4. Leseabschnitt: DER KEIM IM STAUB - Kapitel 11 bis 20 (Seite 167 bis 220)

Literaturhexle

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2. April 2017
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49
Dieser Abschnitt hat sich für mein Empfinden etwas gezogen, aber das mag auch mit dem rasanten Tempo des bisherigen Geschehens zusammenhängen.
Die meisten sind Karis Aufruf gefolgt und haben sich zur Scheune aufgemacht. Rolv fühlt sich ausgestoßen, er versteckt sich und sieht sich als Sündenbock, dem die anderen die Schuld in die Schuhe schieben wollen.
Er hat eine Begegnung mit dem Tod (der Gesichtslose) - zumindest interpretiere ich das so. Zum Glück kommt Kari und schickt ihn nach Hause. Dort ist er nach dem Fabrikunglück schon einmal gesund geworden (im Gegensatz zu Andreas). Das Zuhause hat eine tiefe Bedeutung auch zum Ende hin.

Was mir völlig fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der Schuld von Andreas. Er wird irgendwie reingewaschen, weil er "ein Wahnsinniger" war. Haben ihn erst die grausamen Beobachtungen am Schweinestall durchdrehen lassen? Fing das Unheil ganz buchstäblich dort an? Es scheint beinahe so.
Doch auch die Eltern Li sind total gefasst. Es dreht sich alles nur noch um Rolv, als hätte es Inga nie gegeben. Damit habe ich Schwierigkeiten. Wenn man wirklich Angst hätte, nun auch noch das zweite Kind zu verlieren, dann sollte man es doch in solch einer Extremsituation nicht wegschicken? Disziplin und Erziehung an so einer zerbrechlichen Stelle im Angesicht der toten Inga?

Manche Leute haben sich im Schweinestall versteckt, weil sie nicht gesehen werden wollen. Warum nicht? Diese Szene hat gewiss eine Bedeutung, die ich nicht sehe.
Karl denkt: Diese Menschen haben sich für meine Tochter geopfert. Er fühlt ihnen gegenüber eine gewisse Dankbarkeit, den Sohn verurteilt er trotzdem.

Endlich in Kapitel 15 gibt es endlich eine Erklärung für die fehlende Trauer:
Die Trauer um Inga war derweil ein weggesackter Bereich in einem selbst. Verstummt, namenlos. 193
Man geht aber auch über Karis Verlust hinweg. Wird erwartet, dass man ein totes, noch dazu ermordetes Kind einfach so akzeptiert?

Die Menschen verbringen die Nacht zusammen, halten eine Art Totenwache. Die Gemeinschaft scheint ihnen zu helfen. Sie verlieren ihren Groll gegen Rolv, der sich im Grunde seine Schuld eingesteht. Er weiß, dass die Polizei ihn holen wird und eine Strafe auf ihn wartet. Am Ende wird er aber sein Erbe antreten können. Der Hof ist seine Burg und sein Zuhause.

In Kapitel 18 erfahren wir etwas über Karls Gefühle. Er hat seinem Sohn gegenüber Härte gezeigt, weil er glaubte, das tun zu müssen.
Etwas in ihm möchte aber den Leuten auch danken dafür, dass sie sich haben mitreißen lassen... Diese Ambivalenz seiner Gefühle kann ich nachvollziehen. Dankbar ist er auch, dass Rolv zurückgekommen ist. Das war nicht selbstverständlich.

Die Atmosphäre in dieser Scheune ist sehr bedrückend. Das Pferd, die werdende Mutter, die Morgendämmerung, der krähende Hahn erinnern daran, dass das Leben weitergeht, dass nach dem Dunkel das Helle kommt, dass die täglichen Pflichten warten.
Nur sie selbst waren bis auf den Boden niedergedrückt. Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein. So dass man aufstehen konnte. 217
Ich muss jetzt das Nachwort lesen und dann nochmal von vorne quer. Ich habe das Gefühl, dass in dem Text noch weit mehr drinsteckt an Bezügen und Interpretationsmöglichkeiten und bin sehr froh, dass ich damit nicht alleine bin;).
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Schön fand ich die Insel des Lichts in Ingas Zimmer, wo die Mutter Totenwache hält.

Wie @Literaturhexle schon herausgearbeitet hat, es herrscht eine merkwürdige Stimmung. Die Nacht legt sich wie eine heilende Decke über die Inselbewohner. Manche verkriechen sich im Schweinekoben, wollen im Dunkeln bleiben. Es hat den Anschein von Kollektivschuld.
Aber egal, wer sich wann und wo schuldig gemacht hat, alle dürfen sich auf ihre Heimat berufen und daran glauben, dass sie dort geborgen sind.

Durch die Unvollständigkeit der Geschichte (keiner wird verhaftet, keiner wird begraben, selbst die toten Schweine liegen noch irgendwo) denke ich sehr stark an eine Parabel für diese auch in Norwegen merkwürdige Zeit.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Er hat eine Begegnung mit dem Tod (der Gesichtslose) - zumindest interpretiere ich das so. Zum Glück kommt Kari und schickt ihn nach Hause. Dort ist er nach dem Fabrikunglück schon einmal gesund geworden (im Gegensatz zu Andreas).
Da ist wieder unser Denkfehler vom ersten LA - Rolv war nicht bei dem Fabrikunglück.
Was mir völlig fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der Schuld von Andreas. Er wird irgendwie reingewaschen, weil er "ein Wahnsinniger" war.
Ich sehe nicht, dass er reingewaschen wird. Allerdings wird seine Schuld überlagert durch die Kollektivschuld, die ein Großteil der Inselbewohner auf sich geladen hat. Andreas ist tot, mit seiner Schuld kann man sich nicht mehr auseinandersetzen. Die Lebenden haben jetzt mit ihrer eigenen Schuld zurechtzukommen, müssen damit klar kommen, dass sie in ihren Abgrund geblickt haben, so gehandelt gaben wie sie es nie für möglich gehalten gaben.
Da sehr vieles offen bleibt und es Vesaas meiner Meinung nach darum geht zu zeigen wie schnell der Mensch seine Besinnung verlieren kann, welche Rolle Gruppendynamik spielt und was nach dem "Aufwachen" (dem Ende der Hetzjagd) mit einer Gemeinschaft passiert, finde ich es nicht mehr schlimm, dass Andreas Schuld nicht weiter thematisiert wird.
Haben ihn erst die grausamen Beobachtungen am Schweinestall durchdrehen lassen? Fing das Unheil ganz buchstäblich dort an? Es scheint beinahe so.
Das Unheil wurde durch seine Traumatisierung angelegt und nahm dann tatsächlich durch seine Erlebnisse am Schweinestall seinen Lauf.
Doch auch die Eltern Li sind total gefasst.
Äußerlich ja - gerade in diesem Text hat für mich das Ungesagte aber ein großes Gewicht. Es schwingt immer etwas mit, das mir die Erschütterung der Eltern durchaus vermittelt.
Manche Leute haben sich im Schweinestall versteckt, weil sie nicht gesehen werden wollen. Warum nicht?
Sie schämen sich für ihr Ausrasten, schämen sich für ihre Unmenschlichkeit.
Sie sind in die Scheune gekommen in der Hoffnung auf Absolution. Doch Karl dankt ihnen nicht. Sie erkennen, dass sie alleine sind, alleine mit ihren Taten leben müssen. Einige verkriechen sich im dunklen, dreckigen Schweinestall - sie begeben sich auf Augenhöhe mit den Schweinen, die auch nur ihren Trieben folgen. Ich sehe das wie die Totenwache von Haug und Dal als eine Art Buße.
Endlich in Kapitel 15 gibt es endlich eine Erklärung für die fehlende Trauer:
Darauf hatte ich auch gewartet und war froh, diese Erklärung zu lesen.
Die Atmosphäre in dieser Scheune ist sehr bedrückend.
So habe ich das auch empfunden. Alle sind verunsichert, können sich selbst und den anderen nach der Hetzjagd nicht in die Augen blicken; sie sind erschöpft.
Das Pferd, die werdende Mutter, die Morgendämmerung, der krähende Hahn erinnern daran, dass das Leben weitergeht, dass nach dem Dunkel das Helle kommt, dass die täglichen Pflichten warten.
Wahrscheinlich sind es die täglichen Pflichten, die helfen weiterzuleben. Die Tiere müssen versorgt werden und in der Landwirtschaft gibt es immer etwas zu tun.
Aber egal, wer sich wann und wo schuldig gemacht hat, alle dürfen sich auf ihre Heimat berufen und daran glauben, dass sie dort geborgen sind.
Das stimmt. Das ist etwas, das Andreas nicht mehr hatte. Er war auf der Suche nach Heimat, nach Sicherheit und scheiterte.
Durch die Unvollständigkeit der Geschichte (keiner wird verhaftet, keiner wird begraben, selbst die toten Schweine liegen noch irgendwo) denke ich sehr stark an eine Parabel für diese auch in Norwegen merkwürdige Zeit.
Da ist bestimmt etwas dran.
 
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29. März 2022
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Mainz
Das Finale hat mich überrascht.
Ich hatte ja eher Sorge, dass das Ganze eskaliert und es evtl. noch einen dritten mord geben würde. Stattdessen endet das Buch eher optimistisch. Vessa scheint uns mitzuteilen: Was immer auch passiert, das Leben geht weiter, muss weiter gehen. Das wird meines Erachtens durch Karl symbolisiert. Die optimistische Wende zeigt sich aber auch, als um die ermordete Schwester herum ein Lichtermeer von ihrer Mutter entzündet wurde. Vielleicht die Botschaft: Wo es das Dunkle gibt, gibt es auch das Helle. Oder das Helle folgt auf das Dunkle.
Ich bin froh über den Ausgang der Geschichte, auch wenn ich das mit dem Keim vielleicht noch nicht zu 100 Prozent erfasst habe.
Es scheint aber so zu sein, dass am Ende die Heimat und Zusammenhalt einen Neuanfang möglich machen.
In diesem Kontext hat mir auch gut gefallen, dass das Ende offen ist. Wir erfahren nicht, wie es nun mit Rolv weiter geht.
 

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29. März 2022
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Was mir völlig fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der Schuld von Andreas. Er wird irgendwie reingewaschen, weil er "ein Wahnsinniger" war. Haben ihn erst die grausamen Beobachtungen am Schweinestall durchdrehen lassen? Fing das Unheil ganz buchstäblich dort an? Es scheint beinahe so.
Doch auch die Eltern Li sind total gefasst. Es dreht sich alles nur noch um Rolv, als hätte es Inga nie gegeben. Damit habe ich Schwierigkeiten. Wenn man wirklich Angst hätte, nun auch noch das zweite Kind zu verlieren, dann sollte man es doch in solch einer Extremsituation nicht wegschicken? Disziplin und Erziehung an so einer zerbrechlichen Stelle im Angesicht der toten Inga?
Diese Umgangsweise der Eltern mit der Ermordung ihrer Tochter hat mich auch gewundert. Ich weiß auch nicht, ob diese Reaktionsweise realistisch ist.
Besser verstehen kann ich, dass der Fokus eher auf der Schuld all der Mitläufer liegt und denen, die aktiv zum Mord von Andreas beigetragen haben. Nur hier kann letztendlich eine Umkehr erfolgen. Andreas jedoch ist tot.
Und auf diese Umkehr scheint es Vesaas durchaus anzukommen, wenn ich den letzten Teil richtig verstehe.
Ich muss jetzt das Nachwort lesen und dann nochmal von vorne quer. Ich habe das Gefühl, dass in dem Text noch weit mehr drinsteckt an Bezügen und Interpretationsmöglichkeiten und bin sehr froh, dass ich damit nicht alleine bin;).
Ich glaube auch, dass in diesem schmalen Bändchen viel mehr drin steckt, als sich einem beim ersten Lesen offenbart.
 

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29. März 2022
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Mainz
Aber egal, wer sich wann und wo schuldig gemacht hat, alle dürfen sich auf ihre Heimat berufen und daran glauben, dass sie dort geborgen sind.
Das scheint mir am Ende entscheidend: Die Heimat hat etwas Heilendes. Andreas war diesbezüglich auf der Suche und hat diese erhoffte Heilung letztlich nie erfahren.
Sie sind in die Scheune gekommen in der Hoffnung auf Absolution. Doch Karl dankt ihnen nicht. Sie erkennen, dass sie alleine sind, alleine mit ihren Taten leben müssen. Einige verkriechen sich im dunklen, dreckigen Schweinestall - sie begeben sich auf Augenhöhe mit den Schweinen, die auch nur ihren Trieben folgen. Ich sehe das wie die Totenwache von Haug und Dal als eine Art Buße.
So ähnlich sehe ich das auch. Jeder setzt sich am Ende mit eigener Schuld und Verantwortung auseinander. Aber dadurch, dass sie es im Kollektiv tun, gibt es für jeden ein Licht am Ende des Tunnels
Kari Nes ist eine faszinierende, facettenreiche Figur, die essentiell für die Stimmung im Text ist.
Auf jeden Fall. Dennoch denke ich, ihre Bedeutung noch nicht zu 100 Prozent erfasst zu haben.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Das Finale hat mich überrascht.
Ich hatte ja eher Sorge, dass das Ganze eskaliert und es evtl. noch einen dritten mord geben würde.
Oder einen Selbstmord. Hier war ich von Kari Nes überrascht. Ohne sie wäre Rolv vielleicht nicht zurückgekehrt.
Stattdessen endet das Buch eher optimistisch. Vessa scheint uns mitzuteilen: Was immer auch passiert, das Leben geht weiter, muss weiter gehen.
Er zeigt meiner Meinung aber auch, dass es nicht möglich ist, sofort zur Tagesordnung überzugehen, sondern dass es ein Innehalten erfordert, bevor es weitergehen kann.
 

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Bekanntes Mitglied
29. März 2022
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Mainz
Oder einen Selbstmord. Hier war ich von Kari Nes überrascht. Ohne sie wäre Rolv vielleicht nicht zurückgekehrt.
Sie scheint die Voraussetzung zu sein, dass die Akteure sich mti sich und ihrer Schuld beginnen auseinanderzusetzen
Er zeigt meiner Meinung aber auch, dass es nicht möglich ist, sofort zur Tagesordnung überzugehen, sondern dass es ein Innehalten erfordert, bevor es weitergehen kann.
Genau. Es bedarf einer Verabreitung des Geschehens, einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil, um wieder nach vorne blicken zu können. Schließlich soll sich das Geschehene ja auch nicht wiederholen.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Auf jeden Fall. Dennoch denke ich, ihre Bedeutung noch nicht zu 100 Prozent erfasst zu hhaben.
Kari Nes ist eine Außenseiterin - vermutlich wurde sie es durch den Tod ihres Ehemannes und Sohnes. Das sagt viel über die Gesellschaft aus. Ich habe schon häufig gehört, dass sich Freunde, Familie abwenden, wenn jemandem großes Unglück wiederfährt. Für mich völlig unverständlich, weil die Betroffenen gerade dann Unterstützung brauchen bzw. jemanden, der weiterhin einfach nur da ist. Kari Nes kennt den Schmerz, die Trauer. Sie sieht auf die Geschehnisse mit einer gewissen Distanz, eben auch, weil sie von den anderen gemieden wird. Sie weiß jedoch, was wichtig ist, weiß, dass ein weiterer Tod alles nur schlimmer machen würde und kümmert sich daher um Rolv. Dachte ich im ersten Teil noch sie sei eine Art Todesbotin, sehe ich sie nun eher als tragische Person, die dem Leben zugetan ist. Sie ahnt auch, wie wichtig ein Zusammentreffen der Beteiligten ist (auch wenn letztendlich jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist, hilft es trotzdem die Gemeinschaft zu spüren, zu merken, dass andere auch leiden).
Vielleicht habt ihr auch noch Ideen zu dieser Figur?
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Anscheinend wollte Rolv sich umbringen (168): 'Das Leben. Hatte er ernsthaft gedacht, es zurückzulassen?' (172), aber Kari Nes rettet ihn durch beherztes Eingreifen. Sie sagt: 'Du darfst dich nicht wegwerfen' (170) und schickt ihn nach Hause. Vielleicht fühlt sie auch mit Mari, weil sie selbst zwei Söhne verloren hat.​

Keiner weiß, wie es weitergehen soll, alle sind ratlos und ich möchte nicht spekulieren oder urteilen, wie ich in so einer Situation reagieren würde. Es sind alles wortkarge Menschen, die ihre Gefühle nicht so zeigen können.

Die Inselbewohner reagieren so unterschiedlich, wie Menschen sind: einige wenige kommen erst gar nicht, andere gehen wieder, manche verkriechen sich im Schweinekoben, wollen nicht gesehen werden, andere stehen ratlos herum – 'es gab große Unterschiede, wie bedürftig sie waren' (182). Aber anscheinend warten viele auf Karl, von dem sie irgendetwas erwarten, etwas, was er ihnen nicht geben kann – wie er selber sagt. Ich verstehe, dass sie Kari Nes folgen und in die Scheune gehen, nicht nur, weil der Tote dort liegt, sondern auch, weil sie das Gefühl haben, nicht alleine sein zu wollen, auch wenn sie dort Abstand voneinander halten. Sie wissen selber nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen, wie sie mit dieser Schuld weiterleben können. Anscheinend gibt es bei denen, die in der Scheune geblieben sind, ein Nachdenken über sich selbst, ein Eingeständnis der Schuld, eine Art Läuterung.

Karl ist in einem Zwiespalt, der wohl typisch ist für die Meinung zur Selbstjustiz: generell verurteilen, aber persönlich verstehen (204). Aber er bringt es nicht fertig, irgendetwas zu den Inselbewohnern zu sagen. Ich kann diese Verwirrung verstehen; er ist in einer unvorstellbaren Ausnahmesituation.

Die Auflösung finde ich realistisch: das Leben geht weiter, wie man an einigen tröstlichen Kleinigkeiten merken kann: das Pferd, Gudrun, die trotzig sagt, sie erwarte ein Kind, die Insel ist weiterhin grün... Das gibt den Menschen Hoffnung, mit dieser Schuld weiterleben zu können. Was sollen sie auch anderes machen?! - Rolv wird verhaftet werden (das Boot ist wohl schon unterwegs), ob die Inselbewohner eine Mitschuld bekommen, erfahren wir nicht und Mari und Karl müssen mit dem Verlust weiterleben so wie auch Kari mit dem ihren.

'Man musste seinen Platz wieder einnehmen... (218) - 'Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein.' (217)​

P.S. Mir ist übrigens eine Erzähl-Eigenart aufgefallen: manches wird zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben, z.B. auf S. 199 mit dem Eber, aber auch vorher schon, als Andreas den beiden Haug und Dal begegnet (19/34), auch bei der Sache mit den Schweinen.​
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Dieser Abschnitt hat sich für mein Empfinden etwas gezogen, aber das mag auch mit dem rasanten Tempo des bisherigen Geschehens zusammenhängen.
Das ging mir zuerst auch so, aber dann habe ich es in Ruhe noch einmal gelesen und fand, dass fast jeder Satz eine Bedeutung hat.
Dort ist er nach dem Fabrikunglück schon einmal gesund geworden (im Gegensatz zu Andreas).
Ne, das ist nicht Rolv gewesen, sondern ein namenloser Sohn.
Was mir völlig fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der Schuld von Andreas. Er wird irgendwie reingewaschen, weil er "ein Wahnsinniger" war. Haben ihn erst die grausamen Beobachtungen am Schweinestall durchdrehen lassen? Fing das Unheil ganz buchstäblich dort an? Es scheint beinahe so.
Ich finde das nicht mit dem 'Reinwaschen'. Ich denke, Vesaas hat sich einfach auf das konzentriert, was er rüberbringen wollte: die Kollektivschuld, das Mitläufertum, die Schuld,...
Manche Leute haben sich im Schweinestall versteckt, weil sie nicht gesehen werden wollen. Warum nicht?
Vielleicht einfach, weil sie sich in Grund und Boden schämen?
Man geht aber auch über Karis Verlust hinweg. Wird erwartet, dass man ein totes, noch dazu ermordetes Kind einfach so akzeptiert?
??? Kari hat ihren Mann und später zwei Söhne auf See verloren.
Die Menschen verbringen die Nacht zusammen, halten eine Art Totenwache. Die Gemeinschaft scheint ihnen zu helfen. Sie verlieren ihren Groll gegen Rolv, der sich im Grunde seine Schuld eingesteht. Er weiß, dass die Polizei ihn holen wird und eine Strafe auf ihn wartet.
Das sehe ich auch so; auch wenn sie kaum miteinander reden, hilft ihnen die Gemeinschaft doch. Es wirkt wohl irgendwie tröstlich.
Ich muss jetzt das Nachwort lesen und dann nochmal von vorne quer. Ich habe das Gefühl, dass in dem Text noch weit mehr drinsteckt an Bezügen und Interpretationsmöglichkeiten und bin sehr froh, dass ich damit nicht alleine bin
Oh ja, das steckt eine Menge drin und ich bin auch sehr froh über die Leserunde und hoffe auf mehr Einsichten und Anregungen.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Andreas ist tot, mit seiner Schuld kann man sich nicht mehr auseinandersetzen. Die Lebenden haben jetzt mit ihrer eigenen Schuld zurechtzukommen, müssen damit klar kommen, dass sie in ihren Abgrund geblickt haben, so gehandelt gaben wie sie es nie für möglich gehalten gaben.
Da sehr vieles offen bleibt und es Vesaas meiner Meinung nach darum geht zu zeigen wie schnell der Mensch seine Besinnung verlieren kann, welche Rolle Gruppendynamik spielt und was nach dem "Aufwachen" (dem Ende der Hetzjagd) mit einer Gemeinschaft passiert, finde ich es nicht mehr schlimm, dass Andreas Schuld nicht weiter thematisiert wird.
Wunderbar zusammengefasst; das muss ich mir ins Buch notieren.
Das Unheil wurde durch seine Traumatisierung angelegt und nahm dann tatsächlich durch seine Erlebnisse am Schweinestall seinen Lauf.
Dafür gibt es auch Textstellen, die genau das ausdrücken.
Äußerlich ja - gerade in diesem Text hat für mich das Ungesagte aber ein großes Gewicht. Es schwingt immer etwas mit, das mir die Erschütterung der Eltern durchaus vermittelt.
Ich glaube, das sind einfach nicht die Typen für großes Drama, aber innen drin wird es wohl fürchterlich aussehen.
sie begeben sich auf Augenhöhe mit den Schweinen, die auch nur ihren Trieben folgen. Ich sehe das wie die Totenwache von Haug und Dal als eine Art Buße.
Ah ja, auch eine Art von Buße.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ne, das ist nicht Rolv gewesen, sondern ein namenloser Sohn.
Jahaaa. Das hatten wir schon:). Da war dieser Text aber schon geschrieben.
??? Kari hat ihren Mann und später zwei Söhne auf See verloren.
Ja, das weiß ich. Aber Kari erntet auch wenig Mitgefühl von den Insulanern. Deshalb war meine Aussage: Vielleicht erwartet man von Mari und Karl auch, dass sie den Tod ihrer Tochter quasi wegstecken.
Vesaas hat sich einfach auf das konzentriert, was er rüberbringen wollte
So wird es sein. Aber mich hat der ursprüngliche Mord mindestens genauso schockiert.
 

Federfee

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13. Januar 2023
1.985
8.206
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Und auf diese Umkehr scheint es Vesaas durchaus anzukommen, wenn ich den letzten Teil richtig verstehe.
Das wäre wahrscheinlich eine Lehre aus dem Ganzen.
Ich glaube auch, dass in diesem schmalen Bändchen viel mehr drin steckt, als sich einem beim ersten Lesen offenbart.
Ich bin sicher, das muss man mindestens zweimal lesen, wie es bei ganz großer Literatur angebracht ist. Zum Glück ist es ein relativ dünnes Büchlein.
Das scheint mir am Ende entscheidend: Die Heimat hat etwas Heilendes. Andreas war diesbezüglich auf der Suche und hat diese erhoffte Heilung letztlich nie erfahren.
Genau so sehe ich das auch; die Heimat, die tägliche Arbeit, die Natur, alles geht weiter.
Dennoch denke ich, ihre Bedeutung noch nicht zu 100 Prozent erfasst zu haben.
Ich auch nicht; vielleicht kommen wir hier gemeinsam noch ein bisschen weiter.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich glaube, das sind einfach nicht die Typen für großes Drama, aber innen drin wird es wohl fürchterlich aussehen.
Das ist, glaube ich, eine sehr wichtige Feststellung, die mir weiter hilft! Es ist auch eine andere Zeit, in der man dem Tod vielleicht noch anders gegenüberstand, weil er einfach häufiger vorkam. Aber die Typsache ist ganz wesentlich.