3. Leseabschnitt: Drittes Stück (Seite 114 bis 182)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Weiterhin scheint es mir auch in diesem LA wenig Veränderungen an unserem Protagonisten in seinem grundsätzlichen Handeln zu geben. Er erkennt kaum, wann ihm jemand helfen will, versteht Hilfsangebote entweder gar nicht oder falsch und gibt sein Geld an scheinbar "die Armen", wie die Kuchenfrau.

Mir ist noch im Hinterkopf von einer Besprechung, die ich vor einer ganzen Weile zum Buch gesehen habe, dass gesagt wurde: "Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlen muss, zu hungern." Dieser globalen Aussage würde ich nur sehr eingeschränkt zustimmen. In manchen Momenten beschreibt Hamsun ganz großartig die geistigen und körperlichen Verfallserscheinungen unter längerer Nahrungsdeprivation. Aber wie der Protagonist immer wieder handelt und selbst in der größten Not nicht das Geld nutzt, um Nahrung zu kaufen, er seiner Ehrhaftigkeit treu bleiben will, erscheint mir sehr speziell nur für diese Person. Wenn Menschen tatsächlich dem Tode durch Hunger nahekommen, dann fallen die moralischen Zweifel vielleicht nicht gleich sofort, aber doch irgendwann von ihnen ab. Dass er hier so lange, sich so zurückhaltend verhält, um an Essen zu kommen, ist mir ein besonderer Zug des Protagonisten und meines Erachtens nicht verallgemeinerbar.

So, und nun komme ich zu dieser ganzen Episode/die Episoden um "Ylajali". Sehr lange glaubte ich, dass sich alles, was nach der Sache mit dem "Sie verlieren Ihr Buch!" und dem Folgen in das Haus Nr. 2 zu tun hatte, nur im Kopf des Protagonisten stattfindet. Sprich, er hat diese Frau tatsächlich einmal gesehen und verfolgt und später aber in seinem Delir sich die Momente, in denen sie unter der Lampe vor seiner Unterkunft wartete, er mit ihr spazierenging, und auch das ausgemachte Treffen bei ihr zuhause einbildete. Gerade die Vorkommnisse in der Wohnung der Frau lassen mich aber auch wieder daran zweifeln. Vielleicht hat sie ihn doch eingelassen, er hat sie vergewaltigt, in seiner Vorstellung/Delir das aber so gar nicht mitbekommen. Es fehlen ihm Momente. Auf S. 174 liegt sie plötzlich "mit völlig offenen Kleidern da", obwohl zuvor er die Knöpfe nicht aufbekommen hat. Sie wehrt sich, sagt nein. (Was für ein immer noch und besonders aktuelles Thema!!) Danach will er sich auf den Teppich knien, dort "auf der roten Farbe direkt vor ihren Füßen". Ich nehme an, es handelt sich um Blut von der Vergewaltigung, aber er integriert das überhaupt nicht in seine psychotischen Wahrnehmungen. Er meint sie sagen zu hören "Ich habe Sie trotzdem gern!" und stellt selbst fest, dass er vielleicht nicht richtig hörte. Aber sowas von! Also was denkt ihr, ist das alles wirklich geschehen?

Was mich auch noch interessiert: Wir haben es ja in den Anmerkungen gelesen, dass der gesamte Dialog, in dem es um das Drängen etc. geht, getilgt worden sei in späteren Fassungen. Leider kann ich daraus nicht richtig deuten, ob die gesamte Nötigung/Vergewaltigung in späteren Buchfassungen nicht mehr auftauchte. Weiß das jemand zufällig? Und wenn es so ist, warum hat Hamsun die Szene gestrichen? Wollte er diesen männlichen Protagonisten doch nicht mehr schäbig aussehen lassen? Ich weiß es nicht so recht.
 

pengulina

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22. November 2022
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Habt ihr den Artikel vom 12.1. in Deutschlandfunk Kultur zum Buch gesehen?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Also was denkt ihr, ist das alles wirklich geschehen?
Ich habe mich das natürlich auch gefragt, wobei ich anders als du die Szenen nach der Verfolgung noch für bare Münze genommen hatte.

Bei der jetzigen Szene mit der Frau dachte ich zunächst, vor seiner Unterkunft wartet jemand auf ihn, der sich an ihm aus irgendwelchen Gründen rächen will. Diese Verschleierung und das Verhalten wirkten auf mich wie eine Trauernde. Da dachte ich, der Protagonist wäre vielleicht Schuld am Tod ihres Mannes oder Ähnliches. Doch, siehe da, es ist Ylajali.

Je intensiver das Verhältnis der beiden wurde, umso sicherer wurde ich, dass der Ich-Erzähler sich das alles einbildet. Was sollte die Frau an ihm finden? Sie verweist sogar nur auf negative Auffälligkeiten. Kann doch also eigentlich alles nicht stimmen, oder? Wobei, wer weiß, in diesem Roman scheint andererseits auch alles möglich...
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Was sollte die Frau an ihm finden?
Genau das dachte ich auch. Er sieht zu diesem Zeitpunkt schon verdammt abgerissen aus. Mal vom "Standesunterschied" abgesehen, wäre er ja wahrscheinlich auch nicht unbedingt körperlich anziehend, kann sich nicht richtig waschen, also stinkt er wahrscheinlich auch mehr, als das damals der Normalfall gewesen sein sollte, usw.
An einer Stelle erwähnt sie, dass sie ihn schon früher einmal mit Freunden im Theater gesehen habe. Da habe ich mich dann gefragt, wenn das Ganze im Kopf des Erzählers stattfindet, ob es sein eigenes Unterbewusstsein ist, was ihm hier sagen will: "Schau her, früher warst du mal ein stattlicher junger Mann. Jetzt sieht das schon ganz anders aus."
Die Frage, ob und was sich der Erzähler vielleicht nur einbildet, wird allerdings mit keinem Wort im Nachwort hinterfragt. Das hat mich gewundert, da das bei seinen Bewusstseinsstörungen und merkwürdigen Wahrnehmungen durchaus eine - meines Erachtens - interessante Frage bezüglich des Romans ist.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Der Auftakt dieses dritten Abschnitts ist für mich fast symptomatisch für den gesamten Roman. "Eine Woche verging in Herrlichkeit und Freuden", beginnt der Ich-Erzähler - nur um anschließend alles aufzuzählen, was schlecht gelaufen ist. Das passt so gut zu diesem wechselhaften Ton, dem Manisch-Depressiven, wie ich es im ersten Abschnitt bezeichnete.

Die ganze Geschichte rund um Ylajali hat in meinen Augen für ein bisschen Abwechslung gesorgt, weil es sich hierbei um mehr als eine der üblichen Begegnungen auf seiner Hungerstour handelt. Wie oben erwähnt, halte ich es für zweifelhaft, ob diese Begegnung wirklich real ist. Den Spoiler von @GAIA habe ich noch nicht gelesen.

Die Betrugsgeschichte halte ich auch noch für bemerkenswert, vor allem, weil ich sie komplett anders verstanden hatte. Ich ging davon aus, dass der Kaufmannsgehilfe ihm das falsche Wechselgeld absichtlich, also aus Mitleid, gegeben hatte. Und zunächst dachte ich auch, der Ich-Erzähler würde es genauso verstehen. Dann wird aber plötzlich doch wieder eine Geschichte um Ehre und Moral daraus, und erneut kann die Figur nicht mit diesem unverhofften "Lohn" umgehen.

Die Fragen nach Anstand und Moral prägen den gesamten Roman. Kann ein Mensch anständig bleiben, obwohl er Hunger leidet? Und IST der Protagonist eigentlich anständig, bzw. das, was wir darunter verstehen? Denn immer wieder gibt es diese psychotischen Schübe, unter denen die Mitmenschen dann doch auch zu leiden haben.

Ansonsten eigentlich alles wie gehabt: Die Hungertour durch Kristiania geht weiter...
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Den Spoiler von @GAIA habe ich noch nicht gelesen.
Keine Angst, da steht nichts drin, was die Rezeption des Rests des Romans verändern würde. Es spoilert quasi nur, ob etwas im Nachwort verhandelt wird oder nicht. Somit also eher ein Spoiler fürs Nachwort, nicht für den Roman.
Da ploppte in meinen Gehirn grad beim Lesen "Hunger Games" auf. Völlig anderes Genre, aber egal. ;)
Kann ein Mensch anständig bleiben, obwohl er Hunger leidet? Und IST der Protagonist eigentlich anständig, bzw. das, was wir darunter verstehen?
Genau das müsste ja erst einmal definiert werden. Denn zum Beispiel "anständig" seinem eigenen Befinden gegenüber scheint er nicht zu sein. Anständig nach seiner eigenen inneren Definition vielleicht. Aber er wirkt zumindest bedrohlich auf andere Menschen in seinem Zustand. Es wäre auch anständig, eine angebotene Hilfe mit einem ordentlichen Dank entgegenzunehmen.
 

Barbara62

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Tatsächlich kann ich mit den Szenen um Ylajali auch am wenigsten anfangen. Selbst wenn die Frau abenteuerlustig wäre, der Ich-Erzähler muss stinken und völlig verdreckt sein, er hat eine offene Wunde am Bauch, er trägt seit Wochen 24 Stunden die gleichen Kleider. Schwer vorstellbar.
Wenn es eine Vergewaltigung war, warum küsst sie ihn zum Abschied? Ich hatte die Szenen für real gehalten, schwanke aber nun.

Habt ihr die Szene mit der Kutschfahrt verstanden?
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Überhaupt wundere ich mich, wie ein derart entkräfteter Mann eine gesunde junge Frau niederringen sollte.
Ich hab mich generell immer wieder gewundert, wie der entkräftete Erzähler durch die ganze Stadt wandert und dies und das tut. Und natürlich im Speziellen auch das von dir angesprochene. Wobei hier noch die gesellschaftliche „Erziehung“ der jungen Frau eine Rolle spielen könnte. Ein Mädchen sagt eigentlich nicht einmal „nein“, eine Abwehr könnte dann auch dementsprechend fräuleinhaft-dezent ausgesehen haben. Oder? Aber wieder: Ist es überhaupt so oder teilweise so geschehen? Keine Ahnung.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Im 3. Teil nehmen wir Teil an immer schnelleren und stärkeren Stimmungswechseln des Erzählers. Mal ist er voller Hoffnung und Zuversicht, mal am Boden zerstört, mal vertraut er auf Gott und dessen Gnade, mal verflucht er diesen regelrecht wegen mangelnder Anteilnahme. Und auch in diesem teil haben wir Zeitwechsel beim Erzählen. Von der Vergangenheit wechselt der Erzähler immer mal wieder für kurze Abschnitte in die Gegenwart. Ich finde das übrigens ein sehr passendes Stilmittel, es erhöht für mich die Unmittelbarkeit des Geschehens, wenn ich es dann plötzlich in der Gegenwart lese und lässt mich so noch näher an den Erzähler und dessen Empfinden heranrücken.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich finde das übrigens ein sehr passendes Stilmittel, es erhöht für mich die Unmittelbarkeit des Geschehens, wenn ich es dann plötzlich in der Gegenwart lese und lässt mich so noch näher an den Erzähler und dessen Empfinden heranrücken.
Das geht mir beim erzählerischen Präsens tatsächlich auch immer so, also auch ohne einen Wechsel der Zeit. Einige mögen die Zeit ja nicht so, weil sie keine klassische Erzählzeit ist, aber ich finde es immer wieder erfrischend.
 

parden

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13. April 2014
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www.litterae-artesque.blogspot.de
Nicht mein Buch! Herrje, die Wahnhandlungen oder -vorstellungen - wer weiß das schon?! - nehmen kein Ende, er wird halb überfahren, und schlimm ist der kaputte Schuh, nicht sein Fuß, er bekommt nichts mehr geschrieben, und die Deutungsebenen des Ganzen scheinen endlos. Schon das Spekulieren hier in der LR macht mich ganz verrückt. Ich habe gelesen, dass Hamsun u.a. von Kafka bewundert wurde - ha! Da haben wir es. Mit Kafka kann ich überhaupt nichts anfangen, und wenn der sich an Hamsun orientiert hat? Wahnsinn, Hoffnung, Verzweiflung, Scham - ein ewiger Kreislauf. Selbst zunächst eindeutige Begebenheiten wie die Herausgabe des Wechselgeldes durch den Gehilfen zerfasern letztlich in eine Vieldeutigkeit. Ich mag das nicht, verweigere jegliche Spekulation und warte jetzt nur noch ab, ob es zuletzt doch noch einen Ausweg gibt oder ob der Hungernde auf ein konsequentes Ende hin zusteuert. Vielleicht bleibt aber auch das Ende noch im Bereich der Spekulationen, wer weiß...