1. Leseabschnitt: Anfang bis Seite 40

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Sonst immer eine der Letzten in den Leserunden - heute mal Erste... :)

Sobald das Buch aufgeschlagen wird, erklingt ein Akkord in Moll. Sehr bedrückend, wobei das Schlimmste lt. Klappentext ja noch kommt. Aber dieses Leben in absosuter Abgeschiedenheit... Immerhin hat die Großmutter den beiden viel beigebracht, so auch das Lesen und Schreiben. Ich habe auch von Fällen behinderter Kinder gelesen, die auf Dachböden versteckt vor sich hin vegetieren 'durften' - immerhin hat man sie nicht gleich umgebracht. Ja, auch in Deutschland, noch vor einigen Jahrzehnten...

Die Tagebucheintragungen von Diana und Lina sind eher leise und dennoch intensiv. Zum Teil typische Gedanken und Stimmungsschwankungen Jugendlicher, zum Teil Notizen, die einen guten Einblick bieten in die Situation, für immer an jemand anderen gebunden und niemals allein zu sein. Manchmal aber auch witzig - wenn Lina aufregenden Gedanken und Träumen nachhängt und Diana sich (vermutlich wegen des erhöhten Herzschlags) beschwert, dass sie nicht schlafen kann...

Rostom, der Vater, der bis zu ihrem Tod nichts davon wusste, dass er Kinder hat(te), macht einen fertigen Eindruck. Immer allein, viel Alkohol, nur der Job, für den er überhaupt aufsteht, die Wohnung verwahrlost. Und als er die Leichen sieht, erleidet er - ja, was? Einen Schwächeanfall? Herzanfall? Jedenfalls landet er im Krankenhaus. Und ist seinen Gedanken ausgeliefert, will Medikamente gegen die Erinnerungen. Und doch: "Die Erinnerungen bohrten sich durch die zugemauerten Schichten seines Gedächtnisses wie Grashalme durch den Asphalt." (S. 40). Sprachlich gefällt mir das Buch sehr!
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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@parden hat inhaltlich schon das Wichtigste gesagt. Mir gefällt, dass der Roman aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird und auf verschiedenen Zeitebenen. Der Vater erfährt jetzt erst von der Existenz seiner Kinder und wehrt sich lange dagegen, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Die Tagebucheinträge von Diana und Lina sind ebenfalls sehr unterschiedlich - Diana, eher reflektierend, sachlicher scheint der Schwester intellektuell überlegener, während Lina emotionaler ist. Mir ist noch nicht ganz klar, wie die Mädchen "zusammenhängen" und das meine ich wörtlich. An der Taille zusammengewachsen? Habe ich das richtig verstanden? Es muss schrecklich sein, niemals allein sein zu können - das bringen beide deutlich zum Ausdruck. Wann spielt die Geschichte? Man würde doch erwarten, dass die Kinder im Krankenhaus nach der Geburt medizinische Hilfe erhalten hätten. Stattdessen zieht sie die Großmutter völlig versteckt auf. Was wird geschehen, wenn sie stirbt?
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Wann spielt die Geschichte? Man würde doch erwarten, dass die Kinder im Krankenhaus nach der Geburt medizinische Hilfe erhalten hätten. Stattdessen zieht sie die Großmutter völlig versteckt auf. Was wird geschehen, wenn sie stirbt?

Ich habe mich auch gefragt, wann das Ganze spielt. Ich weiß, ehrlich gesagt, zu wenig über Georgien, um das zeitlich einordnen zu können. Das wäre vielleicht eine Frage an die Autorin.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Die Tagebucheinträge finde ich sehr eindrücklich. Man merkt, wie sehr beide darunter leiden, aneinander gefesselt und so eingesperrt zu sein. Und die Armut macht das Leben zusätzlich schwer. Aber gleichzeitig zeigt sich auch, wie unterschiedlich die zwei in ihrem Charakter und Gemüt sind. Auch haben beide verschiedene Ansichten über ihre Eltern.

Der Großmutter geht es immer schlechter. Kein Wunder also, dass die Schwestern Angst vor der Zukunft haben. Was soll dann aus ihnen werden?

Rostom finde ich total unsympathisch. Er verlässt die Mutter, als sie schwanger ist. Und dann ist es für ihn später abwegig, dass er Kinder hat(te)? Als Akademiker hätte er Möglichkeiten gehabt, die Mutter zu unterstützen, aber er flieht vor der Verantwortung - noch bevor er überhaupt weiß, dass es siamesische Zwillinge sind.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich fühle mich direkt ergriffen. Diana und Lina schildern im Tagebuch ihre Eindrücke, man kann sich kaum vorstellen wie es ist so zu Leben. Die Mädchen versuchen durch das Tagebuch etwas eigenes zu haben, ansonsten gibt es kaum Möglichkeiten sich abzugrenzen, nur in Gedanken. Des Weiteren sind sie körperlich auch eingeschränkt, so dass sie auch oft auf die Hilfe der anderen angewiesen sind. Anschaulich beschrieben durch Lina, als sie versucht allein ihre Bilder aus den Illustrierten auszuschneiden und es nicht gut hinbekommt.
Die Mutter scheint bei der Geburt gestorben zu sein. Zum Glück (?) gibt es die Großmutter. Die beiden wachsen sehr isoliert auf, frage mich, ob es andere Möglichkeiten geben hätte. Hätte die Familie Unterstützung bekommen können, wie ist das in Georgien?
Rostom kommt momentan nicht gut rüber, aber da ich noch nicht viel über ihn erfahren habe, kann das Bild auch täuschen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ein Buch der moll- und leisen Töne, wie @parden zurecht schreibt. Die ganze Stimmung hat etwas Bedrückendes. Man kann sich auch über die "normalen" Gedanken der Jugendlichen nicht freuen, zu viele Stichworte haben in meinen Augen etwas Bedrohliches...

Gleich auf den ersten Seiten erscheint das Wort Zirkus. Dann ist von dem verschollenen Zirkusdirektor die Rede. Leider fiel mir da gleich Ein, dass es Zeiten gab, in denen Behinderte dort "ausgestellt" wurden. Kommt das noch auf uns zu?!

Die Großmutter wird immer kranker, ist nun bettlägerig. Zaza trinkt, ist freundlich, aber unzuverlässig...

Wie wird es weitergehen, wenn die Großmutter stirbt? Das scheint ja absehbar.

Der Vater Random scheint ziemlich heruntergekommen zu sein. Zunächst glaubte ich noch, dass er nichts von seinen Kindern gewusst habe. Letztlich stimmt es aber nicht, er hat es nur verdrängt. Offensichtlich hat er seine Partnerin damals eiskalt hängen lassen, weil sie nicht ins Bild der "ehrenwerten" Familie passte...

Sprachlich ein anspruchsvolles Buch, man muss es langsam lesen. Ein sehr Ernstes Thema, dass das Leben der beiden Schwestern tragisch endet, weiß man auch schon.
Ich brauche jetzt eine Pause.
 

Sassenach123

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Gleich auf den ersten Seiten erscheint das Wort Zirkus. Dann ist von dem verschollenen Zirkusdirektor die Rede. Leider fiel mir da gleich Ein, dass es Zeiten gab, in denen Behinderte dort "ausgestellt" wurden. Kommt das noch auf uns zu?!

Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Großmutter sie versteckt hält. Hat sie Angst davor, dass die Mädchen dieses Schicksal erwartet?
 

Leseglück

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7. Juni 2017
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Mir ist noch nicht ganz klar, wie die Mädchen "zusammenhängen" und das meine ich wörtlich. An der Taille zusammengewachsen? Habe ich das richtig verstanden? Es muss schrecklich sein, niemals allein sein zu

Ich kann mir die Körper der beiden Schwestern auch noch nicht ganz vorstellen. Da sie Hosen und Röcke nicht verändern müssen, glaube ich, dass sie sich bis zur Hüfte einen Körper teilen. Dann müsste der Oberkörper doppelt sein, aber nur ein Arm rechts und links?

Ich bin ehrlich, für mich ist es eine Überwindung mich in das Seelenleben der Mädchen rein zu denken. Ich fürchte, dass ich zu sehr mitleiden könnte. Die Tagebucheintragungen der beiden Schwestern wirken auf mich authentisch. Lindas Berichte beruhigen mich, denn ich lese ja, dass sie ihr Leben genießt, trotz aller negativen Umstände.

Was würde heute in Deutschland passieren, wenn ein solches Zwillingspaar zur Welt kommt. So weit es geht würde man siamesische Zwillinge operativ trennen. Das scheint aber bei diesen Schwestern nicht möglich zu sein, sie haben ja nur einen Unterkörper. Aber es gäbe bestimmt viel Hilfe, finanzieller und psychologischer Art.
Ich könnte mir denken, dass das in Georgien noch ganz anders ist, auch heutzutage.
Da die Kinder von der Großmutter versteckt werden, vermute ich, dass die Scham, behinderte Kinder zu haben noch sehr groß ist. Die Großmutter hat auch Angst um die Kinder, sie warnt sie vor Ärzten?
Warum? Weil sie vielleicht in ein Heim gesteckt werden würden?

Gleich auf den ersten Seiten erscheint das Wort Zirkus. Dann ist von dem verschollenen Zirkusdirektor die Rede. Leider fiel mir da gleich Ein, dass es Zeiten gab, in denen Behinderte dort "ausgestellt" wurden. Kommt das noch auf uns zu?!

Das habe ich auch gedacht. In den Nachrichten die Meldung dass der Staatszirkus geschlossen wurde (auf der ersten Seite) und dann die Zeitungsnachricht: "Monster oder Sklaven des 21. Jahrhunderts? Zirkusdirektor wegen Ausbeutung gesucht."
Mit den Monstern oder Sklaven könnten die beiden Mädchen gemeint sein.
Hier haben wir auch einen Hinweis auf die Zeit, in der der Roman spielt: im 21. Jahrhundert. Ich denke er spielt in der Gegenwart.
 

parden

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13. April 2014
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In den Nachrichten die Meldung dass der Staatszirkus geschlossen wurde (auf der ersten Seite) und dann die Zeitungsnachricht: "Monster oder Sklaven des 21. Jahrhunderts? Zirkusdirektor wegen Ausbeutung gesucht." Mit den Monstern oder Sklaven könnten die beiden Mädchen gemeint sein. Hier haben wir auch einen Hinweis auf die Zeit, in der der Roman spielt: im 21. Jahrhundert. Ich denke er spielt in der Gegenwart.
Guter Hinweis, es wirkt nur so wie 'von früher'... Aber vielleicht sind in Georgien die Zustände tatsächlich noch so? Wenn ja, dann verstehe ich auch die Warnung vor den Ärzten. Wer soll die Zwillinge jetzt noch schützen - vor unliebsamen Untersuchungen und vor Experimenten? Wenn die Ärzte nun entscheiden, eine der beiden 'wegzuoperieren', damit die andere leben kann? Oder eine darf vollständig leben, die andere ohne Beine? Und das sind noch die besten Optionen, die mir einfallen...
 

Querleserin

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Guter Hinweis, es wirkt nur so wie 'von früher'... Aber vielleicht sind in Georgien die Zustände tatsächlich noch so? Wenn ja, dann verstehe ich auch die Warnung vor den Ärzten. Wer soll die Zwillinge jetzt noch schützen - vor unliebsamen Untersuchungen und vor Experimenten? Wenn die Ärzte nun entscheiden, eine der beiden 'wegzuoperieren', damit die andere leben kann? Oder eine darf vollständig leben, die andere ohne Beine? Und das sind noch die besten Optionen, die mir einfallen...
Es ist wirklich unvorstellbar, dass der Roman tatsächlich in der Gegenwart spielt. Aber die Zeitangabe ist ja eindeutig, das hatte ich auch überlesen. Danke @parden.
 

Momo

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Das Buch ist ja schon auf den ersten Seiten heftig. Es berührt mich tief, die Traurigkeit dieser Mädchen, ihr Leben im Verborgenen zu leben. Intelligente Mädchen, die sich fragen, warum sie auf der Welt sind. Das Tagebuch als eine Form, ihre Existenz unter Beweis zu stellen, auch, wenn sie mal nicht mehr sind.

Ich muss eure Beiträge noch lesen. Hole ich nach, sobald ich die vierzig Seiten durchhabe.
 
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Anjuta

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Wegen schiefgelaufener Terminplanung habe ich mit der Lektüre verspätet begonnen und melde mich erst jetzt zu Teil 1.
Was hat mich dabei bewegt? So Einiges!
Ich stellte mir beim Lesen immer mehr die Frage: Wann hätte ich es begriffen? Ohne das Vorwissen, dass es in dem Buch um siamesische Zwillinge geht. Wäre ich wirklich auf diese Idee gekommen? Hätte ich die vorhandenen kleinen Hinweise in diese Richtung gedeutet? Oder wäre mir diese Idee so sehr abwegig und fernliegend erschienen und wäre komplett an mir vorbei gegangen? Was denkt ihr?
 
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Oder wäre mir diese Idee so sehr abwegig und fernliegend erschienen und wäre komplett an mir vorbei gegangen? Was denkt ihr?
Ich glaube, nach einer Zeit des Lesens käme man vielleicht doch dahinter. Da ist der gegabelte Baum im Garten, "Der so aussieht wie wir", die Tatsache, dass sie das Haus nicht verlassen dürfen, und einiges mehr. In diesem Buch hilft die Kenntnis beim Verstehen, finde Ich. Man würde sonst eine ganze Weile zumindest im Dunklen tappen. Mehr muss man allerdings nicht wissen. Die Wendungen, die die Geschichte nimmt, finde ich total spannend gemacht.
 
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Anjuta

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Ich glaube, nach einer Zeit des Lesens käme man vielleicht doch dahinter
Ja, das denke ich auch, aber ich hätte wirklich lange an diesem Verständnis / an dieser Interpretation gezweifelt, da ich es wirklich total abgefahren finde, dass ein Autor/eine Autorin sich zutraut, einen Einblick in die Denkweise von siamesischen Zwillingen mit eigenem Kopf und gemeinsamem Körper zu werfen. Wie wirklich abgefahren das ist, zeigt für mich übrigens auch die Umschlaggestaltung des Verlags, der sich offensichtlich nicht getraut hat, wirklich siamesische Zwillinge abzubilden, sondern eine sehr ästhetisierte Version davon als Umschlagentwurf wählte.
 
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Wie wirklich abgefahren das ist, zeigt für mich übrigens auch die Umschlaggestaltung
Das stimmt. Hinzu kommt jedoch, dass die Darstellung echter Siamesischer Zwillinge auch immer etwas Ungewohntes, zum Teil auch Schauriges/Mitleiderweckendes an sich hat. Der Anblick ist völlig fremd und bedürfte der Gewöhnung.

Eine solche Fotografie würde dementsprechend mehr Ablehnung auf sich ziehen denn Neugier. U.U. gäbe es sogar Vorwürfe, die Betroffenen für Werbezwecke missbraucht zu haben.

Die vorliegende Covergestaltung ist ästhetisch gelungen. Den Transfer in die wahre Welt der Protagonisten muss der Leser selbst leisten.
 
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Ich stellte mir beim Lesen immer mehr die Frage: Wann hätte ich es begriffen? Ohne das Vorwissen, dass es in dem Buch um siamesische Zwillinge geht. Wäre ich wirklich auf diese Idee gekommen? Hätte ich die vorhandenen kleinen Hinweise in diese Richtung gedeutet? Oder wäre mir diese Idee so sehr abwegig und fernliegend erschienen und wäre komplett an mir vorbei gegangen? Was denkt ihr?
Tatsächlich habe ich mir diese Frage auch immer wieder gestellt. Für mich war das ein Hinweis, dass die Autorin den Fokus gar nicht so sehr auf die Behinderung legt, sondern eher auf die unterschiedlichen Charaktere der Mädchen.
Aber ich sehe das wie @Literaturhexle . Hinweise gibt es zuhauf in diesem Roman.
 
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Seid mir nicht böse, aber ich konnte mit dem Lesen nicht aufhören.

Das Buch ist so reich an Sprache, dass sie mich ganz tief im Inneren berührt hat, obwohl die Themen recht belastend waren. Ich lese jetzt mal eure Beiträge.
 
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