Rezension (4/5*) zu Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen von Tim Parks

GAIA

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27. Dezember 2021
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„Woher ich lese“

Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen wollte etwa: „Woher ich lese“. Viel kraftvoller und verständlicher wirkt da der unübersetzte Titel. Die Übersetzerinnen Ulrike Becker und Ruth Keen haben sich mit dem Verlag für „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ entschieden. Inhaltlich bekommt das Ganze damit einen ganz neuen Kontext.

Warum ist die eben geführte Diskussion so relevant? Weil unter anderem auch genau dieses Thema der literarischen Übersetzung in Tim Parks Essays behandelt wird. Tim Parks ist selbst Übersetzer, Autor, Essayist und Kritiker. So beleuchtet er in seiner Essaysammlung verschiedene Themen des globalisierten Literaturwelt. In den vier Teilen des Buches verfolgt er folgende Bereiche: „Die Welt des Buches“ (1) mit Fragen um Copyright, den langweiligen neuen globalen Roman, das Beenden von Lektüren oder der unterschiedlichen Einschätzung ein und desselben Buches durch unterschiedliche Leser:innen. „Das Buch in der Welt“ (2) behandelt sehr aufschlussreich die Vergabe des Literaturnobelpreises und seine Sinnhaftigkeit, die bevorzugten Nationen auf dem Buchmarkt, oder die Glorifizierung von Schriftstellern. „Die Welt des Schriftstellers“ (3) taucht in die Tätigkeit des Bücherverfassens und -veröffentlichens ein. Und zuletzt „Schreiben rund um die Welt“ (4) über die Übermacht des amerikanischen Buchmarktes, die Vereinheitlichung von Übersetzungen und das nachträgliche Ausbügeln von Texten nach den Wünschen des Buchmarktes.

Viel lernte ich in diesem Buch über die Zusammenhänge des globalen Literaturmarktes. Es geht grundsätzlich sowohl um das Lesen als Kritiker, Wissenschaftler, Übersetzer oder auch „einfacher“ Leser als auch um das Schreiben als Romanautor, Essayist und Wissenschaftler. Über weite Strecken verpackt Parks seine Thesen, denen ich nicht immer pauschal folgen würde, äußerst unterhaltsam und kurzweilig. Weniger aufregend erschien mir der Mittelteil des Buches, welcher sich stark um die sog. „Klassiker“ dreht. Hier überwiegend männliche und britisch-englische oder amerikanisch-englische Autoren, die man dem „Kanon“ zuordnen würde (Dickens, Beckett, Hardy). Es wird ausschweifend über deren Autorenpersönlichkeit und die fließenden Übergänge zu ihren Werken gesprochen. Da mein persönliches Interesse an deren Literatur und Persönlichkeiten eher gering ist, war dies ein etwas zäher Abschnitt. Viel besser gefielen mir die übergreifenden Betrachtungen zur Welt der Literatur. Vor allem die dargestellten Ungenauigkeiten, die bei literarischen Übersetzungen entstehen können, waren für mich augenöffnend und verstärkten den Wunsch, viel mehr Originalliteratur zu lesen. Auch werde ich nach dieser Lektüre die Vergabe des Literaturnobelpreises viel kritischer hinterfragen, wenn nicht gar nur noch nebenher wahrnehmen. Manche Einsichten aus der Lektüre können die Wahrnehmung schärfen und die Wachsamkeit als Leser:in positiv beeinflussen.

Insgesamt handelt es sich also meines Erachtens um eine äußerst lesenswerte Essaysammlung. Ich hatte viel Freude damit, sie war aufschlussreich und erhellend. Wer also die „alten weißen Männer“-Klassiker besser tolerieren kann als ich oder sogar besonderes Interesse an den englischsprachigen Klassikern hat, wird hier sicherlich ein Lesehighlight für sich entdecken können. Es wird auf jeden Fall allen gefallen, die selbst gern hinter die Kulissen der Literaturwelt blicken und sich nicht nur von den Endergebnissen in Form von Romanen berieseln lassen wollen.

4/5 Sterne

 
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pengulina

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Ich lese da ja immer mal wieder rein und habe mir gestern abend zu Gemüte geführt, warum wir seiner Ansicht nach nicht alle die gleichen Bücher mögen können - es liegt an unserer Sozialisierung und unserer Position innerhalb der Familie. Das ist zwar meiner Ansicht nach nicht der einzige Grund, aber da ist etwas Wahres dran.
 

pengulina

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das nachträgliche Ausbügeln von Texten nach den Wünschen des Buchmarktes
Dazu passt, was ich seinerzeit in meiner Rezension zu Grossmans "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" geschrieben hatte, ich zitiere:
Erstaunlich fand ich die ersten 80 Seiten. Sie beschreiben, wie sich die drei Freunde kennengelernt haben und erzählt auch vom Krieg. In der englischen Ausgabe ist diese Exposition viel kürzer, die Übersetzerin hat mir erzählt, das habe daran gelegen, dass der amerikanische Verlag seinen Lesern nicht so viele Details zumuten wollte.
 
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27. Dezember 2021
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die Übersetzerin hat mir erzählt, das habe daran gelegen, dass der amerikanische Verlag seinen Lesern nicht so viele Details zumuten wollte
Das muss man sich mal vorstellen! Da wird einfach am Originaltext rumgedoktert. Sollen sie es doch der Leserschaft überlassen, ob sie diese Textstellen überspringt oder nicht.
Damals konnte ich das noch nicht für mich selbst einordnen, aber ich habe noch als Schülerin der 11. oder 12. Klasse mir "Brave New World" gekauft, in der deutschen Übersetzung. Diese begann mit einem Vorwort, in dem der Übersetzer darlegte, dass er die Namen der Hauptprotagonist:innen eingedeutscht habe (ganz lächerlich Hans oder sowas, den der Frau weiß ich auch nicht mehr) und dass es doch egal sei, ob die Handlung in einer Zukunftsstadt, die London entspreche, spiele oder einer, die Berlin enstpreche. Somit habe er einfach mal eben die Handlung auf Kontinentaleuropa verlegt... Ich konnte die mir damals gut bekannte Buchhändlerin davon überzeugen meine deutsche Ausgabe wieder zurückzunehmen und mir die englische Originalausgabe stattdessen zu bestellen. Und: natürlich ist es nicht irrelevant, ob London oder Berlin der Handlungsort ist, wenn es nach den - im Neusprech rausretuschierten Kriegen - z.B. Russland als Antagonisten gibt etc.
 
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Das muss man sich mal vorstellen! Da wird einfach am Originaltext rumgedoktert.
Das ist nicht in Ordnung - milde ausgedrückt. Übersetzen spielt eine immer wichtigere Rolle. Ich bin ja auch dafür, dass der Name des Übersetzers mit auf dem Cover steht. Da gibt's ja auch diese Übersetzerseite, ein interessantes Magazin. Bei Klassikern muss man sich schon vorher informieren, welche Übersetzung man kaufen möchte.
 
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Mir war das nur aufgefallen, weil ich nach der englischen auch die deutsche Übersetzung des Romans gelesen habe, da habe ich kurzerhand die Übersetzerin angeschrieben. Ich bin ja selbst von Beruf Übersetzerin, nur habe ich nie Belletristik übersetzt.
 
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Ich glaube, inzwischen wird mehr darauf geachtet. Mir ist die Problematik erstmals aufgefallen, als es um den 'Gepardo' ging und verschiedene Stellen verglichen wurden. Auch Swetlana Geier (Dostojewski) ist in diesem Zusammenhang interessant. Ich stelle es mir jedenfalls äußerst schwierig vor, Belletristik zu übersetzen und den richtigen Ton zu treffen, da Sprachen ja nie deckungsgleich sind.

 
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Mir ist die Problematik erstmals aufgefallen, als es um den 'Gepardo' ging und verschiedene Stellen verglichen wurden.
Welche Übersetzung würdest du denn empfehlen? Die neue oder die alte?

Immer, wenn ich mal Übersetzungen verglichen habe, hatte ich den Eindruck, dass im Grunde genau dasselbe gesagt wird,nur mit anderen Worten. Zuletzt bei "Hunger" von Knut Hamsun.
(Man beachte: zwei deutsche Ü's!)

Ich stelle es mir unglaublich schwer vor, poetische Texte zu übertragen oder auch alte Klassiker. Da muss man schon ein extrem gutes Feeling für die (Fremd)Sprache haben.
 
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Federfee

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Welche Übersetzung würdest du denn empfehlen? Die neue oder die alte?
Es gibt sogar zwei alte; die neueste ist von Kroeber und die habe ich gewählt, nachdem ich bei Tralalit (blöder Name) von ihm einen ausführlichen Vergleich gelesen habe.
Immer, wenn ich mal Übersetzungen verglichen habe, hatte ich den Eindruck, dass im Grunde genau dasselbe gesagt wird,nur mit anderen Worten.
Ich glaube, das hat Kroeber auch so ähnlich gesagt. Er ist ja auch der Übersetzer von Umberto Eco und der hat ein Buch über das Übersetzen geschrieben, gibt's aber im Moment wohl nicht in Deutsch.
Ich stelle es mir unglaublich schwer vor, poetische Texte zu übertragen oder auch alte Klassiker. Da muss man schon ein extrem gutes Feeling für die (Fremd)Sprache haben.
Das stelle ich mir auch ungeheuer schwierig vor; da ist viel Feingefühl gefragt. ich finde, der Übersetzername gehört mit aufs Cover.
 

Literaturhexle

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ich finde, der Übersetzername gehört mit aufs Cover.
Auf alle Fälle haben sie mehr Aufmerksamkeit verdient, als es früher Usus war. Gleichsetzen mit dem Autor würde ich auch nicht.
Wenn der Übersetzer generell auf dem Cover stünde, wüsste man bei Klassikern wenigstens sofort Bescheid und müsste nicht recherchieren, wer übersetzt hat.
 

Wandablue

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Ich stelle es mir jedenfalls äußerst schwierig vor, Belletristik zu übersetzen und den richtigen Ton zu treffen, da Sprachen ja nie deckungsgleich sind.
das ist ja die Kunst. Das hat aber mit der heute praktizierten Verfälschung - notfalls sogar, damit sie in die Gender- und WokenessIdeologie passt - rein gar nichts zu tun.