse geht. Unter anderem forscht er an der Ursache für Zwergwuchs, weshalb er Blutproben der Zwergwüchsigen sammelt, die oft in den Zirkussen arbeiten. Die Arbeitsbedingungen sind hart.

Auf dem Golfplatz, der zu Daruwallas Club gehört, wird eine Leiche am 9. Loch gefunden, die Geier haben das angezeigt.

Im Club ist auch der berühmte, aber unbeliebte Schauspieler John Dhar zu Gast. Er spielt den Inspektor in einer Dauer-Krimiserie, für die Daruwalla bezeichnenderweise das Drehbuch schreibt. In Kürze soll Dhars Zwillingsbruder nach Bombay kommen, den er noch nie gesehen hat...

Die einzelnen Szenen, die Irving beschreibt, sind skurril. Man bekommt aber schnell eine Beziehung zu den Figuren. Die Zirkuswelt ist alles andere als weichgespült und gefällt mir sehr gut. Von Langeweile merke ich noch nichts!
 

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Ursache für Zwergwuchs, weshalb er Blutproben der Zwergwüchsigen sammelt, die oft in den Zirkussen arbeiten.

Das finde ich typisch für Irving, diese skurrile Idee einen Marker in den Genen gerade für den Zwergenwuchs zu finden. Das zeigt seine Vorliebe außergewöhnliche Phänomene. In der "Vierten Hand" ging es um das Ersetzen verlorenen Hand durch eine gespendete Hand. Natürlich wurde die Hand in einem Zirkus von einem Löwen abgebissen - die Vorliebe für die Zirkuswelt durchzieht Irvings Werk leitmotivisch - auch in Straße der Wunder spielt jener eine große Rolle.

Er spielt den Kommissar in einer Dauerserie, für die Daruwalla bezeichnenderweise das Drehbuch schreibt. In Kürze soll Dhars Zwillingsbruder nach Bombay kommen, den er noch nie gesehen hat...
Neben dem Mordfall ist auch die wahre Identität Dhars, die anscheinend nur Daruwalla wirklich kennt, eine spannende Frage. Wer ist jener Schauspieler, der immer eine Rolle zu spielen scheint und der genau wie Daruwalla in Indien nicht heimisch ist, wirklich. Daruwallas Vater wurde früher im ehrwürdigen Club Duckworth, in dem das Geschehen bisher überwiegend spielt, mit einem hellhäutigen Jungen gesehen, den er als seinen Enkel ausgegeben hat. Wer ist Dhar? Eine Frage, die hoffentlich noch beantwortet wird, ebenso wie die Fragen, warum Mr. Lal für ihn sterben musste. Denn der Tote hatte einen Geldschein im Mund, auf dem stand, dass noch mehr Mitglieder sterben, wenn Dhar den Club nicht verlässen werde.
Dhars Filme, in denen er einen arroganten Polizeiinspektor spielt, stoßen trotz ihres Erfolges auf großen Widerstand - in der Polizei, die als korrupt dargestellt wird und in Kreisen der Unterwelt.
Im letzten Filmstand ein hijras im im Mittelpunkt, das sind kastrierte Transvestiten...
Die Freude, sexuelle "Andersartigkeit", ausführlich darzustellen, ohne diese zu verurteilen, ist für mich ebenfalls typisch für Irving.

Seite 150
Der erste größere Rückblick durchbricht die Handlung. Der allwissende Erzähler, der kommentierend in die Handlung eingreift, warnt uns davor, dass sich
"die Vergangenheit bereits unliebsam in diese Erzählung hineingedrängt" (141) hat ;)

Wir erfahren, dass Daruwalla im Alter von 17 Jahren (1947) zum Studium nach Wien geschickt wurde, wo sich bereits sein älterer Bruder aufhält, der Psychiater wird. Im besetzten Wien werden sie mit Vorurteilen konfrontiert, allerdings auch als Übersetzer "gebraucht". Daruwalla "verpasst" die indische Unabhängigkeit und erzählt zuvor, warum er seinen Vater, der alles Religöse ablehnt und diskreditiert, verachtet, obwohl dieser die Klinik für Verkrüppelte Kinder aufgebaut hat und Daruwalla zumindest beruflich in seine Fußstapfen tritt. Die Pauschalität, mit der sein Vater "Schmutz" über alle Religionen gießt und seine Verachtung für Ghandi sorgen dafür, dass sich Daruwalla in Indien nicht mehr wohlfühlt, dort keine Heimat mehr finden wird - und sie sorgen dafür, dass der alte Daruwalla einer Autobombe zum Opfer fällt.
 

Querleserin

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Seite 250
Das Geheimnis um Inspektor Dhar ist gelüftet. Er ist tatsächlich der Sohn einer amerikanischen Schauspielerin, aber keiner guten ;)
Im Jahr 1949, zu dem Zeitpunkt, als Daruwalla seine Familie besucht, wurde in Bombay ein zweitklassiger Film abgedreht. Die Filmgesellschaft verkehrt im Duckworth-Club und Daruwalla Senior verehrt diese, obwohl der Drehbuchautor alkoholkrank ist, der Regisseur offenkundig keine Ahnung hat und die Schauspieler zweitklassig. Der Drehbuchautor ist wahrscheinlich auch Inspektor Dhars Vater oder der männliche Hauptdarsteller, mit dem Dhars Mutter ebenfalls im Bett gewesen ist. Sie wird von Daruwallas Familie umsorgt und bringt Zwillinge zur Welt. Einen der beiden behält sie - eine Verhaltensweise, die nur sehr schwer nachvollziehbar ist. Das ist derjenige, der jetzt in Bombay auftaucht und von dessen Existenz Daruwalla Dhar in Kenntnis setzen wollte, bevor der Mord geschehen ist.
Dhar wurde von Daruwallas Vater adoptiert und hat den größten Teil seines Lebens in Zürich bei Daruwallas älterem Bruder, aber auch bei Daruwalla selbst verbracht. Sie sind also quasi Brüder, daher die enge Verbindung. Die Liebe bzw. die Affinität zum Film und der Schauspielerei sind auch Elemente, die in einigen Irving Romanen eine Rolle spielen. In

Buchinformationen und Rezensionen zu Bis ich dich finde (detebe) von John Irving
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ist der Protagonist Filmschauspieler und in

ist er während seiner Schulzeit in der Theatergruppe.

Wie ich schon im letzten Beitrag erwähnt habe, finde ich interessant, dass Irving seinen Leitmotiven treu bleibt.
 

Literaturhexle

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Wie ich schon im letzten Beitrag erwähnt habe, finde ich interessant, dass Irving seinen Leitmotiven treu bleibt.
Das kann ich zwar noch nicht aus eigener Erfahrung bestätigen, jedoch habe ich es schon oft gehört/gelesen.

Deiner inhaltlichen Zusammenfassung ist nichts hinzuzufügen, du machst das einmalig gut ;)
In diesem Roman erscheint mir das wieder sehr hilfreich zu sein, weil der Autor viele Sprünge in seine Handlung einbaut. Er stellt relativ viele Personen mit ihren Eigenheiten und Gedanken vor, er lässt die Protagonisten in die Vergangenheit abdriften...
An diesem Buch sollte man dranbleiben können, damit sich Inhalte nicht verlieren.

Interessant finde Ich, dass Irving Indien mit seinen Religionen, Slums, seinem Kastenwesen relativ gut beschreibt, im Vorwort aber darauf hinweist, nur einmal für wenige Wochen dort gewesen zu sein. Seine kleinen eingefügten Nebenhandlungen (die z.T. überflüssig erscheinen) sind schon skurril, womit ich offensichtlich mit zunehmendem Alter meine Schwierigkeiten habe...
Interessiert lese ich weiter, bestimmt bist du längst an mir vorbei gezogen. Aber das macht nichts! Freue mich auf deinen nächsten Zwischenstand :).
 

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S.430:
Die Handlungslinien sind wirklich verworren, das geht nicht nur dir so, liebe @Literaturhexle.

Die Erinnerungen an seine Jugend, an seinen Vater und an John Daruwalla alias Inspector Dhar finden alle im Duckworth-Club statt.

Im Eingang zum Club kommt es noch zu einer skurrilen Begegnung, die im weiteren Handlungsverlauf eine Rolle spielt. Farrokh stößt mit der zweiten Mrs. Dogar zusammen und ist überrascht, dass er hinfällt, während die Dame stehen bleibt und ihm empfindlich die Rippen prellt. Sie scheint einen stahlharten Brustkorb zu haben.

Zuhause angekommen befindet sich John im Gespräch mit Julia auf dem Balkon, währenddessen hört Farrokh seinen Anrufbeantworter ab. Anhand der Nachrichten entfächern sich weitere Erinnerung und Handlungsfäden...
Es geht um den neuen Inspector Dhar Film, der aktuelle sorgt für Furore, da er anscheinend einem Mörder als Vorbild dient. Jener malt das gleiche Bild auf den Bauch der ermordeten Prostituierten, wie es im Film zu sehen war. Fakt ist, dass Farrokh dieses Motiv aus einem lange zurückliegenden Fall entlehnt hat. Also ist der aktuelle Mörder auch der Mörder der damaligen Frauenleiche - jetzt presche ich voraus.
Ein Anruf bringt ihn besonders aus der Fassung, die Frau am Telefon sagt ihm, er solle dem Inspector Patel, also der, der den Mordfall an Mr Lal untersucht, gestehen, wer er wirklich ist - der Drehbuchschreiber der Filme.
Die Handlung springt 20 Jahre zurück, als Farrokh gemeinsam mit Julia und seinen drei Töchtern sowie John D., damals 19 Jahre, Goa besucht. Es sind die 2.Flitterwochen - die Nebenhandlung, dass die beiden ihr sexuelles Verlangen aufgrund einer Lektüre entdecken, wird auch noch eingeschoben ;) - und Farrokh behandelt eine völlig verdreckte, augenscheinliche Hippie-Frau, die in eine Glasscherbe getreten ist, in seinem Hotelzimmer.
Diese liegt zunächst in der Badewanne, um sich zu säubern und erinnert sich nun ihrerseits daran, wie sie an diesen Ort gekommen ist. Rückblick im Rückblick - da muss man wirklich den Überblick behalten.
Nancy ist eine junge Amerikanerin, die ungewollt schwanger in den USA hat abtreiben müssen und ihre Familie verlässt. In Frankfurt gerät sie an einen Drogendealer, der sie als Kurierin nach Indien mitnimmt und sie ausnutzt. Sie suchen in Indien einen gewissen Rahul, es ist jener unbehaarter Neffe der alten Promila, die als einzige die Wahrheit über John D. kennt.
Rahul ermordert Dieter und eine Freundin, Nancy bleibt verschont, versteckt aber die Leichen, weil sie Angst unter Verdacht zu geraten. Vorher hat sie schon die Bekanntschaft mit dem jungen Inspector Patel gemacht...ein übergroßer Dildo spielt in dem ganzen Verwirrspiel auch eine Rolle.
Jedenfalls hat Rahul die Leiche der jungen Frau, die Nancy verbuddelt, mit eben jenem Bild - einem Elefanten - versehen, dass auch die Prostituierten ziert. Das Bild hat auch Nancy gesehen, der bewusst wird, nachdem sie die Inspector Dhar-Filme gesehen hat, dass Doktor Daruwalla die Leiche gesehen haben muss und sich von dem Elefantenbild auf dem Bauch hat inspirieren lassen. Sie will, dass Daruwalla Inspector Patel, mit dem sie inzwischen verheiratet ist, die Wahrheit sagt. Denn schließlich hatte der Tote im Club einen Geldschein im Mund, auf dem stand, weitere werden sterben, solange John Clubmitglied bleibt. Damit ist auch der Drehbuchschreiber bedroht, denn der Mörder muss wissen, dass sich der Drehbuchschreiber hat von dem echten Mord inspirieren lassen...
ganz schön verworren. Achja und natürlich ist die zweite Mrs. Dogar niemand anderer als Rahul, ein Transvestit...
 
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Nach der sehr verworrenen Handlung geht es die nächsten 100 Seiten sehr linear weiter.
Inspektor Dhar alias John D.´s Zwilling - Martin - kommt in Bombay an und wird natürlich mit seinem Bruder verwechselt. Der Hass der kastrierten Eunuchen schlägt ihm aufgrund des letzten Inspector-Films entgegen. Als Jesuit wehrt er sich jedoch nicht gegen die Schläge und das rettet ihn ebenso wie der Vinod, der Zwerg, der ihn findet und zu Daruwalla bringt. Martin gehört zu den religiösen Fanatikern, die sich selbst geißeln - ein Motiv, der religiöse Fanatismus, der auch häufiger in Irving-Romanen anzutreffen ist...
Martin hat eine missionarische Ader und nimmt sich am nächsten Tag gleich einem verkrüppelten bettelnden Kind an. John möchte seinen Bruder vorerst nicht kennen lernen, Farrokh will ihn in der jesuitischen Schule, die er auch selbst besucht hat und für die sich Martin beworben hat, "verstecken".
Derweil hat das Gespräch mit Inspector Patel stattgefunden und Rahul steht als Mörder der Prostituierten und dem 20 Jahre alten zurückliegenden Mord fest. Allerdings weiß niemand, wo er sich aufhält und noch hat Farrokh die Verbindung zum Duckworth -Club nicht hergestellt. Zudem wird er jetzt persönlich bedroht. Warum hasst Rahul den Doktor so sehr?
 
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Literaturhexle

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So, liebe @Querleserin , jetzt bin auch ich an dieser Stelle angekommen! Inhaltlich hast du alles zusammengefasst.

Es ist unfassbar, welches Potpourri an Kuriositäten Irving in seinen Roman packt! Er hat Haupt- und Nebenhandlungen, dazu kommen Rückblicke. Man muss zwar dranbleiben, dennoch ist es nicht allzu schwer, die Fäden in der Hand zu behalten, weil die Handlung trägt, weil die einzelnen Episoden durchaus reizvoll zu lesen sind.
Die Freude, sexuelle "Andersartigkeit", ausführlich darzustellen, ohne diese zu verurteilen, ist für mich ebenfalls typisch für Irving.
Ja! Darüber hatte ich mich schon einmal mit @Momo ausgetauscht, der es in einem Roman einfach zu viel wurde. Mir selbst platzte bei "Garp und wie er die Welt sah" die Lesegeduld, als es mir mit den frühpubertären Sexszenen einfach zuviel wurde.
In diesem Buch kann ich darüber lächeln, weil Irving nicht zu konkret wird und eigenwillige Szenen (Stichwort Dildo) nur andeutet.

Das Schicksal Nancys hat mich sehr bewegt. Das war ja eine Geschichte in der Geschichte. Dass sie jetzt mit dem Inspektor verheiratet ist und die Verhaftung Rahuls betreibt, um sich reinzuwaschen, kann ich nachvollziehen. Der Kriminalfall ist interessant konstruiert.

Martin gehört zu den religiösen Fanatikern, die sich selbst geißeln
Martin ist für mich ein Slapstick! Er ist fanatisch, wirkt wie ein naiver Trottel, will zuviel Gutes und dreht dadurch manches aus dem Ruder. Nun ist er ja im Kloster angekommen. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass er nun hinter den Mauern verschwindet. Bestimmt wird er weiterhin für Unruhe sorgen.

Sehr berührend finde ich die Schilderungen der Armut in Bombay: die bettelnden Kinder, die Kinder-Prostituierten, die Vinot erretten will, indem er sie im Zirkus oder Wetness-Cabaret unterbringt, wo aber teilweise auch lüsterne Männer warten.
Erschütternd sind die Krankheiten, die diese Kinder haben. Nahe liegt der Gedanke, dass es zu mancher Verkrüppelung absichtlich kam, um erfolgreicher und glaubwürdiger betteln zu können. Schauderhaft! Dr. Daruwalla versucht zu helfen, wo er kann. Ein sehr sympathischer Protagonist.

Irving vermischt das skurril-lustige mit dem abnormal-tragischen. Er hat einen ganz eigenen Stil. Obwohl ich diesen Roman durchaus mit Genuss lese (und er jetzt thematisch auch zu unserer Leserunde zum "Buch der vergessenen Artisten" passt), glaube ich nicht, dass Irving zu einem meiner Lieblingsautoren mutieren wird. Er ist mal ganz nett, aber auf Dauer nichts ;)
 
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Ich möchte im nächsten Jahr meine vielen Irving's lesen, die noch in meinem Regal ungelesen stehen. Dann werde ich mich auch entscheiden, ob ich weitere von ihm lesen werde oder ob ich es lieber sein lasse.

Eure Besprechung habe ich mit großem Interesse verfolgt. Aber mit diesem Irving lasse ich mir dann doch noch lieber Zeit und ziehe die anderen Irving's vor.

Was meinst du, Tina, mit Verurteilen? Wenn man kritisch über Irving's sexuellen Fantasien spricht, ist das ein Verurteilen? Wenn ich an das Buch "Bis ich dich finde" zurück denke, diese Fantasien waren schon sehr exzessiv und arg gekünstelt. War mir definitiv nicht glaubwürdig genug ...
 
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Momo

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Ich bewundere Querleserin aber auch. Ich wünschte, ich könnte auch ein Irving Fan werden. :reader1
 

Querleserin

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In diesem Buch kann ich darüber lächeln, weil Irving nicht zu konkret wird und eigenwillige Szenen (Stichwort Dildo) nur andeutet.
Das stimmt, interessant fand ich allerdings auch die Eunuchen-Transvestiten, die auf die Transvestiten, die nicht kastriert sind, herabschauen. Irving fordert die Leser*innen mit solchen Schilderungen heraus, will aber letztlich zur Toleranz aufrufen, so empfinde ich das zumindest.

Das Schicksal Nancys hat mich sehr bewegt.

Das ging mir genauso, alleine daraus hätte man ein Novelle schreiben können. Diese Vielfalt an Schicksalen und Geschichten fasziniert mich in Irvings Romanen. Darin gleicht er übrigens Haratischwili.

Martin ist für mich ein Slapstick! Er ist fanatisch, wirkt wie ein naiver Trottel, will zuviel Gutes und dreht dadurch manches aus dem Ruder.

Definitiv. Zunächst hatten mich die Geißelwerkzeuge abgeschreckt, dann stellt sich aber heraus, dass er letztlich eine Witzfigur ist, der aber Gutes will, wie du noch weiterhin lesen wirst ;)
Sehr berührend finde ich die Schilderungen der Armut in Bombay:
Berührend und erschreckend. Sie haben kaum eine Chance ihrem Schicksal zu entkommen.

Die Freude, sexuelle "Andersartigkeit", ausführlich darzustellen, ohne diese zu verurteilen, ist für mich ebenfalls typisch für Irving.

@Momo: Ich finde, dass es Irving immer wieder gelingt, sexuelle Andersartigkeit so darzustellen, dass man sie nicht verurteilt. Es ist ja auffällig, dass in seinen Romanen immer wieder Homosexuelle, Transsexuelle, sexuelle Fantasien auftauchen und ich glaube, dass er für Toleranz wirbt. Das heißt nicht, dass er es ab und an übertreibt und die seine männlichen Fantasien etwas zu ausufernd sind ;)

@Literaturhexle: Freue mich, wenn du weiter liest, werde dann deine Eindrücke kommentieren!
 

Momo

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Das denke ich mir, Tina, ich habe nichts gegen die Toleranz von (sexuell) anders gearteten Menschen, aber brauche ich Irving, wenn er in mir diese Toleranz nicht erzeugen kann? Denn in dem Buch, bis ich dich finde, hat er sexuell einfach zu dick aufgetragen. Das darf man doch sagen, oder? Wen soll ich hier schonen, mich oder Irving? Dagegen das Buch "In einer Person" fand ich gut. Mal schauen, welche Juwelen ich in meinem Regal noch finden kann. Aber das Zirkuskind zieht mich nun nach euren Erfahrungen nicht wirklich an und lasse es noch eine Weile liegen.
 

Literaturhexle

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So @Querleserin, ich befinde mich auf der Zielgeraden. Die Kinder sind im Zirkus untergekommen. Sehr emotional der Wunsch des Mädchens, doch wieder nach Bombay zum Säuremann mitgenommen zu werden.
Zuvor wollte sie sich Daruwalla anbieten. Schlimm, dass so ein junges Mädchen keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten Männern gegenüber hat.
Der Elefantenjunge scheint zwar zufrieden zu sein, aber seine Hoffnungen sind sicher auch nicht erfüllbar.
Der Exkurs zum Jesuiten ist immer etwas zäh und irreal in meinen Augen. Aber du deutest ja an, dass er noch eine Rolle spielen wird.

Der Silvesterball ist natürlich sehr spannend gewesen! Die zweite Mrs. Dogar hat es faustdick hinter den Ohren! Die zerbissene Lippe - lach!
Hier kommt auch wieder stark Irvings Wunsch heraus, für andere sexuelle Neigungen zu werben. Es gibt ja nichts, was es in dem Buch nicht gibt ;)

Die Überführung des Täters steht kurz bevor. Da aber noch 150 Seiten zu lesen sind, wird es bestimmt noch Irrungen und Wirrungen geben. Bin gespannt.

Irving packt viel in sein Buch hinein. Viele einzelne Geschichten. Mir fast zuviel. Ich bin älter geworden und werde wohl kein Irving Fan (Ich wiederhole mich). Die Bücher, die hier noch stehen, wandern demnächst ins offene Buchregal :)
 
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Literaturhexle

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Heute morgen nun habe ich die letzten 50 Seiten dieses Werkes endlich gelesen!
Es ist wirklich beeindruckend, welch ein vielseitiges, viele Themen umspannendes Buch Irving da verfasst hat. Man kann den Zirkus, die Zwerge, den Elefantenjungen plastisch vor sich sehen. Es ist ein buntes Buch, aber kein fröhliches. Irving bleibt in seiner Schilderung der Zustände in Bombay erstaunlich realistisch, er bildet das Elend ab, aber auch den schönen Sonnenuntergang... Sein Protagonist Dr Daruwalla ist privilegiert, das weiß er selbst und auch der Leser. Daruwalla möchte das Elend etwas mildern, hat dabei illustre Helfer an der Seite.

Klar geht es auch um Sexualität, um Homosexuelle, Perverse und Transvestitien in unterschiedlichen "Stadien". Irving lebt dieses aber nicht allzu sehr aus, Details bleiben einem erspart ;)
Meines Erachtens kann der Autor so mehr für sexuelle Toleranz werben, als wenn es zu freizügig in seinen Romanen zugeht.

Im Epilog wird das Schicksal einzelner Figuren weitererzählt. Auch hier geht nicht alles gut aus. Am Ende erfahren wir die Bedeutung des Titels "Zirkuskind" in einer weiteren Interpretation, die mir gut gefallen hat.

Ein farbenprächtiger Roman mit einigen Längen/Nebengeschichten, die nicht so packend waren. Insgesamt aber gut zu lesen, wahrscheinlich einer der besten Irvings, wenn man den Kritikern glauben darf. So begeistert wie mit 25 bin ich nicht mehr, aber 4 Sterne hat er auch von mir bestimmt verdient.
Danke @Querleserin für deinen Anstoß, diesen Roman noch einmal zu lesen.
 

Momo

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10. November 2014
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Heute morgen nun habe ich die letzten 50 Seiten dieses Werkes endlich gelesen!
Es ist wirklich beeindruckend, welch ein vielseitiges, viele Themen umspannendes Buch Irving da verfasst hat. Man kann den Zirkus, die Zwerge, den Elefantenjungen plastisch vor sich sehen. Es ist ein buntes Buch, aber kein fröhliches. Irving bleibt in seiner Schilderung der Zustände in Bombay erstaunlich realistisch, er bildet das Elend ab, aber auch den schönen Sonnenuntergang... Sein Protagonist Dr Daruwalla ist privilegiert, das weiß er selbst und auch der Leser. Daruwalla möchte das Elend etwas mildern, hat dabei illustre Helfer an der Seite.

Klar geht es auch um Sexualität, um Homosexuelle, Perverse und Transvestitien in unterschiedlichen "Stadien". Irving lebt dieses aber nicht allzu sehr aus, Details bleiben einem erspart ;)
Meines Erachtens kann der Autor so mehr für sexuelle Toleranz werben, als wenn es zu freizügig in seinen Romanen zugeht.

Im Epilog wird das Schicksal einzelner Figuren weitererzählt. Auch hier geht nicht alles gut aus. Am Ende erfahren wir die Bedeutung des Titels "Zirkuskind" in einer weiteren Interpretation, die mir gut gefallen hat.

Ein farbenprächtiger Roman mit einigen Längen/Nebengeschichten, die nicht so packend waren. Insgesamt aber gut zu lesen, wahrscheinlich einer der besten Irvings, wenn man den Kritikern glauben darf. So begeistert wie mit 25 bin ich nicht mehr, aber 4 Sterne hat er auch von mir bestimmt verdient.
Danke @Querleserin für deinen Anstoß, diesen Roman noch einmal zu lesen.

Aber jetzt hast du mich doch neugierig gemacht. Hätte Lust, ihn zu lesen.
 
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