So, ich bin im Roman angekommen und total geflasht! Hätte ich mich vorher inhaltlich mit dem Thema beschäftigt, wäre ich vermutlich abgetaucht. Aber Kathy Page und Wagenbach waren für mich Grund genug, diesen Roman lesen zu wollen - gut so! Denn die Art der Darstellung, der Ausdruck von Simons Gefühlslagen und Reflexionen, seine Beobachtungen, der Gefängnisalltag.... Das ist schon große Schreibkunst!
Simon hat die Büchse der Pandora geöffnet. Ein Anfang ist gemacht. Dazu war die Briefeschreiberei gut. Tasmin scheint ein unterdrücktes, gebeuteltes, unverstandenes Teenager-Mädchen zu sein. Bestimmt gibt es eine Fortsetzung, schließlich hat sie ihm die Schreibmaschine als Schlüssel zu seinem Inneren geliefert.
Tatsächlich ist Bernadette (wie symbolträchtig ihre Nachname ist: Nightingale
) anders als die bisherigen Betreuer. Sie hört zu, denkt nach, liefert mehr als nur Floskeln. Sie versucht, das Gute in Simon zu sehen und zu wecken. Sie will ihm wirklich helfen und er hat ihr in Form des Briefs das Werkzeug dafür in die Hand gedrückt. Schön, wie sich das alles gefügt hat!
Wie Simon ihre Stimme wahrnimmt:
tief, kräftig, ab und zu verschwommen, dann wieder merkwürdig präzise - die versteckten Räume und abrupten Kurven darin, wie klar sie ist, selbst wenn sie ganz leise wird, wie sie dem Gesagten zusätzliche Bedeutung verleiht, es erweitert, abmildert und erläutert...83
Der Kampf verlässt ihn in ihrer Gegenwart...
Ebenso schön wird die romantische Liebe beschrieben, die vom King schon zitierten Briefe und vieles mehr.
Wieder muss Simon sich das entscheidende Wort auf den Körper drucken. COURAGIERT. Dieses Mal quer über die Brust. Vom Fachmann. Groß. Das letzte war "Nutte" nach dem Missbrauch durch Tev. Ein Siebenmeilensprung!
Es ist klar und wurde schon mehrfach angedeutet, dass Simon eine schwere Kindheit hatte. Trotzdem hat mich seine Erinnerung mit dem Eis im Park sehr bewegt. Man sieht das Kind versonnen mit dem Eis und die Mutter, die es einfach stehen lässt. Welch eine prägende Erfahrung! "Und sie ist einfach nie zurückgekommen...", kann man sich das vorstellen?
Das Ehepaar mit Hund, das augenscheinlich nicht mit Simons Problemen umgehen konnte. Wieder eine Enttäuschung. Trotzdem wirkt Simon auf mich nicht larmoyant (mein neues Lieblingswort
- von Wanda gelernt).
Das Tor zu seiner Vergangenheit ist offen. Er kann auch beginnen, an Amanda zu denken, zu bereuen, was passiert ist. Er war ein Pulverfass, das explodierte.
Ich empfinde seine Schwärmerei für Bernie sehr glaubwürdig. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe und Respekt. Seine Gefühle werden dabei nicht komplett verklärt, sondern in all ihrer Ambivalenz geschildert. Er liefert die Gegenargumente ja meist selbst.
Bernie verschafft ihm neue Chancen. Danke für den Hinweis von Ulrike, dass lebenslang in England auch lebenslang heißt. Sonst würden meine Hoffnungen wohl überhand nehmen...
...und offenbar hat B. Scheiß-Florence Nightingale, Gott segne sie, ihn dazu verurteilt, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, fünf Minuten seines Lebens zu verstehen. Tja, vielen Dank, Bernie! S. 122
Auch in diesem Satz zeigt sich die ganze zweischneidige Gefühlslage Simons.
Ihr seht mich tief beeindruckt! Humor, lieber King, sehe ich in diesem eher trostarmen Umfeld nicht. Solche Sätze verschmelzen im Topf. Da liest jeder anders, aber im Großen und Ganzen sehe ich uns alle einig
.