Rezension (5/5*) zu Internat: Roman von Serhij Zhadan

dracoma

Bekanntes Mitglied
16. September 2022
1.502
5.750
49
Fazit: "Kein Mitleid mit niemandem!"

Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Pascha, ein Lehrer in den Dreißigern, holt seinen Neffen Sascha aus einer umkämpften Stadt zu sich nach Hause.

Ort und Zeit werden nur marginal erwähnt: wir hören einmal den Namen der Stadt Charkiw, es ist Januar – man kann also davon ausgehen, dass der Roman im umkämpften Donbecken spielt. Es geht jedoch nicht um die Ukraine, es geht nicht um einen konkreten Krieg. Der Autor ergreift nicht Partei, er nimmt auch keine Schuldzuweisungen vor. Es geht in einem weiteren Sinn allgemein um die Schrecklichkeiten des Krieges, wie sie überall stattfinden können.

Pascha, der Protagonist, ist ein völlig unpolitischer Mensch. Er ist Lehrer, Zivilist, hört keine Nachrichten, vermeidet eine politische Positionierung und mischt sich nirgendwo ein. Der Weg zu seinem Neffen und der Weg zurück nach Hause macht aus ihm einen anderen Menschen. Er durchläuft apokalyptische Szenerien, die an die Gedichte Georg Trakls erinnern. Dabei begegnet er Menschen, meistens Frauen und Kindern, und er erkennt, dass er handeln muss. Als Lehrer kommt ihm offensichtlich eine besondere Rolle zu; von ihm wird erwartet, dass er die richtigen und wichtigen Informationen hat, dass er Hilfe leistet und Sorge für die anderen trägt. In diese Rolle - eine Rolle, die Pascha bisher vermieden hat – wächst er jetzt Schritt für Schritt tatsächlich hinein.

Der Roman führt uns eindringlich vor, was der Krieg mit Menschen macht. Hier gelingen dem Autor verhaltene und zugleich ausdrucksstarke Bilder, die sich dem Leser einprägen; ob das der durchschossene Mantel des tapferen Sportlehrers ist oder das klingelnde Handy eines Toten, der jeden Tag um 8 Uhr von seinen Kindern angerufen wird. Pascha begegnet auf seiner „Winterreise“ Menschen, die sich in Endzeit-Landschaften bewegen, die alles aufgegeben haben und nur das Notwendigste mit sich führen. Sie wissen nicht wohin, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Realität dieser Menschen besteht aus gegenseitigem Misstrauen, aus ständiger Angst, aus Sorge um die nächste Mahlzeit, aus dem dringenden Bedürfnis nach Wärme, aus Desinformation seitens der Regierung, Alarm und Beschuss, Verlust der Wohnung und der Lebensgrundlage, aus Begegnungen mit Soldaten, deren Zugehörigkeit nicht immer zu erkennen ist. Solidarität und Hilfe trifft er selten. „Kein Mitleid mit niemandem“ wird zum Mantra Paschas.
Ein bitteres Fazit!

Der Roman wird eingelesen von Frank Arnold. Seine klare, teilweise metallische Stimme passt zu den Schrecken, die der Roman erzählt. Frank Arnolds Vorlesekunst zeigt sich besonders in den Dialogpassagen, die er mit wechselnder Lautstärke und vor allem wechselnder Stimmfärbung perfekt gestaltet.

Absolute Lese- und Hör-Empfehlung!





 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.241
49.147
49
Tolle Rezension! Das Buch scheint ganz anders zu sein, als ich es mir vorgestellt habe. Ich brauche gerade eine neue Hörlektüre... Ich höre mal rein. Frank Arnold bürgt für Qualität!
Hast du "Graue Bienen" schon gelesen? Das gibt einem auch einen hervorragenden Einblick ins Leben unter Kriegsbedingungen, ohne wirklich politisch zu sein.
 

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
1.833
6.329
49
71
Ich brauche gerade eine neue Hörlektüre... Ich höre mal rein. Frank Arnold bürgt für Qualität!
Ich liebäugle ja auch schon die Zeit damit, kann mich aber nicht entscheiden zwischen Hörbuch und Buch. (Wobei Hörbuch sinnvoller wäre - da hätte ich Luft dafür! ;) Wo hörst Du denn rein? (Hab's bei A. probiert, klappt aber nicht, haben nur die Leseprobe zur Verfügung!)
 

dracoma

Bekanntes Mitglied
16. September 2022
1.502
5.750
49
Hast du "Graue Bienen" schon gelesen?
'Graue Bienen' kann ich auch wärmstens empfehlen,

Danke für den Tipp, das Buch kenne ich gar nicht!

kann mich aber nicht entscheiden zwischen Hörbuch und Buch.
Und wenn Du beides nimmst?
Ich mach das gerne bei Backsteinen; Musils "Mann ohne Eigenschaften" oder "Ulysses" hätte ich ohne Hörbuch vielleicht (?) nicht durchgehalten. Ein guter Sprecher macht mir mit seinen Betonungen, Pausen etc. das Verstehen leichter.