3. Leseabschnitt: Eine Zitrone im All (S. 88 bis 127)

Christian1977

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Vicco ist in meinen Augen eine bemerkenswert gelungene Figur. Sozusagen ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener. Irgendwo zwischen Motorrad und Trabi. OK, das reicht. Die Figur ist genial in ihrer Ambivalenz und man kann so viel in ihr finden. Mögt ihr Vicco? Ich schon.

Henriette entpuppt sich als mondän-modernes Abbild der geheimnisvollen Ringträgerin. Auch sie trägt Blau und raucht. Trotzdem habe ich noch nicht kapiert, wer die Frau aus der zweiten Erzählung war. Ob es da noch eine Auflösung geben wird?

Sehr gut finde ich auch, wie Iris Wolff ganz nebenbei so viel von der Geschichte Siebenbürgens erzählt. Jetzt, 1969, also die noch junge Ceausescu-Diktatur und ein Rückblick auf die Zwangsdeportierung der Rumänien-Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Beiläufig und doch so lehrreich.

Was macht das eigentlich aus den Menschen, wenn sie keine wirkliche Heimat haben, wie ein Spielball zwischen Ländern verschoben werden? Eine Frage, so beklemmend wie aktuell.

Die emotionale Tiefe der ersten Erzählung erreicht zwar auch dieser Abschnitt nicht, aber das ist auch schon alles, was ich kritisieren kann. Wäre die erste Erzählung nicht gewesen, würde ich jetzt völlig kritiklos sagen, wie toll die letzten beiden Abschnitte waren. Jetzt sage ich: Sie waren toll, aber nicht so hinreißend wie "Budapest?". Dafür haben sie die schöneren Titel.
 

Literaturhexle

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Die Figur ist genial in ihrer Ambivalenz und man kann so viel in ihr finden. Mögt ihr Vicco? Ich schon.
Mensch, hast du ihn wieder toll in wenigen Worten charakterisiert! Mag ich ihn? Ich stehe ihm neutral gegenüber, würde ich sagen. Er ist ein komischer Kauz. Über seine Arbeit erfahren wir nichts. Er ist immer on the road. Seinem Freund gegenüber hat er sich nicht besonders loyal verhalten. Da hatte er Berührungs- und vielleicht auch andere Ängste. Die Securitate war nicht zimperlich- besser man machte sich nicht auffällig.

Beiläufig und doch so lehrreich.
Ja unbedingt. Lilli, die nicht wiederkehrte. Und natürlich Vicco.
Henriette ist ein ruheloser Freigeist. Sie nimmt sich, was sie braucht. Jetzt ist es das Ausland, aber ich glaube nicht, dass sie dort glücklich wird. Manche Leute können das nicht, weil sie immer das ersehnen, was sie gerade nicht haben.
Ein bisschen was hat Vicco ja auch von ihr. Auch er braucht Raum und Freiheit, nicht umsonst fährt er eben mal 600 km zum Schwimmen. Und er liebt Liane: "Sie ist die mutigste und abenteuerlustigste Frau, die ich kenne." Hat sie nicht Ähnlichkeit mit seiner Mutter? Mutig muss sie ja auch sein, wenn sie die korrumpierenden Gedichte transportiert. Sie hat mehr Chuzpe als ihr Sohn, der seine "heiklen" Freunde ziemlich hat hängen lassen.

Bezeichnend, dass die Geschichte mit einem befürchteten Tod beginnt. Gut gemacht, wie ich finde. Da muss Vicco das Herz ganz schön in die Hose gerutscht sein!
Ob es da noch eine Auflösung geben wird
Ich hoffe es noch. Henriette wurde offenbar nur vor der Verschleppung verschont, weil sie sich in den Bergen versteckt hat. Darüber spricht sie nicht. Ob sie noch weiteren Kontakt zu der geheimnisvollen Frau hatte? Hat sich vielleicht die ganze Gruppe versteckt? Aber das ist völlige Spekulation.

Sie kannten die Spielregeln: Du weißt von nichts, es geht dich nichts an. Die Partei hat Recht. Drei einfache Regeln, mit denen man im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte. 110
Gilt wohl über die Zeiten.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Könnt ihr was mit dem Traum auf Seite 113/14 anfangen?
Inhaltlich habe ich das auch nicht wirklich verstanden. Höchstens den Anfang, weil Vicco das Gefühl hat, seine Mutter stehe ständig unter Beobachtung und würde alle Blicke auf sich ziehen.

Zum "Mann im weißen Anzug" sagen Traumdeuter:innen, die träumende Person möchte "in Bezug auf eine bestimmte Angelegenheit in der realen Welt ihre Unschuld betonen" (traum-deutung.de). Es könne aber auch sein, dass sie sich in bestimmten Lebensbereichen mehr Klarheit wünsche.

Nun bin ich kein Traumdeuter, aber das könnte in meinen Augen zweierlei bedeuten: Der Mann im weißen Anzug begeht ja Suizid. Die Unschuld stirbt. Vielleicht fühlt sich Vicco schuldig. Aber weshalb? Vielleicht weil er den Freund im Gefängnis nie besucht hat. Aus Angst. Und "mehr Klarheit" in Verbindung mit einem Mann: Vielleicht wünscht sich Vicco Klarheit in Bezug auf den Vater und vermisst ihn. Das sind aber alles reine Spekulationen.

Ich mag keine Träume in Büchern
Das ist in Bezug auf dieses Buch aber schade, denn alle Protagonist:innen träumen ja. Entweder wirklich wie Vicco und Jacob, oder sie sind im übertragenen Sinne "Träumer:innen".
 

Literaturhexle

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Das ist in Bezug auf dieses Buch aber schade, denn alle Protagonist:innen träumen ja. Entweder wirklich wie Vicco und Jacob, oder sie sind im übertragenen Sinne "Träumer:innen".
Haha. Ja, den Gedanken, dass sie alle TräumerInnen sind, hatte ich auch. Da zeigt sich die Verwandtschaft am deutlichsten. Das stört mich auch in keiner Weise. Jacobs Träume konnte ich auch gut erfassen und verbinden. Dieser (Viccos) Traum aber erfordert psychologisches Fachwissen, er erschließt sich nicht aus dem Kontext. Deshalb mag ich ihn nicht.
Danke aber für deine Interpretationsansätze. Ich habe bei so etwas ein Brett vor dem Kopf. Als Schülerin konnte ich das gut, egal ob bei Kunst, Musik oder Literatur - das hat sich dann aber verflüchtigt (natürlich zugunsten anderer Kompetenzen;)).
 

otegami

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Vicco ist in meinen Augen eine bemerkenswert gelungene Figur. Sozusagen ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener. Irgendwo zwischen Motorrad und Trabi. OK, das reicht. Die Figur ist genial in ihrer Ambivalenz und man kann so viel in ihr finden. Mögt ihr Vicco? Ich schon.
Ich kann leider in Dein Schwärmen nicht einstimmen! Vicco ist für mich ein junger Mann, der noch nicht ausgereift, noch auf der Suche ist und nur an sich denkt! (Sein Verhalten gegenüber Frido und Marcella, dass er sich da nicht um Marcella gekümmert hat, seine Frauengeschichten, Ausbildung nicht beendet.)
 

otegami

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Sehr gut finde ich auch, wie Iris Wolff ganz nebenbei so viel von der Geschichte Siebenbürgens erzählt. Jetzt, 1969, also die noch junge Ceausescu-Diktatur und ein Rückblick auf die Zwangsdeportierung der Rumänien-Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Beiläufig und doch so lehrreich.
Dieses Kapitel / diesen Leseabschnitt empfinde ich am politischten!
Schon mal so ganz nebenbei die Korruption auf S. 96 ('Er war nur einer Gefängnisstrafe entkommen, weil ein Freund der Familie den obersten Richter kannte. Ein kurzes Telefonat reichte! "Brauchst Du Orangen?", wurde der Richter gefragt.

Dann die Geschichte von Frido und der Gerichtsbarkeit, die Methoden der Securitate (zu sagen, dass seine Frau einen Unfall gehabt hätte......)

Treffend zusammengefasst fand ich die Spielregeln: 'Du weißt von nichts, es geht dich nichts an, die Partei hat recht. Drei einfache Regeln, mit denen man auch im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte.
Tja, das sagt alles !!!!!! Und das gilt auch jetzt noch in Russland!
 

otegami

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Geschwärmt habe ich ja eher davon, wie die Figur konzipiert ist, nicht von Vicco selbst. Ich mag ihn, habe ihn ja aber als äußerst ambivalent charakterisiert.
Na gut, Dein Schwärmen hätte ich sinnvollerweise in Gänsefüßchen setzen sollen!

(Mist, bei mir erscheint die oberste Zeile ganz schwach, ich kann sie also nicht verwenden, keine Emojis verwenden usw., usf.) HILFE!!!!!
 

otegami

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Henriette ist ein ruheloser Freigeist. Sie nimmt sich, was sie braucht. Jetzt ist es das Ausland, aber ich glaube nicht, dass sie dort glücklich wird. Manche Leute können das nicht, weil sie immer das ersehnen, was sie gerade nicht haben.

Mit dem 'glücklich werden' vermute ich auch! Und auch, dass manche Leute das einfach nicht können!
Was mir unheimlich bei ihr imponiert hat, dass sie das Manuskript, das Frido und Marcella versteckt hatten, über die Grenze brachte und dem Verfasser in Berlin übergab! Respekt! (Das hätte Vicco nicht fertiggebracht!)
 

Literaturhexle

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Ich kann leider in Dein Schwärmen nicht einstimmen! Vicco ist für mich ein junger Mann, der noch nicht ausgereift, noch auf der Suche ist und nur an sich denkt! (Sein Verhalten gegenüber Frido und Marcella, dass er sich da nicht um Marcella gekümmert hat, seine Frauengeschichten, Ausbildung nicht beendet.)
Aber das widerspricht sich doch nicht! Alles, was Christian geschrieben hat, stimmt so oder so ähnlich. Das einzige, womit ich nicht konform gehe, ist, dass ich ihn (Vicco natürlich) mag. Er ist eine Figur voller Widersprüche und innerer Unwägbarkeiten und als solche wunderbar konzipiert. Ein "behüteter Verlassener" - ist das nicht herrlich?! Vicco fühlt sich vernachlässigt und von seiner Mutter verlassen. Dabei ist er in ein wunderbar beständiges, liebevolles Nest geschlüpft. Ich finde Christians Kurzfassung deshalb grandios. Aber MÖGEN muss man Vicco deshalb noch lange nicht;)
Dass er die Ausbildung abgebrochen hat, habe ich dann wohl überlesen. Ich dachte, er wäre Automechaniker, wunderte mich aber, dass seine Arbeit überhaupt nicht thematisiert wird.
Sein Verhalten gegenüber Frido und Marcella,
Ja, das werfe ich ihm auch vor, allerdings spürt man deutlich, dass er Angst hat, mit dem Regime in Konflikt zu kommen. Es wird ja deutlich, dass auch seine eigene Familie schon unter Repressionen/Verschleppung gelitten hat. Insofern weiß ich da nicht, wie ich mich als junger Mensch verhalten hätte und bin vorsichtig mit Verurteilungen.
Was mir unheimlich bei ihr imponiert hat, dass sie das Manuskript, das Frido und Marcella versteckt hatten, über die Grenze brachte und dem Verfasser in Berlin übergab! Respekt! (Das hätte Vicco nicht fertiggebracht!)
Ja. Die Mutter ist ein Freigeist. Keine Ahnung, warum sie so mutig ist. Vielleicht hat sie einen Schutzpatron irgendwo? Sie hat ihre Ausreise ja auch offiziell bewilligt bekommen. So selbstverständlich wird das auch nicht sein.
 

Literaturhexle

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Siehe meine Reaktion bezüglich Gänsefüßchen + fehlender Emojis! (Fühle mich in meinen Ausdrucksmöglichkeiten stark eingeschränkt! *grummel*!)
Wir kennen dich doch mittlerweile so gut, dass wir diese in Gedanken hinzufügen;).
Einen Zwinkersmiley kriegst du immer hin mit Semikolon; und Außenklammer ) dazu, ein paar andere auch, diese z.B.: :) :D
 

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Wadern
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empfinde ich am politischten!
Und das ganz dezent nebenbei. Lilli, die nicht wiederkehrt, der Freund Frido, der verhaftet wird, Henriette, die sich versteckt hat. Da fängt man unwillkürlich an zu recherchieren und will mehr über die Geschichte wissen. So geht es mir immer mit solchen Andeutungen.
Mir ist aufgefallen, dass alle drei Erzählungen jeweils mit einer zeitdehnenden Szene beginnen, in denen man die Figur hautnah erlebt.
Jakobs Reflexionen im Zug
Elements Garten, in den sich Henriette schleicht
Viccos Todesangst.

Zur geheimnisvollen Frau: Am Beginn von Erzählung zwei, steht folgendes Zitat, das die Frau zu Henriette sagt:
„Als ob die Frau ihr sagen wollte: Es gibt etwas jenseits dieses Dorfes, du wirst es kennenlernen, denn diese Welt wird vergehen, die dir jetzt die Mitte deines Lebens ist.“
Die Frau ist ein Spiegel dessen, was Henriette gern sein möchte und eventuell auch wird. Im 3.Teil,trägt sie immer noch den Ring. Ich glaube nicht, dass wir noch erfahren, wer sie ist.
Vicco ist ein Suchender, der seinen Weg noch nicht gefunden hat. @Christian1977 hat ihn perfekt beschrieben ;)
 

Literaturhexle

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wal.li

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Vicco ist in meinen Augen eine bemerkenswert gelungene Figur.
Ich war ein wenig fixiert darauf, dass sich das mit der geheimnisvollen Frau einer Klärung nähert, deshalb war ich etwas enttäuscht von diesem Abschnitt.
Der Anfang war allerdings schon atemberaubend. Ich dachte, es geschieht das Unvermeidliche und habe mich gefragt, wieso eine Figur sterben soll, bevor sie richtig vorgestellt wurde.
 

wal.li

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Ja. Die Mutter ist ein Freigeist. Keine Ahnung, warum sie so mutig ist. Vielleicht hat sie einen Schutzpatron irgendwo? Sie hat ihre Ausreise ja auch offiziell bewilligt bekommen. So selbstverständlich wird das auch nicht sein.
Vielleicht hat das ja doch was mit Jacobs Familie zu tun oder der Frau. Dann hat sie möglicherweise eine Einladung bekommen.
 

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