2. Leseabschnitt: „Kostbarkeit“ bis „Sofias Dramen“ (S. 94 bis S. 161)

otegami

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17. Dezember 2021
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In diesen drei Geschichten fand ich den Unterschied der Einstellungen (zur heutigen Zeit) nicht mehr zu krass wie bei den letzten vom 1. Leseabschnitt:

in 'Kostbarkeit' fühlen wir uns in die Psyche einer Pubertierenden ein. (Momentan findet die halt schon früher, schon mit 12 Jahren statt.) Ja nicht auffallen, ist ihre Devise, schon gar nicht als Mädchen. Sie ist heilfroh, als sie wie ein Junge behandelt wird (im Klassenzimmer). Und sie ist erleichtert, beim Abendessen 'wieder Tochter sein zu dürfen'.
Und dann die Begebenheit mit 'den vier Händen, die sie berührten': Da wird sie sich immer dran erinnern! Die zwei Jungs rannten wohl weg, aber ihre Gedanken..........! Bezeichnend, dass sie sich Gedanken macht, was wäre, wenn sie schreien würde.

Viel schmunzeln musste ich bei 'Familiäre Verbindungen': herrlich beschrieben die verschiedenen Konstellationen! Schwiegermutter/Schwiegersohn, Mutter/Tochter, Mutter/Sohn und Frau/Mann.

Die Geschichte 'Sofias Dramen' empfand ich wieder als seeeeehr langatmig. Man hatte das Gefühl, der Weg im Klassenzimmer war ewig und sie hatte mehrere Kilometer zurückzulegen. :rolleyes: Mit dem letzten Absatz konnte ich jedoch nichts anfangen, dass sie im Park lernte, geliebt zu werden. 'Man nimmt das Opfer auf sich, nicht würdig zu sein, um den Schmerz zu lindern, der nicht liebt.' :monocle
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Kostbarkeit versinkt ganz in die Welt der unsicheren 15 Jährigen, die kurz vor ihrem 16. Geburtstag steht. Jeder ihrer Schritte scheint ihr zu laut, die Absätze klappern. Sie möchte nicht auffallen und doch schreit sie mit ihrer Unsicherheit geradezu nach Provokationen, die Jungs in ihrem Alter wohl instinktiv draufhaben. Der Jäger sucht sich das schwächste Lamm. Unklar bleibt, wie weit diese Berührungen gingen und ob ihre Scham darüber nicht mehr seelischen Schaden angerichtet haben.
Ich möchte dem Mädchen die ganze Zeit sagen, Kopf hoch, Brust raus, Lippenstift aufgelegt und vor allem lauter werden, so wäre sie weniger Opfer und könnte vielleicht die Welt als das erkennen was sie ist: Fressen und gefressen werden.
Leisere Schuhe sind keine Lösung!
 

Emswashed

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In Familiäre Verbindungen fehlte mir ein wenig der Focus. Ist der Schwiegersohn, der sich zusammenreißt, ist es die Tochter, die beim Besuch ihrer Mutter auf dem Drahtseil balanciert, oder ist es dieser (autistische?) Sohn, mit dem die Tochter plötzlich aufbricht und den Schwiegersohn mit der Frage zurücklässt, "in welchem Moment die Mutter ihrem Sohn das Erbe übertragen hatte"?
Zumindest scheint eine gewisse Routine unterbrochen worden zu sein und es bricht eine "unerwünschte" eigenschaft durch, die die Tochter an ihren Sohn weitergibt. Hmm, Fragen über Fragen!

Sofias Dramen hingegen war für mich wieder so eine typische Teenagergeschichte, voller Provokationen, Dramen und Verunsicherungen. Sofias Gefühlswelt schwankt im Sekundentakt, Banalitäten bedeuten für sie die Welt und eigentlich ist sie hilflos ihrer Pubertät ausgeliefert. Allerdings gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Sie wird bestimmt mal eine großartige Schriftstellerin! ;)
 

otegami

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In Familiäre Verbindungen fehlte mir ein wenig der Focus. Ist der Schwiegersohn, der sich zusammenreißt, ist es die Tochter, die beim Besuch ihrer Mutter auf dem Drahtseil balanciert, oder ist es dieser (autistische?) Sohn, mit dem die Tochter plötzlich aufbricht und den Schwiegersohn mit der Frage zurücklässt, "in welchem Moment die Mutter ihrem Sohn das Erbe übertragen hatte"?
Ich sehe den Focus auf die ganzen verschiedenen Konstellationen gelegt! Hat mich ein wenig an ein Kaleidoskop erinnert! ;)
 

Renie

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Kostbarkeit

Die gute Clarice macht es mir nicht leicht. In dieser Geschichte überwiegt mal wieder die Verwirrung bei mir. Was ist bei mir hängengeblieben: ein Mädchen in der Pubertät, sie scheint sehr schüchtern zu sein und möchte nicht auffallen. Tatsächlich ist sie sich jedoch bewusst, dass sie mit steigendem Alter und Anzeichen von Weiblichkeit in dem Fokus des Interesses der Männer rücken wird.
Und jetzt kommt der Moment, an dem ich abgehängt wurde: Auf dem Weg zur Schule? oder wohin auch immer, laufen ihr zwei Männer über den Weg. Die Szene, die daraus entsteht, findet in ihrer Fantasie statt? Oder was ist hier passiert? Eigentlich ist hier doch gar nichts passiert.
Was zum Teufel sind die 7 Rätsel? Und was ist die "Kostbarkeit"? Bei letzterem tippe ich auf die Jungfräulichkeit.

Ich kann nicht behaupten, dass mich die Geschichten begeistern - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Konnte Clarice die Dinge nicht beim Namen nennen? Stattdessen verliert sie sich in Irrungen und Wirrungen der Gedankengänge und der Selbstgespräche ihrer Protagonistinnen.
Zitat aus dem Wikipedia Artikel über Clarice:
Die New York Times schrieb 2005, dass sie das Äquivalent Franz Kafkas in der lateinamerikanischen Literatur sei. Lispector „war schon zu Lebzeiten eine Legende, berühmt, bewundert, kapriziös, depressiv und den meisten Menschen unverständlich.
den meisten Menschen unverständlich und Äquivalent Franz Kafkas unterschreibe ich :smilehorn
 

Renie

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Familiäre Verbindungen

Hurra, ein Lichtblick! Der Titel dieser Geschichte ist gut gewählt, denn hier geht es um die unterschiedlichsten familiären Verbindungen: Mutter-Tochter, Schwiegermutter - Schwiegersohn. Mutter-Sohn etc.
Und immer wieder treffen wir in Clarices Geschichten auf Frauen als "Frau an seiner Seite" und die, in diesem Zusammenhang fehlende Gleichberechtigung sowie die Sehnsucht dieser Frauen nach einem besseren/anderen/früheren Leben. Durch diese Rollenzuweisung stellt Clarice die Ehe an sich in Frage. Die gute Clarice hat schließlich selbst keine guten Erfahrungen gemacht.

Habt Ihr auch den Perspektivwechsel auf den Ehemann als ungewöhnlich empfunden? Bisher haben wir in den Geschichten nicht viel Gedankengut des männlichen Personals (aus eigener Sicht) mitbekommen.
Mich würde die Reihenfolge interessieren, in der die Geschichten geschrieben wurden. Bei den wenigen Geschichten, die mir gefallen, schätze ich, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben worden sind als diejenigen, mit denen ich nichts anfangen kann.
"Meine" Geschichten sind diejenigen, bei denen die Charaktere einen Namen haben, die ein bisschen mehr Fleisch am Handlungsskelett haben und bei denen sich die Charaktere nicht in ihrem Gedankenwirrwarr verlieren (die also weniger kafkaesk sind)
 

Renie

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Sofias Dramen
Schwachsinn! Ein 9-jähriges Mädchen mit derartigen Gedankengängen? Selbst mit viel Wohlwollen und der Erklärung, dass es sich hierbei um einen Rückblick aus Erwachsenensicht handelt, bleibt es unglaubwürdig. Als Erwachsener erinnert man sich daran, dass man eine Plage war und den Lehrer getriezt hat, vielleicht noch, dass für mich völlig neu war, von ihm gelobt zu werden und man nicht wusste, wie man mit dem Lob umzugehen hat. Aber Sätze wie
In meiner Unreinheit hatte ich meine Hoffnung erlöst zu werden, in die Erwachsenen gesetzt.
Dort stand ich, das ach so kluge Mädchen, und erkannte, dass alles, was an mir nichts taugte, Gott und den Menschen diente. Alles, was an mir nichts taugte, war mein Schatz. Wie eine Jungfrau nach ihrer Verkündung, ja.
sind nicht unbedingt das, was 9-jährige Mädchen denken. Und Erwachsene, die der Meinung sind, dass sie als 9-Jährige diese Gedanken hatten, sind psychisch nicht ganz auf der Höhe.
 

otegami

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Durch diese Rollenzuweisung stellt Clarice die Ehe an sich in Frage. Die gute Clarice hat schließlich selbst keine guten Erfahrungen gemacht.
:thumbsup Wie ich immer gerne sage: 'Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter aus als über Paul'! Auch aus dem Geschriebenen von Clarice können wir sehr gut ihre Einstellungen zur Ehe, zur Partnerschaft usw. rauslesen!
Habt Ihr auch den Perspektivwechsel auf den Ehemann als ungewöhnlich empfunden? Bisher haben wir in den Geschichten nicht viel Gedankengut des männlichen Personals (aus eigener Sicht) mitbekommen.
Doch ja, war mal eine wohltuende Ausnahme!
Mich würde die Reihenfolge interessieren, in der die Geschichten geschrieben wurden.
Jaaaaaa, das würde mich auch interessieren!
Bei den wenigen Geschichten, die mir gefallen, schätze ich, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben worden sind als diejenigen, mit denen ich nichts anfangen kann.
Meinst Du? Es könnte auch sein, dass die, die Dir gefallen, früher geschrieben wurden! (Vielleicht weil sie später depressiv wurde?!)
 

Emswashed

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Aber Sofia ist erst neun, also keine Pubertät und keine Teenagerin.
In der heutigen Zeit könnte man das vielleicht in Erwägung ziehen, aber beim besten Willen nicht in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts! Da gebe ich Dir vollkommen Recht!

Doch, zumindest ist sie am Beginn der Pubertät. Wir müssen auch noch den Kontinent mit in die Überlegungen einbeziehen. Ich denke, dass dort die Mädchen sehr viel frühreifer sind.
Habt Ihr auch den Perspektivwechsel auf den Ehemann als ungewöhnlich empfunden?

Nicht wirklich. Er ist "nur" der Schlussaccord, er ist der Verlassene. Zuviel erfahren wir ja auch nicht von ihm.
 
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otegami

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Doch, zumindest ist sie am Beginn der Pubertät. Wir müssen auch noch den Kontinent mit in die Überlegungen einbeziehen. Ich denke, dass dort die Mädchen sehr viel frühreifer sind.
'sind'! Kann sein! Aber waren sie das auch schon in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts?
 

Literaturhexle

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Kostbarkeiten
Puh! Renie, ich bin ganz bei dir! Dummerweise hatte ich den Vergleich mit Kafka auch schon gelesen und schlimme Vorahnungen gehabt. Nach den vermaledeiten Rosen nun dies. Wieder dreht sich die Protagonistin im Kreis, wieder wird uns gefühlt alles 100 mal erzählt.

Pubertät hin oder her: dieses Mädchen hat psychische Probleme. Sie dramatisiert ihren Schulweg, ist von Ängsten zerfressen. Sie möchte unsichtbar sein und niemanden ansehen.

Dann erfüllen sich gegen Ende ihre schlimmen Ahnungen: self fulfilling prophesy.
Hat das alles mir der toten Ratte angefangen? Hat dieses Erlebnis dazu geführt, dass sie sich zurückzog, Angst bekam und ihre Gefühle einsperrte?

Rhythmus, Berufung, Gabe, Kostbarkeit, sieben Rätsel uvm - mir fehlt hier der Zugang zur Figur, um in eine Interpretation einzusteigen. Zu abgehoben für mich (wie Kafka).

Was werden ihr leise Schuhe helfen? Das Mädchen muss aus meiner Sicht zum Psychiater:apenosee
 

Literaturhexle

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Familiäre Verbindungen
Puh! Die Mutter war ein paar Tage zu Besuch. Das bringt Einschränkungen mit sich. Man merkt es der ganzen Familie an, dass sie durchatmet und sich freut, wieder tun zu können, was sie möchte.

Was ich dann wieder nicht verstehe, sind die Gedanken des Gatten, als Frau und Kind aus dem Haus gehen: was da wieder alles für Interpretationen vonstatten gehen! Worüber er alles nachsinnt... Diese Gedankengänge wirken für mich überfrachtet. Viele Gedanken, wenig Handlung. Tatsächlich ähnlich wie bei Mrs Dalloway - nur dass Woolf die wesentlich begnadetere Schreiberin war.
 

Renie

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Wir müssen auch noch den Kontinent mit in die Überlegungen einbeziehen. Ich denke, dass dort die Mädchen sehr viel frühreifer sind.
Ist das Deine Vermutung oder kannst Du das in irgendeiner Form belegen?
9 Jahre kommt mir in Bezug auf die damalige Zeit arg früh vor. Und Brasilien ist und war kein Dritte-Welt-Land, in dem die Kinder schneller erwachsen werden mussten, als ihnen gut tat ... mal von den brasilianischen Straßenkindern aus den Favelas abgesehen. Doch in diesen Kreisen finden diese Geschichten nicht statt.
Und selbst, wenn das Mädchen am Beginn der Pubertät sein sollte, ist sie immer noch mehr Kind als Frau, das im Leben nicht diese Gedankengänge hat, wie sie hier beschrieben werden.