4. Leseabschnitt: Kapitel XV. bis Ende (Seite 235 bis 307)

GAIA

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27. Dezember 2021
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49
Thüringen
Das Buch habe ich schon gestern beendet, da ich wirklich reingezogen wurde in die Handlung und nicht aufhören konnte und wollte zu lesen.

Tatsächlich hatte ich mehrfach Herzklopf-Momente, zum einen wenn es um Surkhin und Jinn ging, aber auch z.B. diese schöne Sache mit dem zeitgenössischen, singapurischen Gedicht über das homosexuelle Paar und wie wichtig diese mehrfache, öffentliche Besprechung des Gedicht auch und besonders für Dennis war. Also ist die Figur des homosexuellen Dennis nicht einfach nur Beiwerk gewesen, sondern hatte in letzter Konsequenz sogar eine wichtige Verdeutlichung inne. Wenn ich das also richtig sehe, hat die Autorin keins der angebrachten Themenbereiche einfach nur angeschnitten und den Roman geworfen, sondern alle richtig integriert ins Geschehen.

So war ich gestern nach Abschluss der Lektüre richtiggehend warm und positiv gestimmt. Es ist keine ruck-zuck-ist-alles-gut-Geschichte, sondern sie hat sich Zeit gelassen, aber letztlich ist vom Gefühl her für die Personen doch noch alles so gelaufen, wie es für sie selbst richtig ist. Gefallen hat mir das Bild des "außerhalb der Box"-Denkens zum Schluss. Das Büro von Sukhin war auch wieder nur ein Karton, den er auch hinter sich lassen konnte bzw. seinen eigenen Bedürfnissen folgen.

Auch die Schwester von Jinn, Ping, ist den Bedürfnissen von Jinn gefolgt und hat sie für tot erklären lassen nach sieben Jahren. Ich habe es so verstanden, dass Ping (vielleicht durch die Drohnenaufnahmen vom Weihnachtsevent) mitbekommen hat, dass Jinn am Leben ist und Kontakt hat zu Sukhin, deshalb der abschließend an Jinn gerichtete Brief, der dem Tagebuch beilag. Und so schließt sich auch der Kreis zu den kursiven Textstellen, die ich gestern nicht mehr geschafft habe, noch einmal zu lesen, was ich aber heute noch vorhabe.

So könnte alles schön locker, fluffig wie ein Kuchenstück für mich bezüglich der Lektüre enden, hätte ich nicht gestern noch einen Beitrag bei Kulturzeit zum Thema Obdachlosigkeit gesehen. Dieser plus Erinnerungen an frühere Texte zu dem Thema haben mir verdeutlicht, dass die Autorin genau dieses Thema "Das Leben auf der Straße" im Roman doch recht einfach und problemfreier als es ist dargestellt hat. Außer dem Ereignis mit dem fanatischen Christen, hatte Jinn keinerlei beängstigende Erlebnisse. Und auch als Sukhin sie danach fragt, ob sie jemals Angst gehabt habe auf der Straße, sagt sie nein. Bezieht sich in ihrer Antwort auf den Zugang zu Essen und das vereinfachte Leben, weil man nicht viele Dinge mit sich rumschleppt. Das ist mir zu beschönigt dargestellt. Ich habe im Hinterkopf, das obdachlose Menschen häufig Ziel von verbalen und körperlichen Angriffen werden und gerade weibliche Personen eine besonders hohe Gefahr haben, wenn sie allein und nciht in einer Gruppe leben, überfallen und vergewaltigt zu werden. Jinn hat 7 Jahre auf der Straße gelebt und sie soll nur das eine Mal durch den Christen-Fritzen beängstigt gewesen sein?
Auch in dem Zelt-Camp im Park wird nie thematisiert, dass Polizei vorbeikommen könnte, um sie zu verjagen. Der Mann meint sogar, komisch, seit wir auf der Straße leben, ist plötzlich das Wasser kostenlos etc. Auch das erscheint mir recht vereinfacht dargestellt.

Insgesamt hat mir dieses insgesamt warmherzige Buch trotzdem sehr gut gefallen. Bis zum Schluss musste ich, wie im vorherigen LA erwähnt, an die Atmosphäre von "Was man von hier aus sehen kann" von Mariana Leky denken. Beide Bücher haben mir an bestimmten Stellen Herzklopfen beschert und mich nach Abschluss der Lektüre positiv in die Welt entlassen.

Ich hab jetzt bestimmt einige Stellen vergessen zu erwähnen, aber es folgt ja noch die Diskussion mit euch, da kommen wir sicherlich noch auf die ein oder andere Sache zu sprechen. :)
 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.227
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Thüringen
Nachtrag:
Natürlich habe ich diese schreckliche Entscheidung der Großmutter, so ziemlich alles Jinn zu vererben, noch nicht erwähnt. Das muss doch der Großmutter klar gewesen sein, dass sie in so einer Familie damit nur Unmut sät. Was war ihr Anliegen damit. Ich meine, da klar, kann man ein Enkelkind so unendlich lieben, dass man es zum Alleinerben machen möchte, aber die Großmutter war ja nicht dumm. Sowas macht man doch nicht. Ungleichmäßig vererbtes Geld und Familie ist doch noch nie in der Menschheitsgeschichte gutgegangen.

[Und noch ein Nachtrag an den Verlag, sollte dieser direkt hier mitlesen: Es haben sich über das gesamte Buch einige Tippfehler, Dopplungen oder Autokorrektur-Wörter eingeschlichen. Da sollte noch einmal insgesamt drübergelesen werden. Fand ich jetzt nicht ganz schrecklich schlimm, aber es war doch auffallend häufig der Fall.]
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Im Prinzip hast du natürlich recht, @GAIA , dass das Thema Obdachlosigkeit hier ein wenig verharmlost wird - oder auch stark verharmlost. Aber ich denke, wir müssen im Auge behalten, dass Jinns Obdachlosigkeit eine selbst gewählte Lebensform ist, quasi als Selbsttherapie gedacht aus ihrer Situation heraus. Ich dachte schon so etwas ähnliches, als Sukhin ihr anbot, bei ihm zu übernachten, und sie antwortete: "Wieso, hast du schönere Kartons?" Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht den typischen Gefahren obdachloser Frauen ausgesetzt wäre. Aber sie ist nicht "abgerutscht" oder verarmt, sondern freiwillig auf der Straße "verschwunden".

Ich fand dieses Buch, noch weit mehr wegen der Erzählweise als wegen des Themas, unglaublich herzerwärmend und erfrischend zu lesen. Mehr dazu im Fazit, aber ich kann mir gut vorstellen, mal wieder die 5 zu ziehen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.227
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Thüringen
unglaublich herzerwärmend und erfrischend zu lesen
Das hast du sehr gut gesagt. Vor allem „herzerwärmend“ finde ich besonders passend. Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen.

dass Jinns Obdachlosigkeit eine selbst gewählte Lebensform ist,
Mein erster Reflex war diesbezüglich (da ich dies auch schon durchdacht hatte), dass die „Verharmlosung“ dann vielleicht noch schlimmer ist, weil man die Entscheidung Jinns überspitzt gesagt als „Life-Style-Entscheidung“ bewerten müsste. Was dem Ganzen die Krone aufsetzen würde. Aber als ich deinen Post las, musste ich daran denken, dass gleich zu Beginn gesagt wird, dass sie sehr gepflegt aussieht, eigentlich wie eine Person, die auch ins Yoga-Studio, wo sie duschen geht, auch hinpassen würde. Vielleicht - oder sogar wahrscheinlich - schützte sie auch dieses Aussehen und Auftreten, was sie durch ihre gute Kinderstube mitbringt, vor Übergriffen. Denn es wird nun einmal eher nach unten als auf gleicher Ebene oder gar nach oben gehackt. Und wenn sie nicht auf den ersten Blick wie jemand aussieht, der auf die Straße gehört, könnte sie diesen imaginären Schutzmantel getragen haben.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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diese schöne Sache mit dem zeitgenössischen, singapurischen Gedicht über das homosexuelle Paar und wie wichtig diese mehrfache, öffentliche Besprechung des Gedicht auch und besonders für Dennis war.
Das hat mir auch gefallen. Vor allem aber auch, weil er zumindest einen Schüler damit so erreicht und berührt hat.
dass die Autorin genau dieses Thema "Das Leben auf der Straße" im Roman doch recht einfach und problemfreier als es ist dargestellt hat.
Mir ist das ehrlich gesagt während der Lektüre nicht so aufgefallen. Aber du sprichst einen sehr wichtigen Punkt an und wenn ich darüber nachdenke, finde ich diese Darstellung auch zumindest zweifelhaft. Vielleicht ist es aber auch so, dass Yeoh Jo-Ann hier bewusst Lücken lässt. Jinn ist ja eine Figur, die gar nicht alles erzählt, sich vieles aus der Nase ziehen lässt. Genauso wie sie vielleicht gar nicht alles preisgegeben hat, was zu dieser Situation führte. Muss es nicht neben den Erbstreitigkeiten weitere Gründe geben, die für eine solch radikale Änderung der Existenz sprechen? Reicht es, "den Verstand zu verlieren"?
Aber ich denke, wir müssen im Auge behalten, dass Jinns Obdachlosigkeit eine selbst gewählte Lebensform ist, quasi als Selbsttherapie gedacht aus ihrer Situation heraus.
Ist es wirklich eine selbst gewählte Lebensform? Ich hatte das Gefühl, Jinn sieht einfach keinen anderen Ausweg mehr, ein "normales" Leben zu führen, was das auch immer heißen mag. Kann man wirklich von einer "Wahl" sprechen, wenn ansonsten eine Aussichtslosigkeit vorherrscht?
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ist es wirklich eine selbst gewählte Lebensform? Ich hatte das Gefühl, Jinn sieht einfach keinen anderen Ausweg mehr, ein "normales" Leben zu führen, was das auch immer heißen mag. Kann man wirklich von einer "Wahl" sprechen, wenn ansonsten eine Aussichtslosigkeit vorherrscht?
Mit "selbst gewählt" meinte ich, dass es sich nicht um die klassischen Gründe für Obdachlosigkeit handelt, nämlich Verlust der Wohnung wegen Armut.

Ich habe mal gegoogelt zur Frage Obdachlosigkeit in Singapur. Offiziell gibt es dort gar keine. In einem Artikel, der ein paar Jahre alt ist, ist die Rede von rund 1000 Obdachlosen, von denen fast neun Zehntel Männer sind. Der soziale Wohnungsbau ist angeblich in Singapur ein wichtiges Thema, auch die Verhinderung von Gettobildung. Ob das alles so stimmt, wie es da nachzulesen ist, ist natürlich eine andere Frage. Ich nehme an, Obdachlosigkeit kann man nie ganz ausrotten, weil es sehr unterschiedliche Gründe dafür gibt. Jinns Leben auf der Straße ist jedenfalls in dem Sinn "selbst gewählt", wie sich jemand entschließt, ins Heim zu übersiedeln oder in eine Klinik - von "freiwillig" kann da wohl keine Rede sein, aber was ist in diesem Sinn überhaupt Freiwilligkeit?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Nun war ich ja durch die Lektüre der vorangegangenen Abschnitte sehr positiv gestimmt. Daran hat sich auch durch den letzten Abschnitt kaum etwas geändert. Dennoch halte ich ihn nicht für den stärksten, was man sich ja vielleicht in einem Finale ansonsten erhofft.

Die Regenmaschine ist natürlich süß, dennoch streift der Roman hier dann vielleicht doch ganz leicht die Kitschgrenze. Nicht gravierend, aber auch keine Stärke.

Literarisch nicht so gut gelöst fand ich zudem, wie stückweise die Erzählung von Jinns Obdachlosigkeit hier vorangeht. Mir hätte es glaube ich besser gefallen, wenn entweder in einem langen Stück alles geklärt wird oder aber die Lücken zwischen den einzelnen Passagen größer sind. Vielleicht sogar in anderen Kapiteln. Hier ging es praktisch immer nach dem Motto "Morgen mehr" weiter - und dann folgte aber auch schon dieser Abschnitt. Seltsam.

Richtig stark fand ich hingegen, wie sich die kursiven Abschnitte samtweich in die Erzählung gefügt habe, so dass letztlich alles passen müsste. Die Geschichte mit den Mädchen und den Blumen, allen voran aber natürlich S. 251 die Szene mit dem Karton. Da haben Sukhin und ich Jinn also vollkommen falsch eingeschätzt. Ich hatte mich ja noch darüber beklagt, dass es gemein von ihr sei, Sukhin wieder mit einem mit Edding beschrifteten Karton zu begrüßen wie damals bei der Trennung. Doch siehe da: Es war vielmehr eine versteckte Liebesbotschaft damals, die Sukhin nie gelesen hat. Das ist sehr anrührend und für mich einer der Höhepunkte des Buches.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Doch siehe da: Es war vielmehr eine versteckte Liebesbotschaft damals, die Sukhin nie gelesen hat. Das ist sehr anrührend und für mich einer der Höhepunkte des Buches.
Es gibt bei (dem von mir sehr verehrten) Gottfried Keller ein ganz ähnliches Motiv. Da baut jemand ein unglaublich aufwendiges Papierlabyrinth und legt in die Geheimkammer in der Mitte einen Liebesbrief, und weil die Empfängerin zu blöd ist, das Ding zu entschlüsseln, entdeckt sie den Brief nie. Eine tolle Metapher. Bei Keller ist es allerdings schade, dass er sie sofort danach selbst erklärt und damit eigentlich wieder entwertet. :rofl
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
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Thüringen
Es war vielmehr eine versteckte Liebesbotschaft damals, die Sukhin nie gelesen hat. Das ist sehr anrührend und für mich einer der Höhepunkte des Buches.
Das war auch mein "Herzklopf"-Moment, wie ich es oben genannt habe.
Die Sache mit der Regenmaschine hingegen auch - wie bei dir - überhaupt nicht.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Das war auch mein "Herzklopf"-Moment, wie ich es oben genannt habe.
Die Sache mit der Regenmaschine hingegen auch - wie bei dir - überhaupt nicht.
Ich kann mir diese Regenmaschine so was von überhaupt nicht vorstellen ... Mir war das auch ein bisschen zuviel des Guten und ich weiß nicht recht, wofür wir das brauchen. Nur um uns in die Irre zu führen, damit wir die ganze Zeit denken sollen, Sukhin baut Jinn ein Luxusheim aus Kartons? :oops:
 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.240
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Ich habe mal gegoogelt zur Frage Obdachlosigkeit in Singapur. Offiziell gibt es dort gar keine.
Das hat uns eingangs Renie in ihrer Zusammenfassung auch mitgeliefert: Wir befinden uns in Singapur, der sichersten Stadt (oder einer der sichersten) der Welt. Ergo: Es gibt keine/wenig Kriminalität. Es muss ja erst mal saufende, randalierende, gewaltbereite Menschen geben, die die Hilflosigkeit von Obdachlosen ausnutzen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Kultur in Singapur weit kontrollierter und sauberer (auch im übertragenden Sinn) ist. Ich halte daher Jinns Aussage für realistisch. Ich sehe keine Bagatellisierung der Autorin. Die Zustände sind am Handlungsort ganz anders als bei uns. Offenbar verhalten sich die Zeltbewohner auch sehr gesittet: Sie kochen Mahlzeiten und wollen ihre Kinder unterrichten. Eine andere Welt als bei uns.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Bis zum Schluss musste ich, wie im vorherigen LA erwähnt, an die Atmosphäre von "Was man von hier aus sehen kann" von Mariana Leky denken. Beide Bücher haben mir an bestimmten Stellen Herzklopfen beschert und mich nach Abschluss der Lektüre positiv in die
Das wäre ganz schlimm, wenn mich dieses Buch an Mariana Leky erinnert hätte :sad
Hat es in keiner Weise. Wir haben es hier überhaupt nicht mit magischem Realismus zu tun, die Texteinschübe wirken auf den ersten Blick zwar surreal, sind aber im Nachgang sehr handfest.

Es haben sich über das gesamte Buch einige Tippfehler, Dopplungen oder Autokorrektur-Wörter eingeschlichen. Da
So etwas fällt mir normalerweise nicht auf. Aber hier war es nicht zu übersehen. Falls es eine zweite Auflage gibt (wofür wir sorgen wollen;)), sollte man das ausbügeln. So ein wunderschönes Buch mit Fehlern drin - geht gar nicht.

Vor allem aber auch, weil er zumindest einen Schüler damit so erreicht und berührt hat
Eine ganz tolle, eindringliche Szene! Daran sieht man, wie wichtig es ist, über nonbinäre Sexualität zu sprechen. Dieser Junge fühlte sich vielleicht zum ersten Mal verstanden. Gleichzeitig setzt Sukhin bewusst ein Zeichen zu Gunsten seines Freundes und nimmt Widerspruch seitens seines Arbeitgebers in Kauf.
deshalb der abschließend an Jinn gerichtete Brief, der dem Tagebuch beilag.
Moment: Ich habe es so verstanden, dass Jinns Schwester einen Brief an Sukhin beigelegt hat als Begleitschreiben zum Tagebuch. Er hätte sie ja auch geliebt und wünsche sich bestimmt eine Erinnerung...blabla...
Darüber hinaus wurde der Termin für die Trauerfeier/Todeserklärung bekannt gegeben. Ich glaube nicht, dass die Schwester von Jinns Existenz weiß.
Sie will auch nichts wissen. Jinn vermutet schon, dass ihre Sippe sich Omas Erbe unter den Nagel reißen will.
Jinn hat diesen Brief zerrissen und in Papierkügelchen verwandelt.
Wenn ich mich hier irre, klärt mich bitte auf.
Ich dachte schon so etwas ähnliches, als Sukhin ihr anbot, bei ihm zu übernachten, und sie antwortete: "Wieso, hast du schönere Kartons?"
Das könnte doch die Schlüsselszene sein: Er baut einen schöneren Karton, damit sie wieder zu ihm kommt. Denn wir haben ja schon manifestiert, dass es keinen Sinn machen würde, den kunstvollen Karton in den echten Regen Singapurs zu stellen. Den Satz hatte ich vergessen, Häsin!
Muss es nicht neben den Erbstreitigkeiten weitere Gründe geben, die für eine solch radikale Änderung der Existenz sprechen?
Hier sehe ich eine Schwäche des Romans. Warum hat Jinn "Ihren Verstand verloren"? Eine junge Frau verliert den nicht so einfach. Ich dachte spontan an Drogen in der Nahrung. Die Familie hätte ja ein Motiv gehabt... Die Auflösung "Ich muss gehen, weil ich es nicht mehr aushalte", erscheint mir etwas fadenscheinig. Wer verlässt schon seine (geliebte) Familie, sein Heim, seine Freunde, seine Existenz einfach so, aus einer Laune heraus?
Dazu passt auch nicht das fast traumatische Zusammentreffen mit der Schwester an Weihnachten. Jinn war dermaßen verstört, ängstlich und verzweifelt. Da MUSS doch mehr gewesen sein?! Das wird mir zu simpel aufgelöst. Die plötzliche geistige Gesundung kann ich mir in Folge nur dadurch erklären, dass das Gift wieder abgesetzt wurde. Wenn Jinn wirklich geisteskrank war, verliert sich das nicht ruckzuck, schon gar nicht einsam im Park. Behaupte ich mal.
Kann man wirklich von einer "Wahl" sprechen, wenn ansonsten eine Aussichtslosigkeit vorherrscht?
Hm. Aussichtslosigkeit ist relativ. Sie hätte einfach auf ihr Erbe verzichten können und alle wären lieb gewesen vielleicht. Jinn hatte ja auch einen labilen Charakter, früher heulte sie ständig. Warum hat sie nicht mit ihrer Schwester gesprochen? Da sehe ich Ungereimtheiten, ihr merkt es...
Allerdings fällt das nicht allzu stark ins Gewicht, weil mich vieles andere stark überzeugt hat.
Nur um uns in die Irre zu führen, damit wir die ganze Zeit denken sollen, Sukhin baut Jinn ein Luxusheim aus Kartons? :oops:
In die Irre? Ich finde das völlig logisch:). Der gelingende Regen ist quasi das Tüpfelchen auf dem I.
 

Literaturhexle

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damit wir die ganze Zeit denken sollen, Sukhin baut Jinn ein Luxusheim aus Kartons?
Es ist doch ein Luxusheim aus Kartons, oder nicht? Aber mit allerhand Schnick und Schnack. Mit Verdunklung, verschließbarer Tür, eingelassenen Lämpchen.... Ein romantisches kleines Liebesnest, wahlweise mit Regengeprassel auf dem Dach:joy
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Das wäre ganz schlimm, wenn mich dieses Buch an Mariana Leky erinnert hätte :sad
Hat es in keiner Weise. Wir haben es hier überhaupt nicht mit magischem Realismus zu tun, die Texteinschübe wirken auf den ersten Blick zwar surreal, sind aber im Nachgang sehr handfest.
Den magischen Realismus meinte ich auch gar nicht, sondern die Atmosphäre. Mir ist klar, das die Geschichte eine ganz andere ist, aber wie die Autorin erzählt, sodass man irgendwie trotz aller Sonderbarkeiten der Personen und deren Probleme trotzdem irgendwie sich warm und positiv fühlt beim Lesen. Das hat mich emotional schon in eine ähnliche Stimmung gebracht, wie das Leky mit ihren Büchern geschafft hat.
Moment: Ich habe es so verstanden, dass Jinns Schwester einen Brief an Sukhin beigelegt hat als Begleitschreiben zum Tagebuch. Er hätte sie ja auch geliebt und wünsche sich bestimmt eine Erinnerung...blabla...
Ja genau den meine ich, aber der wird zum Ende hin wie zu einer Nachricht direkt an Jinn. Die Schwester ergänzt, dass es keine Dingsdabums-Blumen (habe vergessen, welche) geben wird auf der Beerdigung bzw. am Grab. Das ist für mich ein direkter Hinweis an Jinn, dass ihre Schwester weiß, dass Jinn "mitliest". Denn Sukhin könnte mit der Blumeninfo gar nichts anfangen.
Ich glaube nicht, dass die Schwester von Jinns Existenz weiß.
Danau das vermute ich aber tatsächlich. In Zusammenhang mit den kursiven Textabschnitten etc. wirkt es auf mich schon so. Wir haben es nicht direkt erfahren, aber meines Erachtens wird es angedeutet.
Wer verlässt schon seine (geliebte) Familie, sein Heim, seine Freunde, seine Existenz einfach so, aus einer Laune heraus?
Naja, es hat ja schon eine gewisse Karanzzeit gegeben, in der sich ihre dissoziativen Symptome verstärkt haben. Ich habe es nicht als aus einer Laune heraus empfunden. Tatsächlich war das für mich von der psychologischen Seite her gar nicht so abwegig hergeleitet. Vielleicht etwas kurios formuliert mit dem konkreten "ich bin verrückt geworden"-Ding.
Die plötzliche geistige Gesundung kann ich mir in Folge nur dadurch erklären, dass das Gift wieder abgesetzt wurde. Wenn Jinn wirklich geisteskrank war, verliert sich das nicht ruckzuck, schon gar nicht einsam im Park. Behaupte ich mal.
Auch die lief nicht so plötzlich ab. Ich denke Sukhin hatte durch seine Regelmäßigkeit im Kontakt und vor allem sein Vorgehen, was (meistens mal abgesehen von dem Ausrutscher, als er die Schwester zu Weihnachten einlud) sehr respektvoll war und Jinn alle Freiräume gelassen hat, die sie brauchte und wollte, über die vielen Monate hinweg ihr die Stabilität gegeben, die ihre Familie ihr zuletzt überhaupt nicht gegeben hat.
Ehrlich gesagt, finde ich die Idee mit dem Gift sehr abenteuerlich. Aber natürlich, nichts wird konkretisiert, deshalb kann man auch verschiedene Ideen dazu haben.
Sie hätte einfach auf ihr Erbe verzichten können und alle wären lieb gewesen vielleicht. Jinn hatte ja auch einen labilen Charakter, früher heulte sie ständig. Warum hat sie nicht mit ihrer Schwester gesprochen? Da sehe ich Ungereimtheiten, ihr merkt es...
Ich glaube deine Ungereimtheiten werde ich nicht mehr ausräumen können. :p Aber hier meine Gedanken dazu: Sie war eine emotional sehr schwankende Person als Jugendliche/junge Frau, die schon vollkommen over the top reagiert hat, als sie zur Hochzeit der Schwester rein sollte (und das ist nur ein Beispiel), da kann so eine drastische Reaktion durchaus im Verhaltensrepertoire liegen. Etwas was für uns eher abwegig erscheint, für sie aber nicht unbedingt. Selbst wenn sie auf ihr Erbe verzichtet hätte, der Schaden war schon entstanden. Selten erholt sich ein Familiengefüge nach so etwas wieder. Sie hätte immer eine Sonderrolle in der Familie eingenommen, da sie "der Günstling" der Oma gewesen ist. Selbst die Mutter hatte sie bösartigst angefahren, ob sie meine, dass sie "das verdiene". Das System Familie scheint dort schon kaputt zu sein. Und die Schwester ist ja die, die quasi auf einer generationalen Ebene mit ihr stand. Hätte die Oma das Vermögen wenigstens gleich zwischen den beiden aufgeteilt, wäre das Gefüge ein anderes gewesen. So kann es sogar sein, dass Jinn ein schlechten Gewissen und ganz viele andere verwirrende Gedanken und Gefühle der Schwester gegenüber hatte und hat. Und es ist für sie (also innerhalb ihres eigenen Bezugsystems, nicht das, was wir Außenstehende ansetzen) der leichtere Weg, die komplette Flucht anzutreten und mit gar niemandem aus der Familie mehr zu sprechen, selbst mit ihrer Schwester nicht.

Ich kann deine Bedenken nachvollziehen, aber ich muss an den Satz denken, den du häufiger schon angebracht hast, wenn wir bei anderen Büchern Plausibilitäten angezweifelt haben: "Wenn es die Autorin anders geschrieben hätte, wäre es ein anderes Buch geworden." ;) So sehe ich das in diesem Fall. Es ist ein außergewöhnliches Buch, mit einer außergewöhnlichen Geschichte. Die Figuren haben alle ihre Macken und Jinn eben auch eine, vielleicht etwas größere... :p
 

Renie

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Das hat uns eingangs Renie in ihrer Zusammenfassung auch mitgeliefert: Wir befinden uns in Singapur, der sichersten Stadt (oder einer der sichersten) der Welt. Ergo: Es gibt keine/wenig Kriminalität. Es muss ja erst mal saufende, randalierende, gewaltbereite Menschen geben, die die Hilflosigkeit von Obdachlosen ausnutzen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Kultur in Singapur weit kontrollierter und sauberer (auch im übertragenden Sinn) ist. Ich halte daher Jinns Aussage für realistisch. Ich sehe keine Bagatellisierung der Autorin. Die Zustände sind am Handlungsort ganz anders als bei uns. Offenbar verhalten sich die Zeltbewohner auch sehr gesittet: Sie kochen Mahlzeiten und wollen ihre Kinder unterrichten. Eine andere Welt als bei uns.
Genauso ist es. Wir dürfen das, was die Autorin schreibt, nicht nach unseren europäischen Maßstäben bewerten. Singapur ist eines der sichersten Länder der Welt. Platt ausgedrückt: Statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass man in Deutschland umgebracht wird als in Singapur.
Und Obdachlosigkeit existiert offiziell nicht.
"'... Niemand bemerkt uns, Sukhin - die Leute tun, als gäbe es uns nicht. Hier soll es keine Obdachlosen geben.'" (S. 303)

Die Autorin bagatellisiert nicht, sondern beschreibt die Lebensumstände in Singapur, wie sie sind. Was nicht bedeutet, dass Singapur das Paradies auf Erden ist. Ganz im Gegenteil. Die Mittel, die die Regierung einsetzt, um den Anschein eines Paradieses zu erwecken sind fragwürdig. Man setzt bei der Rechtssprechung auf Abschreckung: lächerlich hohe Geldstrafen bei Bagatelldelikten sowie Prügelstrafe, Todesstrafe. Ich habe hier einen lustigen Artikel für Euch, der aber irgendwie doch nicht lustig ist:
 

Renie

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So etwas fällt mir normalerweise nicht auf. Aber hier war es nicht zu übersehen. Falls es eine zweite Auflage gibt (wofür wir sorgen wollen;)), sollte man das ausbügeln. So ein wunderschönes Buch mit Fehlern drin - geht gar nicht.
Thema Doppelungen:
Ihr meint jetzt aber nicht die Doppelungen, im Sinne von Wiederholungen, die ich eher als Stilmittel und gelungene und originelle Wortspiele betrachte?
Beispiele:
"Sie sagt nicht viel, aber das sagt nicht viel" (S. 206)
"Sie wirkt immer erfreut , ihn zu sehen, wenn sie ihn sieht." (S. 188)
Oder direkt auf Seite 7 unten "Es kann nicht vernünftig sein, ..." (Dieser Satz 2mal, einmal aus seiner Sicht, einmal aus ihrer Sicht"

Thema Rechtschreibefehler: Mir ist nur ein einziger aufgefallen, ich weiß aber nicht mehr wo. Ist mir auch egal.
 

Renie

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Moment: Ich habe es so verstanden, dass Jinns Schwester einen Brief an Sukhin beigelegt hat als Begleitschreiben zum Tagebuch. Er hätte sie ja auch geliebt und wünsche sich bestimmt eine Erinnerung...blabla...
Darüber hinaus wurde der Termin für die Trauerfeier/Todeserklärung bekannt gegeben. Ich glaube nicht, dass die Schwester von Jinns Existenz weiß.
Sie will auch nichts wissen. Jinn vermutet schon, dass ihre Sippe sich Omas Erbe unter den Nagel reißen will.
Jinn hat diesen Brief zerrissen und in Papierkügelchen verwandelt.
Wenn ich mich hier irre, klärt mich bitte auf.
Du irrst nicht ;) :party
 

Renie

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Hier sehe ich eine Schwäche des Romans. Warum hat Jinn "Ihren Verstand verloren"? Eine junge Frau verliert den nicht so einfach. Ich dachte spontan an Drogen in der Nahrung. Die Familie hätte ja ein Motiv gehabt... Die Auflösung "Ich muss gehen, weil ich es nicht mehr aushalte", erscheint mir etwas fadenscheinig. Wer verlässt schon seine (geliebte) Familie, sein Heim, seine Freunde, seine Existenz einfach so, aus einer Laune heraus?
Dazu passt auch nicht das fast traumatische Zusammentreffen mit der Schwester an Weihnachten. Jinn war dermaßen verstört, ängstlich und verzweifelt. Da MUSS doch mehr gewesen sein?! Das wird mir zu simpel aufgelöst. Die plötzliche geistige Gesundung kann ich mir in Folge nur dadurch erklären, dass das Gift wieder abgesetzt wurde. Wenn Jinn wirklich geisteskrank war, verliert sich das nicht ruckzuck, schon gar nicht einsam im Park. Behaupte ich mal.
Ich kann es nachvollziehen. Jinns Oma wird sich etwas dabei gedacht haben, das Erbe so aufzuteilen, wie sie es getan hat. Fangen wir erstmal bei der Oma an. Die Frau muss ungewöhnlich gewesen sein. Immerhin hat sie es zu erheblichem Reichtum gebracht. Was ist eigentlich mit dem Opa? Indem sie Jinn den größten Teil vererbt, bietet sie ihr die Möglichkeit, ein unabhängiges Leben zu führen. Vielleicht hat sie in Jinn diejenige Enkelin gesehen, die ihr ähnelte. Ping ist bereits verkuppelt worden - eine brave Tochter, die sich also in ihr Schicksal fügt und sich dem Willen der Familie unterordnet. Von Jinn erwartet man das auch, sie soll ihr eigenes Wohl dem der Familie unterordnen. Was wäre denn passiert, wenn Jinn auf ihre Familie gehört hätte und das Erbe zugunsten der Familie ausgeschlagen hätte? Sie hätte sich doch der Familie untergeordnet und ihre eigenen Wünsche an ihr Leben ignoriert. Als brave Tochter wäre sie am Ende auch verkuppelt worden und keiner hätte jemals gefragt, was Jinn eigentlich will. Diese Entscheidung wäre ein Verrat an sich selbst gewesen. Sie stand also vor dem Dilemma "Familienwohl versus Jinns Wohl". Und diesen Kampf konnte sie nicht gewinnen. Wäre er zugunsten der Familie ausgegangen, wären ihre Wünsche auf der Strecke geblieben. Umgekehrt hätte sie mit der Familie brechen müssen. Ein junger sensibler Mensch kann dabei psychisch in die Knie gehen. Daher sind ihre Angstzustände, Panikattacken etc. für mich absolut nachvollziehbar. In einer Friede-Freude-Eierkuchen-Welt, in der das Allheilmittel Kuchen ist, hatte sich auch keinen, mit dem sie darüber reden konnte, Soviel Kuchen kann man gar nicht essen, um so etwas seelisch verkraften zu können. Als sie sich aus dem Staub macht, hat sie diejenige Lösung gewählt, mit der sie ihre Familie zufriedenstellt (Reichtum für die Sippe), nicht mit ihrer Familie brechen muss, als gute Tochter in Erinnerung bleibt, aber dennoch ein eigenes Leben führen kann.