Weiterhin scheint es mir auch in diesem LA wenig Veränderungen an unserem Protagonisten in seinem grundsätzlichen Handeln zu geben. Er erkennt kaum, wann ihm jemand helfen will, versteht Hilfsangebote entweder gar nicht oder falsch und gibt sein Geld an scheinbar "die Armen", wie die Kuchenfrau.
Mir ist noch im Hinterkopf von einer Besprechung, die ich vor einer ganzen Weile zum Buch gesehen habe, dass gesagt wurde: "Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlen muss, zu hungern." Dieser globalen Aussage würde ich nur sehr eingeschränkt zustimmen. In manchen Momenten beschreibt Hamsun ganz großartig die geistigen und körperlichen Verfallserscheinungen unter längerer Nahrungsdeprivation. Aber wie der Protagonist immer wieder handelt und selbst in der größten Not nicht das Geld nutzt, um Nahrung zu kaufen, er seiner Ehrhaftigkeit treu bleiben will, erscheint mir sehr speziell nur für diese Person. Wenn Menschen tatsächlich dem Tode durch Hunger nahekommen, dann fallen die moralischen Zweifel vielleicht nicht gleich sofort, aber doch irgendwann von ihnen ab. Dass er hier so lange, sich so zurückhaltend verhält, um an Essen zu kommen, ist mir ein besonderer Zug des Protagonisten und meines Erachtens nicht verallgemeinerbar.
So, und nun komme ich zu dieser ganzen Episode/die Episoden um "Ylajali". Sehr lange glaubte ich, dass sich alles, was nach der Sache mit dem "Sie verlieren Ihr Buch!" und dem Folgen in das Haus Nr. 2 zu tun hatte, nur im Kopf des Protagonisten stattfindet. Sprich, er hat diese Frau tatsächlich einmal gesehen und verfolgt und später aber in seinem Delir sich die Momente, in denen sie unter der Lampe vor seiner Unterkunft wartete, er mit ihr spazierenging, und auch das ausgemachte Treffen bei ihr zuhause einbildete. Gerade die Vorkommnisse in der Wohnung der Frau lassen mich aber auch wieder daran zweifeln. Vielleicht hat sie ihn doch eingelassen, er hat sie vergewaltigt, in seiner Vorstellung/Delir das aber so gar nicht mitbekommen. Es fehlen ihm Momente. Auf S. 174 liegt sie plötzlich "mit völlig offenen Kleidern da", obwohl zuvor er die Knöpfe nicht aufbekommen hat. Sie wehrt sich, sagt nein. (Was für ein immer noch und besonders aktuelles Thema!!) Danach will er sich auf den Teppich knien, dort "auf der roten Farbe direkt vor ihren Füßen". Ich nehme an, es handelt sich um Blut von der Vergewaltigung, aber er integriert das überhaupt nicht in seine psychotischen Wahrnehmungen. Er meint sie sagen zu hören "Ich habe Sie trotzdem gern!" und stellt selbst fest, dass er vielleicht nicht richtig hörte. Aber sowas von! Also was denkt ihr, ist das alles wirklich geschehen?
Was mich auch noch interessiert: Wir haben es ja in den Anmerkungen gelesen, dass der gesamte Dialog, in dem es um das Drängen etc. geht, getilgt worden sei in späteren Fassungen. Leider kann ich daraus nicht richtig deuten, ob die gesamte Nötigung/Vergewaltigung in späteren Buchfassungen nicht mehr auftauchte. Weiß das jemand zufällig? Und wenn es so ist, warum hat Hamsun die Szene gestrichen? Wollte er diesen männlichen Protagonisten doch nicht mehr schäbig aussehen lassen? Ich weiß es nicht so recht.