2. Leseabschnitt: Kapitel 11 bis 20 (Seite 63 bis 123)

Emswashed

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9. Mai 2020
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So, da haben wir ihn ja, den Rückblick in die Vergangenheit und der Annäherung ans Warum.

Simon verliert die Kontrolle über Amanda, sie macht nicht mehr, was er sagt. Geht es nur darum? Das wirft doch gleich die nächste Frage auf, warum er absolute Kontrolle will?! Aber es erklärt auch gleichzeitig die Szenen im Gefängnis, in denen er sich plötzlich zusammenreißen und beherrschen muss. Er will auch die Kontrolle über sich behalten. Ein wenig paradox, da er ja im Gefängnis ist und schon per Definition eher kontrolliert und beherrscht wird, als das er über sich selbst bestimmen dürfte.

Und dann die große Überraschung, dass er sich in Bernie verliebt... oh je. Ist er zu dem Typ Mensch geworden, der nur bei geringster Wertschätzung gleich die große Liebe dahinter vermutet? Aber er will nicht verletzt werden, deshlab reagiert er sofort, als er merkt, dass es nicht in seine gewünschte Richtung läuft. (Ich vermute übrigens, dass Bernie schwanger ist... die Ringe an den Fingern fehlen, weil diese geschwollen sind.)

Schräg finde ich Simons Tätowierungen. Es sind ausschließlich Adjektive, keine Sprüche, Bilder, oder Symbole. Sehr wortfixiert, der Arme.

Was ich übrigens sehr herausfordernd und anregend finde, ist die Schreibart Pages. Zwei Beispiele gibt es auf Seite 106: "Du bist doch nicht etwa ein Sittich oder so...." und "Wir LLer sollten ein Recht auf Selbsmord haben...."
Sittich und LLer werden nicht erklärt, man kann sich aber aus dem Kontext einen Reim drauf machen, hält geistig fit und klingt wie ein Kompliment an uns belesene Leser.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Aber er will nicht verletzt werden, deshlab reagiert er sofort, als er merkt, dass es nicht in seine gewünschte Richtung läuft.
Ich glaube, er hat auch Angst, dass er sich wieder "nicht im Griff" hat. Überhaupt ist das ein weiteres starkes Merkmal dieses Romans: seine Gedanken, seine Tagträume, kommen super rüber.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Das Buch wimmelt nur so voller kluger Gedanken und Aussprüchen:
Es ist nur ein Stück Papier, doch er sitzt da mit dem Brief in der Hand, als ginge es um Leben und Tod, und genau das, denkt er mit einem Mal, ist das Problem mit Briefen: dass sie ein Eigenleben haben, unabhängig von Schreiber und Leser, dass sie weiterhin nachwirken können, selbst wenn man seine Meinung vielleicht schon geändert hat, dass sie einen dermaßen verfolgen. Spricht man etwas laut aus, gibt es nur das Hier und Jetzt, dann ist es weg, nur eine Erinnerung. Briefe sind Beweise, liegen da in der Schuhschachtel. (S. 113)
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Oh, es ist jetzt doch eher traurig geworden.
ich habe erwartet (und ein bisschen gehofft), dass Simon mit diesen Brieffreundschaften was ganz Fieses inszenierten möchte. Aber der Roman geht in einer andere Richtung.
Auch die zweite Brieffreundschaft platzt. Dafür bekommt er Bernie. Und prompt verliebt er sich. Er hätte eigentlich wissen müssen, dass es sich um Projektion handelt und zwangsläufig ist. Und den Mund halten. Aber er erklärt seine Liebe, macht sich zum Affen, weint. Nimmt aber wenigstens Bernies Angebote an.

Geht es um Strafvollzug? *krumel* Ich wollte einen lustigen Ganovenroman.

Na gut.

Dann nicht.

Zu Weihnachten hätte man ruhig jedem ein Glas Wein spendieren können.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Und dann die große Überraschung, dass er sich in Bernie verliebt... oh je. Ist er zu dem Typ Mensch geworden, der nur bei geringster Wertschätzung gleich die große Liebe dahinter vermutet?
Das ist ganz normal. Projektion. Patienten verlieben sich in ihre Ärzte, Frauen in ihren Beichtvater, Männer in ihre Lehrerinnen (Emanuel). Was gibts sonst noch? Jeder männliche Kranke in leidlich annehmbare Krankenschwestern. Sekretärinnen in Chefs. (Das klappt oft wegen der Dummheit von Männers). Jedenfalls war das keine Überraschung für mich. Höchstens der Umgang von Simon damit. Ihm fehlt halt Bildung.

Was mich überrascht ist die Amandasache. Schade, dass Simon sich nicht richtig artikulieren konnte und vllt auch nicht wollte. Er hat ganz recht. Ein ganzes Leben lang wegen 5 verheerender Minuten. Furchtbar.
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Das wirft doch gleich die nächste Frage auf, warum er absolute Kontrolle will?!
Alles was mit seinem Leben zusammenhängt, will er kontrollieren. Anderenfalls könnte er ja wieder verletzt werden, wenn jemand zu nahe an ihn herankommt. Und Amanda ist schon näher an ihm dran als wohl alle anderen Menschen - kein Wunder, dass er das Sagen haben will.
Ist er zu dem Typ Mensch geworden, der nur bei geringster Wertschätzung gleich die große Liebe dahinter vermutet?
Vermutlich ja, denn Bernie ist der erste weibliche Mensch, der ihm Respekt, Interesse und Mitgefühl entgegenbringt. Wenn man derart einsam ist, dann reicht schon ein bisschen entgegengebrachte Empathie für den 'Ausbruch' einer Verliebtheit.
Ich vermute übrigens, dass Bernie schwanger ist... die Ringe an den Fingern fehlen, weil diese geschwollen sind.
Wow, toll beobachtet! :)

Was mich sehr beeindruckt ist die Beschreibung dieser ständig bestehenden, unterschwelligen Aggression, die Simon versucht im Griff zu behalten. Sobald er das Gefühl hat die Kontrolle zu verlieren, kommt sie hoch und will losschlagen und er versucht dagegenzuhalten. Der Autorin gelingt es derart gut, diesen inneren Kampf darzustellen, das finde ich wirklich faszinierend.
Eigentlich gibt es ja nicht viel Handlung, aber dieses Innenleben von Simon ist unglaublich beeindruckend dargestellt und auch spannend. Denn ich frage mich die ganze Zeit: Wann wird die Aggression ausbrechen? Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, aber andererseits hoffe ich sehr, dass er sie im Griff hält.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich glaube, jedes Wort erinnert ihn an eine vergangene Situation; "Couragiert" ist seine auf ewig festgehaltene "Erinnerung" an Bernie; sie war der erste Mensch, der ihm gegenüber je so ein Adjektiv benutzt hat.
Das Gefühl hatte ich auch. Andere Ritzen, er tätowiert sich das Wort, welches er damit in Verbindung. Ringt. Muss auch ein enormer Leidensdruck sein
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Tasmin ist erst 14, wer hätte das gedacht? Simon verhält sich beim weiteren Geschehen korrekt. Öffnet nicht mal den Brief, den sie von einer anderen Adresse geschickt hat. Und dabei würde ich doch echt gern wissen, was drin steht. Die Obsession des Briefe Schreibens scheint durch Bernie abgelöst worden zu sein. Doch durch den Wechsel in die andere Anstalt ist sie für ihn so oder so nicht mehr verfügbar. Bernie hat was tolles für ihn erreicht, eigentlich eine tolle Chance. Aber ob es letztlich auch etwas bringt, wissen wir noch nicht. Solche Konzepte sind ja meist stark daran angelehnt, dass der Patient aktiv mitarbeitet. Bei Bernie hat er sich geöffnet, aber wie wird es dort aussehen? Bin echt gespannt
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Denn ich frage mich die ganze Zeit: Wann wird die Aggression ausbrechen? Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, aber andererseits hoffe ich sehr, dass er sie im Griff hält.
Das wäre wünschenswert. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass er das, was er sein ganzes Leben lang gemacht hat, so schnell wieder los wird. Man kennt es ja von sich selbst, es ist schwer mit alten Verhaltensmustern zu brechen. Bei dem letzten Gespräch mit Bernie war er hart an der Grenze, so eine Enttäuschung kann ihm durchaus wieder passieren.
Generell bin ich etwas zwiegespalten, ob ich wirklich Mitleid mit Simon habe. Das was er erlebt hat, erklärt warum er ist wie er ist. Ich kann verstehen, dass er die Kontrolle über alles haben möchte, war er als Kind ja allem hilflos ausgeliefert.Aber die Intensität wie er dies kompensiert, wenn man an den Mord denkt, ist schon erschreckend. Die menschliche Psyche ist ein erstaunliches Konstrukt. Ein anderer Mensch, mit ähnlichen Erfahrungen, reagiert wahrscheinlich ganz anders. Wovon wird es beeinflusst?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So, ich bin im Roman angekommen und total geflasht! Hätte ich mich vorher inhaltlich mit dem Thema beschäftigt, wäre ich vermutlich abgetaucht. Aber Kathy Page und Wagenbach waren für mich Grund genug, diesen Roman lesen zu wollen - gut so! Denn die Art der Darstellung, der Ausdruck von Simons Gefühlslagen und Reflexionen, seine Beobachtungen, der Gefängnisalltag.... Das ist schon große Schreibkunst!

Simon hat die Büchse der Pandora geöffnet. Ein Anfang ist gemacht. Dazu war die Briefeschreiberei gut. Tasmin scheint ein unterdrücktes, gebeuteltes, unverstandenes Teenager-Mädchen zu sein. Bestimmt gibt es eine Fortsetzung, schließlich hat sie ihm die Schreibmaschine als Schlüssel zu seinem Inneren geliefert.

Tatsächlich ist Bernadette (wie symbolträchtig ihre Nachname ist: Nightingale;)) anders als die bisherigen Betreuer. Sie hört zu, denkt nach, liefert mehr als nur Floskeln. Sie versucht, das Gute in Simon zu sehen und zu wecken. Sie will ihm wirklich helfen und er hat ihr in Form des Briefs das Werkzeug dafür in die Hand gedrückt. Schön, wie sich das alles gefügt hat!
Wie Simon ihre Stimme wahrnimmt:
tief, kräftig, ab und zu verschwommen, dann wieder merkwürdig präzise - die versteckten Räume und abrupten Kurven darin, wie klar sie ist, selbst wenn sie ganz leise wird, wie sie dem Gesagten zusätzliche Bedeutung verleiht, es erweitert, abmildert und erläutert...83
Der Kampf verlässt ihn in ihrer Gegenwart...
Ebenso schön wird die romantische Liebe beschrieben, die vom King schon zitierten Briefe und vieles mehr.

Wieder muss Simon sich das entscheidende Wort auf den Körper drucken. COURAGIERT. Dieses Mal quer über die Brust. Vom Fachmann. Groß. Das letzte war "Nutte" nach dem Missbrauch durch Tev. Ein Siebenmeilensprung!

Es ist klar und wurde schon mehrfach angedeutet, dass Simon eine schwere Kindheit hatte. Trotzdem hat mich seine Erinnerung mit dem Eis im Park sehr bewegt. Man sieht das Kind versonnen mit dem Eis und die Mutter, die es einfach stehen lässt. Welch eine prägende Erfahrung! "Und sie ist einfach nie zurückgekommen...", kann man sich das vorstellen?
Das Ehepaar mit Hund, das augenscheinlich nicht mit Simons Problemen umgehen konnte. Wieder eine Enttäuschung. Trotzdem wirkt Simon auf mich nicht larmoyant (mein neues Lieblingswort :p - von Wanda gelernt).

Das Tor zu seiner Vergangenheit ist offen. Er kann auch beginnen, an Amanda zu denken, zu bereuen, was passiert ist. Er war ein Pulverfass, das explodierte.

Ich empfinde seine Schwärmerei für Bernie sehr glaubwürdig. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe und Respekt. Seine Gefühle werden dabei nicht komplett verklärt, sondern in all ihrer Ambivalenz geschildert. Er liefert die Gegenargumente ja meist selbst.
Bernie verschafft ihm neue Chancen. Danke für den Hinweis von Ulrike, dass lebenslang in England auch lebenslang heißt. Sonst würden meine Hoffnungen wohl überhand nehmen...
...und offenbar hat B. Scheiß-Florence Nightingale, Gott segne sie, ihn dazu verurteilt, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, fünf Minuten seines Lebens zu verstehen. Tja, vielen Dank, Bernie! S. 122
Auch in diesem Satz zeigt sich die ganze zweischneidige Gefühlslage Simons.

Ihr seht mich tief beeindruckt! Humor, lieber King, sehe ich in diesem eher trostarmen Umfeld nicht. Solche Sätze verschmelzen im Topf. Da liest jeder anders, aber im Großen und Ganzen sehe ich uns alle einig:).
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Diese Affinität Simons zur Sprache und Worten finde ich beachtlich. Ein Analphabet hat in kürzester Zeit gelernt, Briefe zu schrieben, geschliffen und poliert. Was für ein Potential hier verlorengegangen ist, weil beim Kind immer nur das Problemkind gesehen wurde.

Die ersten beiden Leseabschnitte waren mit B überschrieben und wir befinden uns in der Zeit der Haft (mit einigen Erinnerungen an früher.) Jetzt bin ich gespannt was im Abschnitt A zu erwarten ist.
 

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