Kapitel 1-4

Anjuta

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Ich habe begonnen zu lesen und habe mich zuerst einmal geärgert, dass ich im Vorfeld schon Einiges über das Buch gehört und gelesen hatte. Ich fühlte mich in etwa wie beim Lesen eines Krimis, von dem mir der Mörder bereits vor Lektüre verraten wurde. Der Clou ist dann eben weg.
Der Clou der "Nussschale" ist ohne Frage seine unglaubliche Erzählperspektive. Und so gern hätte ich mich bei der Entdeckung dieser Perspektive und dem Erkennen des erzählenden Ichs beobachtet. Wie lange wäre ich im ungläubigen Staunen verharrt? Wie lange hätte ich gezweifelt? Wann hätte ich dann letztlich gedacht: Ja, er hat es wohl wirklich gewagt! Ich werde es leider nie mehr erfahren. Schade!
Aber so lese ich gern weiter und stelle mir die Fragen, die wohl bis zum Ende bleiben werden:
Kann der Ich-Erzähler das wirklich wissen, denken fühlen, kennen?
Mal schauen, wie lange das interessant bleibt. Ich lese auf jeden Fall weiter.
Anjuta
 

wal.li

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Ich habe die ersten Kapitel auch gelesen. Der Erzähler - ich nenne ihn mal Nuss - ist schon sehr speziell. Aber auch die Familiengeschichte, deren Beginn sich hier entblättert, hat es in sich. Man wundert sich, was die Nuss alles mitkriegt. Es ist schon haarsträubend. Trudy hat einen schwächlichen Mann, den sie betrügt. Sie entspricht nicht der Konvention, sie trinkt Alkohol. Sie wirkt auf mich nicht sehr sympathisch. Ich habe den Eindruck, es geht hauptsächlich ums Geld und weder um ihren Mann, noch um die neue Beziehung. Die Ansichten der Nuss zur Lage der Welt sind sehr treffen. Wenn man sich dieser Tage die Zeitungen so anschaut, schüttelt es einen und man sorgt sich um die Zukunft. Was für eine Welt wird die Nuss erleben.
Ich genieße die Sprache des Autors, ich denke, da hat sich ein gewissenhafter Übersetzer ans Werk gemacht.
 

Helmut Pöll

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Ich genieße die Sprache des Autors, ich denke, da hat sich ein gewissenhafter Übersetzer ans Werk gemacht.
Das war auch mein Eindruck, @wal.li . MIr ist die Mutter auch nicht ganz geheuer, u.a. wegen der Weingeschichte, hauptsächlich aber natürlich von der Verschwörung, die hier im Gang zu sein scheint.
Vater, Mutter und LIebhaber, alle drei beobachtet vom ungeborenen Kind, das ist eine ganz ungewöhnliche Perspektive.
Einer meiner ersten Gedanken war, woher ein Ungeborenes das alles wissen kann. Aber McEwan hat wohl geahnt, dass sich einige seiner Leser das fragen werden. Seine Antwort: natürlich das Radio. Das ist ziemlich dreist, aber schwer zu widerlegen. Wahrscheinlich musste McEwan selber lachen, als er das geschrieben hat.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Zu widerlegen ist die Perspektive schon, Helmut, denn Quelle der Informationen sind ja nicht nur das Radio per Schallwellen durch die Bauchdecke übertragen, sondern auch der "Ipod" (oder Ähnliches), der den Schall direkt in die Ohren der Mutter sendet. Wie kommt das dann aber im Bauchraum an?
Aber ich möchte mich nicht an dieser Skepsis an der Erzählperspektiv zu lange aufhalten. Es ist ein großes Wagnis des Autoren, ohne Frage! Aber wichtig ist, den Roman dennoch nicht darauf zu reduzieren. Die riskante Perspektiv kann nur wirklich zu einem guten Buch werden, wenn es darüber hinaus geht und es auch mit oder sogar gerade wegen dieser reduzierenden Perspektive zu einer guten Geschichte kommt. Und da sehe ich auch wie Helmut, dass Kapitel 1-4 hier Einiges vorbereitet und das letzte Wort dieses Blocks "Gift" einen auf den Punkt gebrachten Übergang schafft zu einem Spannungsplot, in den ich mich jetzt in den folgenden Kapiteln gestürzt habe. Und da - soviel sei verraten - kommt es auch schon bald zu einer Überraschung und zu einer Widerlegung all dessen, was man bisher über die ein oder andere handelnde Person gelernt zu haben scheint.
Aber dazu später mehr an anderer Stelle.
Bleibt neugierig!
Anjuta
 

Sassenach123

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Wenn man berücksichtigt, dass ein Fötus nicht alles so mitbekommen kann, wie es beschrieben wird, finde ich es zum einem sehr amüsant und zum anderen auch tragisch.
McEwan verleiht dem Ungeborenen eine teilweise sehr kritische Stimme, das gefällt mir. Themen wie Alkohol in der Schwangerschaft werden zwar locker beschrieben aus Sicht des Kindes, doch mir als Leser platzte da fast der Kragen.
Es ist einfach mal etwas anderes, dem ganzen von der Seite beizuwohnen. Bin jetzt schon gespannt was mich da noch alles so erwartet.
Interessant finde ich übrigens noch, dass unser kleiner Hauptdarsteller von Anfang an negativ über Claude gesprochen(gedacht) hat, schon bevor ich die Zusammenhänge überhaupt kannte.
Da da Thema blau ja recht intesiv angesprochen wurde, ist es für mich gedanklich ein Junge.
 

Sassenach123

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Ja, im weiteren Verlauf wird klar, es ist ein Junge. Obwohl es ja letztlich keinen Unterschied macht.
Nun am Ende des vierten Kapitels lässt sich eine Entwicklung erahnen, die mich sehr überrascht hat. Zum einen die Tatsache, dass Claude Trudys Schwager ist, und zum anderen sagt das letzte Wort am Ende sehr viel aus. Oh man, das kann ja was werden.......
 
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Die Perspektive - aus der Sicht des ungeborenen Kindes - finde ich faszinierend. Wie er, ist wird ja ein Junge, die Welt wahrnimmt, ist erstaunlich. Mal kritisch, so wie er seine Mutter betrachtet und sich erinnern muss, dass er sie liebt, mal komisch, wenn er ein weiteres Glas Wein einfordert und an der Nabelschnur zieht, wie an einer Klingel.
Seine Anmerkungen zur Gesellschaft, zur Welt, herausgefiltert aus den Radiobeiträgen und seine Weitsicht und Bildung aus den wahllosen Potcast-Beträgen haben mir gut gefallen.
Meine Sympathie ist ganz auf der Seite des Losers John, aber womöglich ist er gar nicht so blauäugig, wie er in den ersten Kapiteln erscheint. Vielleicht erwartet mich noch eine große Überraschung.
Die Sprache finde ich außergewöhnlich, sie hat mich aber sofort in Bann gezogen. Die Idee, einen Fötus zum über den Ereignissen stehenden Erzähler zu machen, ist wirklich ein gelungener Coup.

Ich denke auch, dass hier der Übersetzer eine tolle Leistung erbracht hat. Robben hat ja eine bemerkenswerte Auswahl an Autoren übersetzt, Burnside, Carey, Amis, Kureishi uvm.
 

Renie

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Ich habe begonnen zu lesen und habe mich zuerst einmal geärgert, dass ich im Vorfeld schon Einiges über das Buch gehört und gelesen hatte. Ich fühlte mich in etwa wie beim Lesen eines Krimis, von dem mir der Mörder bereits vor Lektüre verraten wurde. Der Clou ist dann eben weg.
Anjuta

Da geht's mir wie dir @Anjuta . Aber ich denke, dass es fast unmöglich gewesen wäre, vorab nicht über diese besondere Erzählperspektive informiert zu werden. Dafür war dieses Buch viel zu sehr an allen Fronten im Gespräch. Aber schön wäre es doch gewesen. Der Moment, wenn du begreifst, dass die Geschichte aus der Sicht eines Fötus erzählt wird. Da ist uns ein echtes Aha-Erlebnis entgangen.;)
 
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Einer meiner ersten Gedanken war, woher ein Ungeborenes das alles wissen kann. Aber McEwan hat wohl geahnt, dass sich einige seiner Leser das fragen werden. Seine Antwort: natürlich das Radio. Das ist ziemlich dreist, aber schwer zu widerlegen. Wahrscheinlich musste McEwan selber lachen, als er das geschrieben hat.

Am besten sollte man gewisse Dinge nicht hinterfragen, sondern einfach hinnehmen. Die Idee mit dem Fötus ist großartig - auch wenn ich meine Bedenken hatte, dass mir die Umsetzung zu schräg sein könnte. Aber bis jetzt fühle ich mich gut unterhalten. Mich überrascht die Weisheit des Fötus - ganz egal, wo er seine Ideen her hat. Der Moment, wo er gegen die Pessimisten dieser Welt Stellung bezieht, und an all die Errungenschaften unserer Gesellschaft erinnert. Klasse! Da spricht er mir aus der Seele.
Dann ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich lauthals loslache. McEwan schreibt teilweise urkomisch. Eine ganz neue Erfahrung für mich. Bis jetzt habe ich ihn immer sehr ernsthaft erlebt.
 

Helmut Pöll

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McEwan schreibt teilweise urkomisch. Eine ganz neue Erfahrung für mich. Bis jetzt habe ich ihn immer sehr ernsthaft erlebt.
So kenne ich ihn auch nicht, @Renie . Aber in Honig (oder war es Kindeswohl) schreibt er über den Londoner Beamtenapparat in einigen Ministerien. Und da ist er auch schon richtig boshaft ;). Aber mir geht es wie Dir: ich fühle mich auch sehr gut unterhalten bis jetzt.
 
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Helmut Pöll

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Die Sprache finde ich außergewöhnlich, sie hat mich aber sofort in Bann gezogen. Die Idee, einen Fötus zum über den Ereignissen stehenden Erzähler zu machen, ist wirklich ein gelungener Coup.
Ja, in jedem Fall. Im Grunde erzählt ja kein Mensch. Ich dachte mir genauso gut hätte er einen Engel, Gott oder einen Verstorbenen erzählen lassen können.
 
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wal.li

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Die Idee mit dem Ungeborenen finde ich auch klasse, dennoch kommt mir immer wieder der Gedanke, dass das nicht sehr in der Realität verankert sein kann. Ein wenig wie bei einem Fantasy Roman. Aber ich versuche, es möglichst so hinzunehmen und den Roman zu genießen.
 
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Mich überrascht die Weisheit des Fötus - ganz egal, wo er seine Ideen her hat. Der Moment, wo er gegen die Pessimisten dieser Welt Stellung bezieht, und an all die Errungenschaften unserer Gesellschaft erinnert. Klasse! Da spricht er mir aus der Seele.
Dann ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich lauthals loslache

Genauso empfinde ich das auch. Ich hatte nicht mit diesem ironischen Ton gerechnet.
 
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anne_weiss

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Leider kann ich erst jetzt schreiben, weil ich am Donnerstag auf einer Lesung in Buxtehude war - und der mangelhafte Internetanschluss im Hotel hat mir zu schaffen gemacht... Mir haben die ersten vier Kapitel sehr gut gefallen - wenn man sich einmal auf die ungewöhnliche Perspektive eingelassen hat, macht es sehr viel Spaß. Dann zweifelte ich höchstens noch mal dran, wenn er zB den rieselnden Staub in der Bibliothek beschreibt, oder die Eingangshalle, die man im Gespräch ja so detailliert nicht beschreiben würde (sodass er nicht wissen dürfte, wie's da ausschaut). Eine sehr genaue Beschreibung der Zustände in der Welt - das fand ich sehr gelungen (die Idee mit den Radiosendungen macht's möglich) - und besonders gespannt bin ich auf weitere Cliffhanger. Die Enthüllung, wer Claude eigentlich ist und in welcher Beziehung er zum Vater des Ungeborenen steht, fand ich schon ziemlich gut gemacht. Freue mich auf die nächsten Kapitel!
 

Helmut Pöll

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Eine sehr genaue Beschreibung der Zustände in der Welt - das fand ich sehr gelungen (die Idee mit den Radiosendungen macht's möglich)
Das hat mir auch ziemlich gut gefallen, dass da Ian McEwan indirekt ein kurzes Statement über die Welt abgibt.
Er beschreibt auch ungeschönt, wie das Leben von unerwünschten Kindern ablaufen kann. Abgelehnt schon vor dem Moment ihrer Geburt. "Das Baby kriegen wir irgendwo unter", sagt ja nichts anderes, als dass es zur Adoption freigegeben wird, mit ungewisser Zukunft.

Trudy, die Mutter, mag ich nicht, mal ganz unabhängig von ihrem Hang zu Komplotten. Sie ist völlig verantwortungslos und lässt sich vollaufen, während sich hochschwanger ist. McEwan erzählt es mit schwarzem Humor, indem er den Fötus schildern lässt, wie sich Trunkenheit anfühlt und über Weinsorten philosophieren.
 

Bibliomarie

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Trudy, die Mutter, mag ich nicht, mal ganz unabhängig von ihrem Hang zu Komplotten. Sie ist völlig verantwortungslos und lässt sich vollaufen, während sich hochschwanger ist. McEwan erzählt es mit schwarzem Humor, indem er den Fötus schildern lässt, wie sich Trunkenheit anfühlt und über Weinsorten philosophieren.

Ich finde Trudy auch schrecklich und assoziiere die Haarfarbe strohblond immer mit strohdumm, dabei zeigt ihre Durchtriebenheit durchaus eine Form von Cleverness. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob sie oder Claude die treibende Kraft hinter dem Komplott ist.
 

anne_weiss

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Ja, ich hatte noch einen Stopp in Bremen eingeplant, und die Verwandtschaft verfügt über W-Lan... und jetzt bin ich auch wieder am heimischen Computer in Köln. Weiter geht's ;-) - auf der Zugfahrt habe ich Kapite 5-8 gelesen...
 

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Der Moment, wenn du begreifst, dass die Geschichte aus der Sicht eines Fötus erzählt wird. Da ist uns ein echtes Aha-Erlebnis entgangen.;)
Besser spät als nie einsteigen, sehr interessant, was hier schon alles geschrieben wurde.
Das mit dem Aha-Erlebnis hatte ich Gott sei Dank. Habe vorher gar nichts über das Buch gelesen und da ich so spät an war, hoppla hopp gestern Abend angefangen und dann...oha...da erzählt ja ein Fötus. Irre.
Das mit dem Wein hat mich als Mutter auch sehr irritiert und ich bin wirklich gespannt, wie sich die Figuren weiter entwickeln. Dann les ich mal weiter, um den Anschluss nicht zu verpassen ;)