1. Leseabschnitt: Erstes Stück (Seite 5 bis 64)

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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Hamsun war auf der Rückfahrt aus den USA, das Schiff machte in Kristiana Halt. An das heutige Oslo hatte er unangenehme Erinnerungen, weil er bei einem früheren Aufenthalt arbeitslos war und gehungert hatte. In Kopenhagen begann er mit dem Schreiben, dabei hungerte er wieder. Diese bedrückende Atmosphäre bringt er in einer radikal realistischen Schilderung zum Ausdruck.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich bin sehr gut in die Lektüre reingekommen. Die Sprache von Hamsun spricht mich sehr an und der unterschwellige Witz gefällt mir. Der Ich-Erzähler schwankt für mich bisher darin, ob ich für ihn Sympathie empfinde oder einfach nur den Kopf schüttle. Ist es Hochnäsigkeit, die immer wieder dazu führt, dass er an andere Leute Geld/Dinge verschenkt, damit er nicht allzu arm dasteht vor ihnen? Es wirkt auf mich so. Seine Gefühlsausbrüche wirken (mit einem Augenzwinkern) auf eine heutige Leserin, als ob ein emotional instabiler Mensch, mit geringem Selbstwert, immer wieder versucht über seine Hilflosigkeit Kontrolle zu gewinnen. Dabei überschätzt sich der Protagonist ständig. Ein wenig musste ich an den Protagonisten aus folgendem, zeitgenössischem Buch denken:
Der überschätzt sich auch ständig und es ist trotzdem interessant und amüsant, seiner Geschichte zu folgen, selbst wenn sie bergab geht.
In "Hunger" erinnert mich die ganze Szenerie an das Bild "Der arme Poet" von Carl Spitzweg.
Und zuletzt: Musstet ihr auch beim "elektrischen Psalmbuch" an einen modernen eReader denken? ;)
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich bin noch nicht weit fortgeschritten, aber kann mir jemand den Abschnitt auf S. 5 von "Ich liege wach in meiner Dachkammer" bis "...Olsens frisch gebackenes Brot" erklären? Sieht er das in der Erinnerung bzw. vor seinem inneren Auge? :think Bin ziemlich verwirrt...
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Es ist sehr schwer, sich ein konsistentes Bild der Hauptfigur zu machen, denn er reagiert auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf seine recht ausweglose Situation des Hungerns und Darbens. Mal ist er voller Hoffnung und Optimismus und überschätzt sich dabei gern und stark. Mal ist er verzweifelt und fühlt sich am Rande eines Abgrunds. Doch eines kann man ihm bestimmt nicht absprechen und das ist es, was ihn für mich sympathisch und gleichzeitig interessant macht. Er durchlebt sein Unglück mit einer tiefen inneren Würde und versucht immer trotz seiner noch so kleinen Chancen auf Besserung Mensch und menschlich zu bleiben. Die existentielle Situation, die Hamsun uns hier schildert, bringt der Autor sprachlich treffend und vielschichtig an seine Leser und deshalb gefällt mir die Lektüre bisher auch gut und ich freue mich auf die nächsten Teile und wünsche unserem Helden aus tiefstem Herzen: Viel Glück und Erfolg bei allen versuchen, dem Hunger und dem Elend zu entkommen!
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Mainz
So, der erste Abschnitt ist gelesen. Genau wie vor vielen Jahren bei der ersten Lektüre bin ich sehr angetan von der Kunst Hamsuns. Sein Protagonist ist ein armer Kauz, die Situation scheint aussichtslos. Hungernd durchlebt er Höhen und tiefen, denn die Hoffnung gibt er so schnell nicht auf. So endet auch dieser Abschnitt mit einem Lichtblick.
Die Schriftstellerei wird hier als harter Job beschrieben, wo man nicht gewiss sein kann, ob der Verdienst für die Kosten des morgigen Tages reichen wird, vielmehr kann man sich überhsupt nichts wirklich gewiss sein.
Das hat mich vor vielen Jahren schon sehr berührt und ist auch jetzt beim Reread der Fall.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Die Schriftstellerei wird hier als harter Job beschrieben, wo man nicht gewiss sein kann, ob der Verdienst für die Kosten des morgigen Tages reichen wird, vielmehr kann man sich überhsupt nichts wirklich gewiss sein.
Daran hat sich wohl auch nicht viel oder wesentliches geändert. Es sei denn, man gehört zu den Bestsellern eines Verlags mit großem Werbeetat. Aber die kleinen (egal ob Verlage, Autor*innen etc.) kämpfen ums Überleben...Erst recht die (talentierten) Selfpublisher :cool:.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ein seltsames Buch! Trotz des eigentlich schwierigen Themas muss ich oftmals richtig lachen, weil der Humor so schön irre ist. Beispielsweise als der Ich-Erzähler diese Frauen verfolgt und sich irgendeinen Namen ausdenkt. Oder als er mit dem Halbblinden auf der Bank sitzt und sich mal eben eine komplette Geschichte ausdenkt, die sein Gegenüber nicht nur glaubt, sondern sogar zu bestätigen scheint. Herrlich!

Dennoch ist es auch ein anstrengendes Buch. Dieser manisch-depressive Protagonist, der eigentlich fast alles falsch macht und sehenden Auges ins Unheil rennt. Sei es im Job oder privat, zum Beispiel bei der Wohnsituation. Oder das falsche Jahr in der Bewerbung. Ein Idiot letztlich. Er erinnert mich sehr stark an jemanden, den ich wirklich kenne, also halte ich die Figur für keineswegs überzogen.

Ich mag die Atmosphäre in Kristiania, die Geräusche und Menschen, die geschilderten Dinge. Dennoch erhoffe ich mir auch etwas Entwicklung und nicht ein permanentes Umhertigern. Mal sehen, ob das mit der Veröffentlichung seines Artikels und dem Geld wirklich etwas wird. Ich habe da so meine Zweifel.
 
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Barbara62

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Doch eines kann man ihm bestimmt nicht absprechen und das ist es, was ihn für mich sympathisch und gleichzeitig interessant macht. Er durchlebt sein Unglück mit einer tiefen inneren Würde und versucht immer trotz seiner noch so kleinen Chancen auf Besserung Mensch und menschlich zu bleiben.
"Innere Würde" gefällt mir sehr gut. Äußerlich scheint er ja inzwischen so heruntergekommen zu sein, dass er für einen Bettler gehalten wird. Aber er versucht mit ungeheuerlicher Verzweiflung alles, um diesem Anschein entgegenzuwirken. Es scheint ihm aber nur bei dem fast blinden Greis zu gelingen.

Dennoch ist es auch ein anstrengendes Buch. Dieser manisch-depressive Protagonist, der eigentlich fast alles falsch macht und sehenden Auges ins Unheil rennt. Sei es im Job oder privat, zum Beispiel bei der Wohnsituation. Oder das falsche Jahr in der Bewerbung. Ein Idiot letztlich. Er erinnert mich sehr stark an jemanden, den ich wirklich kenne, also halte ich die Figur für keineswegs überzogen.
Auf die Idee, dass er manisch-depressiv sein könnte, wäre ich nicht gekommen. Er ist verzweifelt, ein Unglücksrabe, der Hunger lässt ihn seltsame Dinge tun, ihm ist schwindlig, er hat rasende Kopfschmerzen, es ist ihm übel, vielleicht hallunziniert er sogar, aber für psychisch krank halte ich ihn nicht.

Wenn wir ehrlich sind, ist "unser Held", wie Miqui Otero schreiben würde, schon ein ziemlicher Taugenichts.
Ich weiß nicht, wie die allgemeine wirtschaftliche Lage damals in Kristiania war. Ich denke eher an Fallada und "Kleiner Mann, was nun".
 

Barbara62

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Mir hat der Einstieg sehr gut gefallen, ich erwarte allerdings, wie @Christian1977, eine Entwicklung. Es ist ein Bewusstseinsstrom, dem wir folgen, das sagt man doch so, oder? Die Wirklichkeit lässt sich nur in den Beobachtungen erahnen, die der Ich-Erzähler an den Menschen, die ihm begegnen, macht, z. B. den Anschein des Bettlers.
 

Literaturhexle

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Bewusstseinsstrom ist auch die Vokabel, die mir gleich in den Sinn gekommen ist. Mrs. Dalloway lässt grüßen;)

Man bekommt die Notlage des Erzählers sehr plastisch mitgeteilt. Er hat schon lange nichts gegessen, es geht ihm schlecht. Doch er tut alles, um diese Tatsache vor seiner Umwelt zu verbergen. Das hat etwas sehr Verzweifeltes an sich. Dadurch verschenkt er noch das Wenige, was er hat, um den Eindruck zu zerstreuen, er könnte ein armer Mann sein.

Sein Verhalten ist völlig widersinnig. Seine Stimmungen schwanken. Er ist tatsächlich ein guter Geschichtenerzähler. Die Leute glauben ihm oder sind zumindest fasziniert wie die junge Frau, die angeblich ein Buch verlieren würde.

Ich hatte gehofft, er würde in sein Zimmer zurückgehen. Ohne Wohnung wird seine Talfahrt sich beschleunigen. Nun hat er den Brief gefunden. 10 Kronen könnten ihn eine ganze Weile über Wasser halten, aber unser Prota kann mit Geld nicht umgehen. Wie gewonnen, so zerronnen, könnte man sagen. Wie konnte er dem hinkenden Mann 2/3 des Westenerlöses geben?!? Fragt man sich. Der Mann hat seine 7 Sinne nicht mehr beieinander. Mir kommt sein Zustand wie eine Art Delirium vor. Er trinkt ja auch wenig... Ob es nur am Zustand liegt, oder ob er generell etwas wirr drauf ist, lässt sich nicht sicher sagen.
"Die Jungfer" machte eine Bemerkung in der Richtung, dass der Prota dafür bekannt ist, dass er sein verdientes Geld gleich wieder weggibt (S. 43)." Seine Armut resultiert eindeutig auch aus eigener Blödheit.

Er widersteht der Versuchung "zum Onkel" zu gehen. Ist das nur ein Pfandleiher oder eine kriminelle Type? Der Prota ist stolz, noch immer rechtschaffen zu sein. Das ist ihm ebenso wichtig, wie kein Bettler zu sein.
 

Literaturhexle

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Wenn wir ehrlich sind, ist "unser Held", wie Miqui Otero schreiben würde, schon ein ziemlicher Taugenichts.
Ja. Er lässt sich treiben. Allerdings hat der derzeitige Hunger ihn auch fahrig und unkonzentriert gemacht. Man hat iwie nicht den Eindruck, als sei es ihm mit dem Geldverdienen ernst. Er denkt mehr, als dass er tut.
Außerdem kann er mit dem Vorhandenen nicht wirtschaften. Das ist ziemlich offensichtlich. Er muss Menschen, denen er begegnet, etwas geben.
vielleicht hallunziniert er sogar, aber für psychisch krank halte ich ihn nicht.
So geht es mir auch. Mir fällt "Delirium" ein. Trinken tut er ja auch kaum und wenn, ist das Wasser verdorben.