Rezension Rezension (4/5*) zu Archipel von Inger-Maria Mahlke.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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querleserin.blogspot.com
Eine echte Herausforderung

In den letzten Jahren habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, den Roman, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, zu lesen. Seit ich die Frankfurter Buchmesse besuche, bemühe ich mich, auch mir ein Interview mit dem/der Preisträger*in anzuhören, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Das Interview auf der Frankfurter Buchmesse mit Inger-Maria Mahlke hat mich sehr beeindruckt, so dass ich mich auf den Roman gefreut habe, den ich gemeinsam mit @Momo und @Literaturhexle gelesen habe.

Während die beiden den Roman aus verschiedenen Gründen kritisch sehen und sich damit in guter Gesellschaft befinden, wenn man sich die vielen negativen Rezensionen anschaut, möchte ich in dieser Rezension, eine Lanze für den Roman brechen, der zwar eine Herausforderung darstellt, aber aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht gut komponiert ist.

Statt einer Inhaltszusammenfassung daher ein grober Überblick der Protagonisten und deren Verflechtungen.
Das Bild kann ich leider hier nicht hochladen, es befindet sich auf meinem Blog:
https://querleserin.blogspot.com/2018/12/inger-maria-mahlke-archipel.html

Auf dem Schaubild nicht berücksichtigt sind die politischen Ereignisse, die das Leben der Figuren verändern, berühren und in eine andere Richtung lenken. Oftmals werden sie nur angedeutet, darin liegt die Herausforderung für die Leser*innen, die, wollen sie alles verstehen, recherchieren müssen. Wünschenswert wäre daher, neben der Figurenübersicht zu Beginn des Romans und einem Glossar spanischer Begriffe am Ende, auch ein kurzer geschichtlicher Abriss der Geschichte Teneriffas im 20.Jahrhundert gewesen.

Dadurch, dass der Roman chronologisch in der Zeit zurückgeht, erfahren wir von den Figuren, die zu Beginn sehr viel Raum einnehmen, nichts mehr. Wir erleben Felipe und Ana als junge Erwachsene, als Jugendliche und als Kinder und entfernen uns von ihrem gegenwärtigen Leben, von dem man nichts mehr erfährt, was sehr bedauerlich ist, da man gerne wissen möchte, wie sich die Geschichte weiter entwickelt.
Während die Ereignisse um die Familie Bernadotte im Jahr 2015 - um Ana, Felipe, Rosa sowie ihre Angestellte Eulalia und den Großvater Julio noch recht intensiv erzählt wird, werden die Zeitabschnitte immer kürzer. Es sind Blitzlichter, einzelne Ereignisse und Tage, die geschildert werden und die Aufschluss und Antworten zum Geschehen geben, dass sich in der Zukunft abspielen wird. Das ist einerseits verwirrend und anstrengend beim Lesen - andererseits aber auch reizvoll, gerade weil die übliche Chronologie unterbrochen ist.
Besonders hervorheben möchte ich noch die außergewöhnliche Sprache Mahlkes, die neutral, fast nüchtern die Geschehnisse so detailliert schildert, dass man das Gefühl hat, den Geruch der Insel wahrzunehmen, die Farben zu sehen und die Geräusche zu hören. Sie gewährt nur selten einen tiefen Einblick in das Innenleben der Figuren, beschränkt sich vorwiegend auf die Außensicht, auch in dieser Hinsicht sind die Leser*innen gefordert.

Mein Fazit
Ein intellektueller Roman mit einem hohen Anspruch an seine Leser*innen, der mich aufgrund seiner ungewöhnlichen Erzählchronologie und seiner Figuren - auch wenn man sich notgedrungen von ihnen verabschieden muss - sowie der Verknüpfung von Familien- und politischer Geschichte überzeugt hat.

 

Literaturhexle

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2. April 2017
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49
werden die Zeitabschnitte immer kürzer. Es sind Blitzlichter, einzelne Ereignisse und Tage, die geschildert werden und die Aufschluss und Antworten zum Geschehen geben, dass sich in der Zukunft abspielen wird
Querleserin, es ist so faszinierend, wie gekonnt du die entscheidenden Punkte herausfiltern kannst :rolleyes:
Ich glaube, das ist der Punkt, warum ich relativ spät den Anschluss wieder verloren habe: Die Blitzlichter. Es ging mir zu schnell. Ich hatte die dazu gehörigen Zusammenhänge nicht mehr im Kopf präsent.
außergewöhnliche Sprache Mahlkes, die neutral, fast nüchtern die Geschehnisse so detailliert schildert, dass man das Gefühl hat, den Geruch der Insel wahrzunehmen
Das stimmt unbedingt. Die Sprache hat ihren Reiz.
Ein intellektueller Roman mit einem hohen Anspruch an seine Leser*innen
Für mich ist er eindeutig zu intellektuell gewesen. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Ich fand es nur schade, gerade auf dem letzten Viertel als Leserin verloren zu gehen.

Deine Zusammenfassung ist super! Auch während des Lesens warst du ein stetiger Quell der Erleuchtung und Struktur :)
Ich bin immer froh, wenn du "mit im Boot bist".
 

Querleserin

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Deine Zusammenfassung ist super! Auch während des Lesens warst du ein stetiger Quell der Erleuchtung und Struktur :)
Ich bin immer froh, wenn du "mit im Boot bist".
:oops: zu viel der Ehre! Es hat mir auch Spaß gemacht, mit euch zu lesen. Gerade, wenn man nicht einer Meinung ist, muss man viel mehr über das Gelesene nachdenken und sich darüber klar werden, warum man einen anderen Standpunkt vertritt. Das hat mir sehr geholfen! Im Januar wenden wir uns Fräulein Nette zu, da hat eine aus meinem Lesekreis viel Gutes berichtet und wir liegen meist auf einer Wellenlänge!