Zur See: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Zur See: Roman' von Dörte Hansen
4.8
4.8 von 5 (17 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Zur See: Roman"

Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht. Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
EAN:9783328602224

Rezensionen zu "Zur See: Roman"

  1. Intensiv

    Verbunden mit ihrer Insel lebt die alteingesessene Familie Sander schon Jahrhunderte an der Nordsee. Jens fährt schon lange nicht mehr zur See und seine Frau Hanne mag keine Zimmer mehr an Feriengäste vermieten. Ihre drei erwachsenen Kinder fühlen jeder für sich den Verlust von Tradition und die Angst vor Veränderung, die auch Befreiung bedeuten kann. Nicht nur diese Familie ist im Aufbruch, durch die ganze Insel geht ein Ruck, bei dem am Ende das Meer das letzte Wort hat.

    Dörte Hansen hat einen wundervoll ruhigen und gleichzeitig aufwühlenden Roman über den Wandel der Nordseeinseln geschrieben. Eine Seefahrer-Familie, wie es unzählige auf den Inseln gibt, bildet den Rahmen für eine intensive Betrachtung des Unaufhaltsamen, dem Verlust von alten Traditionen, aussterbenden Dialekten und dem Suchen von neuen Werten.

    Die Charaktere werden so intensiv und kraftvoll mit ihren Ecken und Kanten beschrieben, dass sie fast greifbar und spürbar werden. Wenn Eske Sander morgens nackt mit all ihren Tätowierungen zum Schwimmen ins Meer geht, kann man das nachspüren. Man hört die harten Bässe, wenn sie mit ihrem Auto über die Insel fährt und keinem Touristen den Weg freimacht. Man kann sich die Treibholzwesen von Henrik Sander vorstellen, die in seiner Werkstatt auf das eine, vollendende Stück Treibgut warten. Dieser unruhige Mann, der vom Meer lebt und ohne es nicht sein kann. Die Last und Angst, die den ehemaligen Kapitän Rykmer Sander treibt und die er nur im Vollrausch erträgt, legt sich wie ein dunkler Schleier um einen.

    Dabei gibt es kaum Dialoge, sondern nur Schweigen und Handeln. Besonders glaubwürdig und erlebbar wird dies von Nina Hoss mit Leidenschaft gelesen.

    Es gibt so viele kleine Dinge, die ich gar nicht alle erwähnen kann. So detailliert beschriebene traurige und düstere Szenen, bei denen man einen Moment innehalten muss. Eine einsame Frau, die nach und nach ihre ganze Familie beerdigen musste und nur noch ihren altersschwachen Dackel durch den Ort trägt und selbst der Inselpastor sich beim Aufeinandertreffen still abwendet, weil er ihr keinen Trost mehr spenden kann.

    Die zwei Gesichter der Mutter, die während die Feriengäste im Haus sind, freundlich und gelöst ist und nach der Saison wieder zu schweigen beginnt.

    "Und Hanne hängt an diesem Brocken Land, sie weiß nur manchmal nicht, ob dies noch ihre Insel ist. Vielleicht gehört sie längst den Wellenreitern und den Wolkenmalern, den Nacktbadern und Muschelsuchern - oder den Eintagsfliegen, die in Schwärmen jeden Tag vom Festland kommen, eine Inselrunde mit der Pferdekutsche drehen, Kaffee trinken in der Leuchtturmstube, weiterzuckeln Richtung Inselkirche, Vogelkoje und Museum, einmal kurz die Promenade rauf und runter, Abendessen im Klabautermann und mit der letzten Fähre wieder auf das Festland, wo die Reisebusse auf sie warten."
    Inselbewohner führen in Trachten und Seemansskluft für Inselgäste tagein, tagaus ein Stück auf, an das sie selbst nicht mehr glauben und selbst der Inselpastor Matthias Lehmann inszeniert seine leidenschaftlichen Predigten mit goldbestäubten Muscheln, bis die Saison zu Ende ist und seine Kirchenbänke sich wieder leeren.

    Trotz meiner Liebe zum Meer und deren Inseln werde ich wohl nie wieder eine Insel betreten, ohne an die Menschen zu denken, die uns Gäste ertragen müssen und deren Welt eine andere geworden ist.

    Es ist ein düsterer Roman, der wenig Licht zulässt. Aber die Intensität der Worte, die Beschreibung der Natur und die Kraft des Meeres und die wundervollen kantigen Charaktere haben mich einfach begeistert. Für mich eine klare Hörempfehlung.

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  1. Ein Hauch von Klischee

    Autorin
    Dörte Hansen, geboren 1964, ist Linguistin und gelernte Journalistin. Ihr Debüt „Altes Land“ erschien 2015 und war ein Sensationserfolg, der wochenlang auf der Bestsellerliste zu finden war. Der nachfolgende Roman „Mittagsstunde“ erschienen 2018, wurde ebenso ein großer Erfolg und verfilmt. Nun ist ihr dritter Roman „Zur See“ herausgekommen. Auch dieser Roman handelt vom Verschwinden und Zerfall einer Welt. Diesmal steht die Gemeinschaft der Inselmenschen und Seefahrer im Blickpunkt.

    Inhalt
    Der Ort der Handlung ist eine beschauliche Insel irgendwo zwischen Jütland, Friesland oder Zeeland. Hier lebt seit mehreren Generationen die Familie Sander, allerdings schon lange nicht mehr einträchtig miteinander. Hanne und Jens Sander haben drei Kinder. Jens Sander hat seine Familie und die Seefahrt aufgegeben. Er lebt abgeschieden als Vogelwart im letzten unberührten Gebiet der Insel. Sohn Ryckmer Sander verlor sein Kapitänspatent und trudelt als Alkoholiker durch sein Leben. Tochter Eske arbeitet in einem Seniorenheim. Sie nimmt die Touristenströme auf ihrer Insel als störende Belagerung wahr. Nur Henrik, der jüngste Mann der Familie Sander, scheint mit seinem Leben zufrieden zu sein, verspürte nie den Wunsch, zur See fahren zu müssen. Er lebt am Strand, sammelt Treibgut und fügt dieses als Kunstwerk für Touristen zusammen.
    Innerhalb eines Jahres ändert sich das Leben auf der Insel fast lautlos.

    Sprache und Stil
    Im Mittelpunkt steht die Familie Sander, jede Person einzeln für sich. Hinzu kommt der Pfarrer,„der Pyrotechniker des Herrn“, mit seinen Problemen.
    Ryckmer, eine der Hauptfiguren im Roman, ist zugleich die tragischste Gestalt. Zunächst ist er Seemann, der Angst vor der See hat. Genau die Angst vor dem Wasser ist sein Schicksal. Doch er führt die Familientradition fort. Bis er mit seinem Schiff in eine Monsterwelle gerät und seine Angst hinausschreit. Danach ist er nicht mehr der Mann, der funktioniert. Seit jenem Erlebnis säuft sich Ryckmer konsequent herab von der „Kommandobrücke eines Tankers auf einem Nordseependelkahn“.

    „Vom Kapitän auf großer Fahrt zum Deckmann, der auf einer Inselfähre durch das Küstenwasser schippert und noch ein bisschen Seebär für die Touristen spielt, die sich von ihm scheuchen lassen.“ (S. 13)

    Seine Schwester Eske hat einmal versucht, die Insel zu verlassen und damit auch der Familie zu entkommen, doch das Heimweh treibt sie zurück. Sie findet auf der Insel eine Stelle als Altenpflegerin. Eske beherrscht eine der Nordseesprachen und findet Zugang zum Archiv für Nordseesprachen. Mit ihrem Mentor Flemming Jespersen freundet sie sich an und unterstützt ihn bei der Digitalisierung alter Gedichte und Lieder von schon längst Verstorbenen. Dieses Wissen nutzt sie bei Gesprächen mit den Alten, deren Geschichten sie aufschreibt, um deren Sprache vor dem Vergessen zu bewahren.

    „Sie hörte alte Tonaufnahmen ab und wusste, dass die meisten, die auf diesen Bändern sprachen, ihre Lieder sangen und Gedichte aufsagten, schon längst verstorben waren. In den Zettelkästen fand sie Worte, die sie fast vergessen hatte […].“ (S. 165)

    Touristen sind bei ihr nicht willkommen. Als Kinder müssen sie und ihre Geschwister immer ihre Zimmer räumen, um Platz für die „Gäste“ zu schaffen. Ihre Mutter hat dann keine Zeit mehr für ihre Kinder. Den radikalen Autofahrerstil ihrer Mutter hat sie übernommen. Ihre Fernbeziehung Freya vom Festland sieht sie nicht so häufig.

    Henrik, der Jüngste, sammelt Strandgut, baut daraus Figuren und ist mit seinen Werken in der Kunstszene bekannt. Er ist zufrieden, auch wenn seine Familie mit ihm wenig anzufangen weiß.

    „Aus seinem Treibgut baut er seltsame Gestalten, Wassergeister, Meeresdrachen, Schwemmholzengel, Seegespenster, die die Insel mittlerweile wie ein eigener Stamm bevölkern.“ (S. 39)

    Hannes Mann Jens zog vor zwanzig Jahren ins Vogelschutzgebiet und lebt dort wie ein Eremit. Doch nun ist er plötzlich wieder zurückgekehrt.

    „Zwanzig Jahre miteinander, zwanzig Jahre auseinander. Jetzt wieder miteinander. Nicht der Rede wert.“ (S. 205)
    Eine Nebenfigur in Dörte Hansens Roman „Zur See“ ist der Inselpfarrer, der aus dem Gleichgewicht gerät, als im Gästebuch der Kirche in grüner Schrift Verhöhnungen seiner Person und Predigen geschrieben stehen.
    „Dieser Pastor glaubt doch selbst nicht, was er hier von Sand und Salz zusammenpredigt. Was für ein Blender.“ (S. 121)

    Seine täglichen Aufgaben für die Gemeinde, den Eingesessenen gleichermaßen Impulsgeber und Ideenspender als auch Wegbegleiter und Ansprechpartner für so gut wie alle Belange zu sein, muss er mit einer flüchtigen, oberflächlichen zweiten Gemeinde den Nicht-Eingesessenen teilen. Er fühlt sich ausgelaugt und fragt sich nach der Saison, wie er beides schaffen soll.

    Nicht nur die Inselbewohner verlieren ihre Orientierung im Wandel der Zeit, sondern auch die Wale. Jens Sander entdeckt den gestrandeten Wal. Doch mehr als die Gase mit einem Messer aus seinem toten Körper zu lassen, kann er nicht tun. Das Innere des Wals ist vermüllt mit Plastikteilen und Fischernetzen. Dörte Hansen zeichnet deutlich mit dem toten Wal den Umgang der Menschen mit der Natur.

    Die Autorin ist eine gute Beobachterin der heutigen Inselleute, die das Erbe ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern weiterleben. Sie verfolgt die Spuren mit der Frage, ob es den Inselmann oder die Inselfrau noch gibt oder je gegeben hat. Vielleicht sind es Mythen, weil wir Geschichten gerne hören.

    Wie eine Geschichte ist der Roman aufgebaut, als ob an einer Kaffeetafel Menschen zusammensitzen und sich über die Vergangenheit, Veränderungen und Zukunft ihrer Insel unterhalten.

    In ihrem Buch „Zur See“ spricht Hansen in der dritten Person. Sie schildert brillant flüssig, mit freundlich-mildem, etwas mitleidigem Spott. Es bleibt ein Hauch von Klischee, ohne in nostalgisches Wehleiden abzudriften. Bisweilen melancholisch, deckt sie das Spektrum zwischen Verlust und Befreiung ab. Nöte und Sorgen zeigt sie ohne große Dialoge oder Erklärungen.

    Fazit
    „Zur See“ lässt plastisch tief in die Seele der Inselbewohner schauen, in deren Leben Veränderungen deutliche Spuren hinterlassen. Mit dem Roman bietet Dörte Hansen uns ein Brennglas, durch das sie die Inselgesellschaft mit all ihren Facetten sichtbar macht. Ihre individuellen Probleme wie Sucht, fehlende Zuwendung, Einsamkeit und Auseinanderleben bewegen sich wie eine Welle der Hilflosigkeit, die oftmals mit einem Schlingern im Sturm auf hoher See endet.

    „Ich wusste, dass ich für diesen Roman einen bestimmten Sound brauche, eine bestimmte Tonart, um diesen Stoff zu erzählen, und daran habe ich sehr, sehr lange gearbeitet“, sagt Hansen. „Das war wirklich schwer, diesen Ton zu finden, das ging durch sehr viel Ausprobieren, sehr viel Umschreiben, sehr viel laut lesen und rhythmisch nochmal drübergehen. Also, es war ein hartes Stück Arbeit, bis ich diesen Ton hatte, der für mich zu dieser Geschichte gehört.“
    Quelle: Sabine Zapplin in: https://www.br.de/nachrichten/kultur/doerte-hansen-roman-zur-see-ueber-das-inselleben,TIiXog0, aufgerufen: 23.10.2022.

    Der Sound ist gelungen.

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  1. Die (Ge)Zeiten ändern sich

    Auf einer kleinen Nordseeinsel irgendwo zwischen Jütland, Friesland oder Zeeland: Hier ist das Klima rau - und manchmal auch der Umgang der Menschen miteinander. Viele Familien leben hier seit Generationen. So auch Hanne Sander, ihre drei erwachsenen Kinder und Mann Jens. Aber es gibt auch die Zugezogenen wie der Inselpfarrer.

    „Zur See“ ist ein Roman von Dörte Hansen.

    Meine Meinung:
    14 Kapitel umfasst der Roman, wobei jedes von ihnen den Schwerpunkt auf eine der Figuren legt. Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge, allerdings mit diversen Rückblicken. Die Handlung erstreckt sich über etliche Monate.

    Sprachlich hat mich der Roman begeistert. Starke, teils ungewöhnliche Bilder, viel Atmosphäre und eindringliche Beschreibungen prägen ihn. Der Schreibstil ist unaufgeregt und dennoch fesselnd. Da lässt es sich auch über die eine und andere allzu pathetische Passage hinwegsehen.

    Die Figuren sind eine weitere Stärke des Romans. Die Erzählstimme ist nahe bei den Charakteren und blickt in ihre Seelen. Alle Protagonisten sind mit psychologischer Tiefe ausgestattet. Sie wirken lebensnah und überaus menschlich. Bei ihren Figuren beweist die Autorin, dass sie sich auf Grautöne versteht. Den Finger legt der Roman immer wieder in die Wunden, beleuchtet die Schwächen und Macken. Dennoch: Keine der Personen ist durchweg böse oder missraten.

    Thematisch ist die Geschichte sehr facettenreich, ohne zu überladen zu wirken. Es geht um Naturschutz, Tourismus, menschliche Beziehungen, das oft entbehrungsreiche Inselleben und einiges mehr. Erwartungsgemäß nimmt die See breiten Raum ein, jedoch nicht in ihrer romantisierten Version, sondern vielmehr mit ihren Schattenseiten.

    Wie schon das Cover vermuten lässt, bietet die Geschichte Tragik und Melancholie. Ein klassischer Spannungsbogen ist nicht vorhanden. Aber mehrere Überraschungen auf den rund 250 Seiten steigern den Lesegenuss.

    Der Titel passt hervorragend zum Inhalt. Auch das etwas übertrieben dargestellte Cover spricht mich an.

    Mein Fazit:
    Mit „Zur See“ hat mich Dörte Hansen zum wiederholten Male überzeugt. Ein Lesehighlight 2022 und ein sehr empfehlenswerter Roman, nicht nur für Inselfans.

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  1. Inselleben

    Eine kleine Insel in der Nordsee. Mit der Fähre dauert es eine Stunde bis zum Festland. Die Familie Sander gehört zu den Alteingesessenen. Hanne Sander hat drei Kinder zur Welt gebracht. Ihr Mann hat sich nach der Seefahrt entschieden in Einsamkeit Vogelbeobachter zu werden. Ein Sohn ist Trinker, der andere Künstler, die Tochter rebelliert seit ihrer Jugend gegen die Mutter. Doch alle können ohne die Insel nicht sein.
    Zur See, das ist ein der neueste Roman der deutschen Schriftstellerin Dörte Hansen. Die Autorin verzaubert mit Sprache und Bildhaftigkeit. Sie reiht ihr Personal gleichberechtigt nebeneinander auf. Protagonist dieses Romans ist wohl die Insel. Oder das Meer. Oder alle beide. Inseln sind, wer weiß warum, Sehnsuchtsorte.

    „Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr weh tut.“

    Was wir hier zu lesen bekommen ist kein Heimatroman. Auch wenn es um die Zerstörung der alten Strukturen auf der Insel geht, serviert uns die Autorin globale Wahrheiten über die Vereinnahmung durch den modernen gefräßigen Tourismus, den Klimawandel, die Beschleunigung einer Welt, bei der viele nicht mehr mithalten können.

    Die Menschen führen ein Inselleben, sind selbst zu Inseln geworden, verharren lieber im Schweigen, statt sich miteinander auszusprechen. „Bei Sanders ist das jetzt so.“
    Zur See ist ein melancholischer Abgesang, zu Herzen gehend und ein Roman, bei dem es leicht fällt sich einzulassen auf Stimmung, Inhalt du Botschaft. Von der ersten Seite an.

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  1. 5
    26. Okt 2022 

    Lesen mit allen Sinnen

    "Irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ liegt die Insel, auf die wir uns mit Dörte Hansen in ihrem aktuellen Roman "Zur See" auf eine literarische Reise begeben. Dörte Hansen erzählt die Geschichte dieser Insel und ihrer Bewohner. Im Mittelpunkt steht dabei Familie Sander, eine Seefahrerfamilie in der zigsten Generation. Diese Folge wird jedoch mit der aktuellen Generation durchbrochen.
    Als die drei Sander-Kinder noch klein waren, ist Vater Jens zur See gefahren. Seine Frau Hanne teilte das Los vieler anderer Seefahrerfrauen. Der Mann war monatelang auf See, die kurze Zeit, die er auf Heimaturlaub war, war er ein Fremder im eigenen Haus. Denn Frauen wie Hanne lernten, allein im Alltag zurechtzukommen, so groß die Belastung mit Haus, Kindern und Feriengästen auch war. Denn irgendwann entdeckte Hanne eine lukrative Einnahmequelle, indem sie Touristen einen „All-Inclusive“-Inselurlaub ermöglichte: Kost und Logis mit Familienanschluss bei den Sanders, inklusive Inselidylle und der Illusion, doch zumindest für die kurze Zeitspanne eines Urlaubs zum authentischen Inselleben dazuzugehören.
    Die Kinder der Sanders sind mittlerweile erwachsen und gehen ihrer eigenen Wege, wobei sich diese Wege auf einer kleinen Insel ständig kreuzen.
    Ryckmer, der Älteste, arbeitet auf der Fähre, die die Insel mit dem Festland verbindet. Er ist Alkoholiker und kommt mehr schlecht als recht durch den Alltag.
    Eske, die Mittlere der Geschwister, ist Altenpflegerin auf der Insel.
    Henrik, der Jüngste, ist ein gefeierter Künstler. Er stellt Skulpturen aus Treibgut her. Menschen von Außerhalb lieben seine Kunst, doch er legt keinen Wert auf Ruhm, Reichtum und Besitz. So lebt er in einem Schuppen am Hafen zusammen mit seinen Kunstobjekten. Man findet ihn jeden Tag am und im Meer. Denn das Wasser ist sein Element.
    Dörte Hansen erzählt die Geschichte dieser Familie und anderer Insulaner über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Heute, genau wie früher, richtet sich das Leben auf einer Insel nach dem Wechsel der Jahreszeiten. Zu den Herbst- und Winterstürmen ist jedoch ein weiterer Sturm hinzugekommen: der Sturm der Touristen, der losbricht, sobald die ersten warmen Tage Einzug halten. Die Touristen haben das Inselleben verändert. Inselfamilien, die seit mehreren Generationen von Schifffahrt und Fischerei lebten, haben nun einen dickeren Fisch für sich entdeckt, der sich mit leichterer Arbeit und weniger Gefahr für Körper und Seele fangen lässt: Wohlstand durch Tourismus. Die Insulaner widmen sich immer mehr der Urlaubsindustrie, alles, was möglich ist, wird zu Geld gemacht. Nur die wenigsten der Insulaner versuchen, diesem Sturm entgegenzuhalten und das „alte" Inselleben zu bewahren.
    Dörte Hansen beschäftigt sich in ihrem Roman "Zur See" ausführlich mit dem Konflikt „Inselidentität versus Tourismus". Indem sie einen Einblick in das Inselleben aus Sicht einzelner Insulaner gewährt, vermittelt sie Überlegungen und Denkansätze zu diesem Konflikt, die dem Leser, der in der Regel die Tourismusseite vertritt, bisher in dieser Intensität nicht bewusst waren.

    Die Sanders und die Alt-Insulaner sind stolze und verschlossene Menschen. Sie erscheinen unnahbar, ernsthaft und zeigen wenig Emotionen im Umgang miteinander. Dabei machen sie nur wenige Worte. Schweigen scheint ein Mittel der Kommunikation zu sein, denn man versteht sich auch ohne Worte.
    Der Insulaner kann jedoch auch anders. Denn gegenüber Touristen zeigt er sich freundlich, zuvorkommend und kommunikativ - quasi ein Inbegriff von Gastfreundschaft und Repräsentant eines Inselklischees.
    Mit Empathie und Feingefühl bringt uns Dörte Hansen ihre Figuren sehr nah: Durch die Wortkargheit der Protagonisten ist dieser Roman alles andere als dialoglastig. Es sind die leisen Dinge zwischen den Zeilen, die den Leser aufhorchen lassen und ihn dazu bringen, sich in die Figuren hineinversetzen zu wollen und sie zu verstehen.
    Von der ersten Seite an ist man von der metaphorischen Sprache einer Dörte Hansen gefangen, die für eine sehr intensive und melancholische Stimmung in diesem Roman sorgt. Dörte Hansen steht für „Lesen mit allen Sinnen" - „Zur See" ist der Beweis dafür.
    Ein absolut literarischer Hochgenuss!

    ©Renie

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  1. Die See gibt, die See nimmt

    Dörte Hansen hat mit "Zur See" ihren dritten Roman abgeliefert, und kann mit ihm definitiv an den Erfolg der ersten beiden anknüpfen. Mittlerweile kann man sagen, dass die Autorin ein Garant für Literaturfans geworden ist.

    In diesem Roman lernen wir Familie Sander und ein paar andere Inselbewohner kennen. Hanne Sander bietet in der Sommer-Saison Zimmer für Feriengäste an, seit vielen Jahren mittlerweile. Ihren Ehemann, Jens Sander, hat sie nun schon seit 20 Jahren nicht mehr in ihrem Haus begrüßen dürfen. Er hat sich auf eine Insel zurückgezogen um Vögel zu beobachten. In seinem eigenen Heim fühlte er sich, wenn er von der Seefahrt heimkehrte, nicht wohl. Die beiden älteren Kinder, Ryckmer und Eske lernten früh, den Weg für die Gäste freizumachen, wenn Saison war. Der Nachzügler, Henrik, der die Ehe kitten sollte, ist ein besonderes Kind, und kann den Vater dennoch nicht halten.

    Im weiteren Verlauf erfährt der Leser über die Probleme aller Familienmitglieder mehr, nur Henrik wird etwas ausgeklammert. Die Seefahrt hat fast alle geprägt, nicht nur die Sanders, auch die anderen Inselbewohner.
    Der Pastor zum Beispiel muss sich fragen, ob er sich wirklich noch für seinen Job berufen fühlt. Seine Frau hat derweil andere Pläne, für alle stehen Veränderungen an.

    Schön dargestellt wird, was sich alles verändert hat und im Begriff ist sich zu verändern. Seefahrt, Tourismus, alles ist nicht mehr das was es mal war. Nun müssen die Menschen, die von der See abhängig sind überlegen, wie sie ihr Leben unter den neuen Bedingungen führen wollen.
    Für mich zeichnet dieses Buch sich besonders dadurch aus, dass die Autorin immer den richtigen Ton trifft, und den Charakteren eine glaubhafte Lebensgeschichte zur Seite stellt. Sie erzählt wenig aufgeregt, eher ruhig und harmonisch. Sie setzt sich mit vielen wichtigen Themen auseinander, ohne dabei anzuklagen, sie zeigt nur die Missstände und die damit verbundenen Probleme auf.

    Am Ende konnte sie mich mit einer überraschenden Wendung noch einmal zum nachdenken anregen. Es wirft auf einige Figuren und Situationen ein neues Licht. Sie spiegelt damit aber auch wieder, wie unzuverlässig das Leben ist, man kann sich darauf genauso wenig verlassen wie auf die See, die auch immer für eine Überraschung gut ist.
    Ein Buch, dass mich vollends überzeugen konnte.

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  1. Ein Hauch von Klischee

    Autorin
    Dörte Hansen, geboren 1964, ist Linguistin und gelernte Journalistin. Ihr Debüt „Altes Land“ erschien 2015 und war ein Sensationserfolg, der wochenlang auf der Bestsellerliste zu finden war. Der nachfolgende Roman „Mittagsstunde“ erschienen 2018, wurde ebenso ein großer Erfolg und verfilmt. Nun ist ihr dritter Roman „Zur See“ herausgekommen. Auch dieser Roman handelt vom Verschwinden und Zerfall einer Welt. Diesmal steht die Gemeinschaft der Inselmenschen und Seefahrer im Blickpunkt.

    Inhalt
    Der Ort der Handlung ist eine beschauliche Insel irgendwo zwischen Jütland, Friesland oder Zeeland. Hier lebt seit mehreren Generationen die Familie Sander, allerdings schon lange nicht mehr einträchtig miteinander. Hanne und Jens Sander haben drei Kinder. Jens Sander hat seine Familie und die Seefahrt aufgegeben. Er lebt abgeschieden als Vogelwart im letzten unberührten Gebiet der Insel. Sohn Ryckmer Sander verlor sein Kapitänspatent und trudelt als Alkoholiker durch sein Leben. Tochter Eske arbeitet in einem Seniorenheim. Sie nimmt die Touristenströme auf ihrer Insel als störende Belagerung wahr. Nur Henrik, der jüngste Mann der Familie Sander, scheint mit seinem Leben zufrieden zu sein, verspürte nie den Wunsch, zur See fahren zu müssen. Er lebt am Strand, sammelt Treibgut und fügt dieses als Kunstwerk für Touristen zusammen.
    Innerhalb eines Jahres ändert sich das Leben auf der Insel fast lautlos.

    Sprache und Stil
    Im Mittelpunkt steht die Familie Sander, jede Person einzeln für sich. Hinzu kommt der Pfarrer,„der Pyrotechniker des Herrn“, mit seinen Problemen.
    Ryckmer, eine der Hauptfiguren im Roman, ist zugleich die tragischste Gestalt. Zunächst ist er Seemann, der Angst vor der See hat. Genau die Angst vor dem Wasser ist sein Schicksal. Doch er führt die Familientradition fort. Bis er mit seinem Schiff in eine Monsterwelle gerät und seine Angst hinausschreit. Danach ist er nicht mehr der Mann, der funktioniert. Seit jenem Erlebnis säuft sich Ryckmer konsequent herab von der „Kommandobrücke eines Tankers auf einem Nordseependelkahn“.

    „Vom Kapitän auf großer Fahrt zum Deckmann, der auf einer Inselfähre durch das Küstenwasser schippert und noch ein bisschen Seebär für die Touristen spielt, die sich von ihm scheuchen lassen.“ (S. 13)

    Seine Schwester Eske hat einmal versucht, die Insel zu verlassen und damit auch der Familie zu entkommen, doch das Heimweh treibt sie zurück. Sie findet auf der Insel eine Stelle als Altenpflegerin. Eske beherrscht eine der Nordseesprachen und findet Zugang zum Archiv für Nordseesprachen. Mit ihrem Mentor Flemming Jespersen freundet sie sich an und unterstützt ihn bei der Digitalisierung alter Gedichte und Lieder von schon längst Verstorbenen. Dieses Wissen nutzt sie bei Gesprächen mit den Alten, deren Geschichten sie aufschreibt, um deren Sprache vor dem Vergessen zu bewahren.

    „Sie hörte alte Tonaufnahmen ab und wusste, dass die meisten, die auf diesen Bändern sprachen, ihre Lieder sangen und Gedichte aufsagten, schon längst verstorben waren. In den Zettelkästen fand sie Worte, die sie fast vergessen hatte […].“ (S. 165)

    Touristen sind bei ihr nicht willkommen. Als Kinder müssen sie und ihre Geschwister immer ihre Zimmer räumen, um Platz für die „Gäste“ zu schaffen. Ihre Mutter hat dann keine Zeit mehr für ihre Kinder. Den radikalen Autofahrerstil ihrer Mutter hat sie übernommen. Ihre Fernbeziehung Freya vom Festland sieht sie nicht so häufig.

    Henrik, der Jüngste, sammelt Strandgut, baut daraus Figuren und ist mit seinen Werken in der Kunstszene bekannt. Er ist zufrieden, auch wenn seine Familie mit ihm wenig anzufangen weiß.

    „Aus seinem Treibgut baut er seltsame Gestalten, Wassergeister, Meeresdrachen, Schwemmholzengel, Seegespenster, die die Insel mittlerweile wie ein eigener Stamm bevölkern.“ (S. 39)

    Hannes Mann Jens zog vor zwanzig Jahren ins Vogelschutzgebiet und lebt dort wie ein Eremit. Doch nun ist er plötzlich wieder zurückgekehrt.

    „Zwanzig Jahre miteinander, zwanzig Jahre auseinander. Jetzt wieder miteinander. Nicht der Rede wert.“ (S. 205)

    Eine Nebenfigur in Dörte Hansens Roman „Zur See“ ist der Inselpfarrer, der aus dem Gleichgewicht gerät, als im Gästebuch der Kirche in grüner Schrift Verhöhnungen seiner Person und Predigen geschrieben stehen.

    „Dieser Pastor glaubt doch selbst nicht, was er hier von Sand und Salz zusammenpredigt. Was für ein Blender.“ (S. 121)

    Seine täglichen Aufgaben für die Gemeinde, den Eingesessenen gleichermaßen Impulsgeber und Ideenspender als auch Wegbegleiter und Ansprechpartner für so gut wie alle Belange zu sein, muss er mit einer flüchtigen, oberflächlichen zweiten Gemeinde den Nicht-Eingesessenen teilen. Er fühlt sich ausgelaugt und fragt sich nach der Saison, wie er beides schaffen soll.

    Nicht nur die Inselbewohner verlieren ihre Orientierung im Wandel der Zeit, sondern auch die Wale. Jens Sander entdeckt den gestrandeten Wal. Doch mehr als die Gase mit einem Messer aus seinem toten Körper zu lassen, kann er nicht tun. Das Innere des Wals ist vermüllt mit Plastikteilen und Fischernetzen. Dörte Hansen zeichnet deutlich mit dem toten Wal den Umgang der Menschen mit der Natur.

    Die Autorin ist eine gute Beobachterin der heutigen Inselleute, die das Erbe ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern weiterleben. Sie verfolgt die Spuren mit der Frage, ob es den Inselmann oder die Inselfrau noch gibt oder je gegeben hat. Vielleicht sind es Mythen, weil wir Geschichten gerne hören.

    Wie eine Geschichte ist der Roman aufgebaut, als ob an einer Kaffeetafel Menschen zusammensitzen und sich über die Vergangenheit, Veränderungen und Zukunft ihrer Insel unterhalten.

    In ihrem Buch „Zur See“ spricht Hansen in der dritten Person. Sie schildert brillant flüssig, mit freundlich-mildem, etwas mitleidigem Spott. Es bleibt ein Hauch von Klischee, ohne in nostalgisches Wehleiden abzudriften. Bisweilen melancholisch, deckt sie das Spektrum zwischen Verlust und Befreiung ab. Nöte und Sorgen zeigt sie ohne große Dialoge oder Erklärungen.

    Fazit
    „Zur See“ lässt plastisch tief in die Seele der Inselbewohner schauen, in deren Leben Veränderungen deutliche Spuren hinterlassen. Mit dem Roman bietet Dörte Hansen uns ein Brennglas, durch das sie die Inselgesellschaft mit all ihren Facetten sichtbar macht. Ihre individuellen Probleme wie Sucht, fehlende Zuwendung, Einsamkeit und Auseinanderleben bewegen sich wie eine Welle der Hilflosigkeit, die oftmals mit einem Schlingern im Sturm auf hoher See endet.

    „Ich wusste, dass ich für diesen Roman einen bestimmten Sound brauche, eine bestimmte Tonart, um diesen Stoff zu erzählen, und daran habe ich sehr, sehr lange gearbeitet“, sagt Hansen. „Das war wirklich schwer, diesen Ton zu finden, das ging durch sehr viel Ausprobieren, sehr viel Umschreiben, sehr viel laut lesen und rhythmisch nochmal drübergehen. Also, es war ein hartes Stück Arbeit, bis ich diesen Ton hatte, der für mich zu dieser Geschichte gehört.“
    Quelle: Sabine Zapplin in: https://www.br.de/nachrichten/kultur/doerte-hansen-roman-zur-see-ueber-das-inselleben,TIiXog0, aufgerufen: 23.10.2022.

    Der Sound ist gelungen.

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  1. 5
    19. Okt 2022 

    Die See bleibt, die Zeiten ändern sich

    Nach „ Altes Land“ und „ Mittagsstunde“ führt uns der dritte Roman von Dörte Hansen noch weiter in den Norden, auf eine namentlich nicht benannte Nordseeinsel, „ irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“. Sie erzählt darin von den Menschen, die dort heimisch sind und von denen, die nur zu Besuch kommen.
    Im Mittelpunkt steht die Familie Sander, die seit 300 Jahren auf der Insel lebt. Sie wohnt im schönsten Haus mit reetgedecktem Dach, Sprossenfenster und einem ein Zaun aus Walknochen. Die männlichen Vorfahren waren Grönlandfahrer und Walfänger, die Frauen blieben daheim, bekamen Kinder und zogen sie groß, versorgten das Heim, bepflanzten den Garten und sie warteten. Warteten auf die Heimkehr ihrer Männer und Söhne, betrauerten die Toten, die das Meer behielt.
    Hanne und Jens führten die Tradition fort, doch die Zeiten sind andere. Was früher selbstverständlich war und hingenommen wurde, entspricht nicht mehr dem heutigen Lebensstil. „ Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man hätte auch ausschlagen können.“
    Jens fuhr zur See und Hanne hegte einen Groll, weil sie alles allein machen musste. Zwei Kinder kamen, später noch ein drittes, das die Ehe retten sollte. Das ging natürlich schief. Hanne holte sich den Sommer über Badegäste ins Haus, für den Mann war kein Platz mehr. Da zog Jens ins Vogelschutzgebiet, weg von den Menschen. Bald zwanzig Jahre lebt er dort wie ein Eremit.
    Ryckmer, der älteste Sohn, führt zunächst die Familientradition weiter. Er arbeitet als Kapitän auf einem Hochseefrachter, bis ihn eines Tages angesichts einer Riesenwelle die Angst gepackt hat. Nun „spielt“ er den Kapitän auf der Fähre, die die Touristen vom Festland auf die Insel bringt und wohnt wieder bei seiner Mutter, die ihm das Bier rationiert. Denn Ryckmer säuft seit jenem Erlebnis.
    Eske hat einmal einen Versuch unternommen, der Insel und der Familie zu entkommen, doch das Heimweh trieb sie zurück. Nun arbeitet sie als Altenpflegerin hier, führt Gespräche mit den alten Leuten, zeichnet diese auf, um deren Geschichte und deren Sprache vor dem Vergessen zu bewahren. Sie hegt einen Groll auf alle Touristen, seit ihrer Kindheit, als sie ihr Zimmer für die „ Gäste“ räumen musste und ihre Mutter keine Zeit mehr für die Kinder hatte. Wenn sie mit dem Auto über die Insel fährt, tut jeder Tourist gut daran, ihr Platz zu machen. Ab und zu besucht sie ihre Festlandbeziehung Freya und lässt sich von ihr ein neues Tattoo stechen.
    Einzig Henrik, der Jüngste, der schon als Kind etwas sonderlich war, scheint seinen Frieden gefunden zu haben. Er sammelt Strandgut und baut daraus skurrile Figuren. Seine Familie weiß mit ihnen wenig anzufangen, aber in der Kunstszene hat er sich damit einen Namen gemacht.
    Neben der Familie Sander gibt es eine weitere Figur, die Dörte Hansen genauer betrachtet. Es ist der Inselpfarrer, der zum einen zuständig ist für die Ortsansässigen, die einfach wollen, „ dass er vernünftig seine Arbeit macht: taufen, konfirmieren, trauen, die Geburtstage der Alten nicht vergessen und auf keinen Fall die Kaffeetafel schwänzen, wenn er sie beerdigt hat“ und für die Touristen, „ die seine Seelensnacks und Impresario-Talente“ schätzen. Doch nachdem seine Frau nach über dreißig Ehejahren eine Wochenendehe führen möchte und ansonsten auf dem Festland lebt, beginnt sein Glaubensfundament zu wackeln. Er hat kein Netz mehr. „ Abgeschnitten, keinerlei Verbindung mehr zu seinem Gott und keine Nachrichten….Er betet in ein Funkloch, predigt, singt und segnet ohne Resonanz“.
    Dörte Hansen versteht es meisterhaft, mit wenigen Szenen Menschen lebendig werden zu lassen. Obwohl es kaum Dialoge gibt im Roman. Das passt aber sehr gut zu diesem wortkargen Menschenschlag im Norden. Man beredet keine Konflikte, man macht einfach weiter. Kämpfe werden im Inneren ausgetragen. Der Leser muss sich selbst seinen Reim darauf machen.
    Auch in diesem Roman, wie schon in „ Altes Land“ betrachtet Dörte Hansen die Besucher von außerhalb mit spöttischem Blick. Sie weiß um die Inselsehnsucht, die viele Menschen umtreibt. „ Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.“ so heißt es an einer Stelle. Und dann beschließen sie in ihrem anfänglichen Überschwang, sich hier niederzulassen. „ Ein Haus am Meer gekauft. Das Luftschloss festgemacht mit Backstein, Rosenhecke und Alarmanlage. Und dann ernüchtert festgestellt, dass es nicht schwebt.“
    Aber auch die Einheimischen tragen zum Ausverkauf der Insel bei. Verkaufen sich und ihren Grund und Boden für ein besseres Leben. Statt frühmorgens rauszufahren und zu fischen, werden gekaufte Krabben an gutgläubige Touristen teuer verhökert , in Ringel- T- Shirts und Seemannsmütze, versteht sich. Dazu singt der Shanty- Chor.
    Doch Dörte Hansen verurteilt nicht. Wer möchte noch das harte Leben aus früheren Zeiten? Wie in „ Mittagsstunde“ hat auch auf der Insel ein unumkehrbarer Strukturwandel stattgefunden. Und der Klimawandel wird letztendlich zum völligen Verschwinden der Insel führen.
    Ein spektakulärer Höhepunkt im Roman ist der Tag, an dem ein Wal auf der Insel strandet und dort verendet. Es zeigt sich, wie hilflos die Nachfahren ehemaliger Walfänger in dieser Situation sind. Hilfe von Fachleuten von außen wird gebraucht. Der Wal als Symbol, als rätselhaftes Wesen, das aus der Tiefe kommt, tot, weil er sein Element verlassen hat. In seinem Innern finden sich Plastikteile und Fischernetze, Zeichen dafür, wie der Mensch mit der Natur umgeht.
    Es ist ein realistisches Bild, das Dörte Hansen von der Insel und den Menschen darauf zeichnet . Alle haben ihre Päckchen zu tragen und am Ende wird nicht alles gut. Doch man macht weiter.
    Es gibt keine Verklärung der Vergangenheit, keine rührselige Nostalgie. Der Alltag damals war ungleich härter als heute, doch in der Gegenwart gibt es andere Probleme, die gemeistert werden müssen. Die See, als eigentliche Hauptfigur, bleibt das, was sie immer war.
    Aber Dörte Hansen schreibt darüber so warmherzig, verständnisvoll, dann wieder mit Humor, dass die Lektüre eine einzige Freude ist. Das liegt am typischen Sound der Autorin, lakonisch, leicht melancholisch, knapp und verdichtet.
    Ich habe die beiden vorigen Bücher geliebt und „ Zur See“ liebe ich auch. Wenn ich sechs Sterne vergeben dürfte, würde ich es tun.

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  1. Atmosphärisch dichter Inselroman

    Im beruflichen Kontext habe ich mich viel mit der Philosophie Hans Blumenbergs auseinandergesetzt. Es geht darin u.a. um die Übermächtigkeit der Wirklichkeit, der wir als Menschen schutzlos ausgeliefert sind. Wir können als homo sapiens Hilfsmittel schaffen, um die Welt ein wenig besser in den Griff zu bekommen. Blumenberg warnt aber auch davor, dass die Wagemütigen, die sich zu sehr aufs tobende Meer hinauswagen, statt sich auf die sichere Zuschauerposition zu beschränken, Gefahr laufen, Schiffbruch zu erleiden.

    An diese Gedanken wurde ich während der Lektüre von Dörte Hansens Roman "Zur See" erinnert. Die Autorin erzählt darin in anspruchsvoller Sprache und mit stilistischem Fingerspitzengefühl von der Besonderheit des Insellebens. Wir lernen die Familie Sanders kennen: Ehemann Jens, Frau Hanne sowie deren Kinder. Das Paar heiratete jung und die Ehe verlief wohl so, wie für viele Insulaner typisch: die Männer zog es hinaus auf die See, Frauen hüteten das Heim oder kümmerten sich um soziale Belange. So war es auch bei den Sanders und es wiederholt sich auch bei den Kindern Ryckmer und Eske. 

    Die Autorin beschränkt sich aber nicht nur auf dieses Miniaturbild einer exemplarischen Familie, sondern betrachtet auch die Menschen und das Geschenen drum herum. Insbesondere der Tourismus und dessen Auswirkungen sind ihr ein wichtiges Thema. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

    Für mich war es das erste Buch von Dörte Hansen. Ich habe es gerne gelesen, konnte aber die Begeisterung innerhalb unserer Leserunde, in der wir das Werk gemeinsam diskutierten, nicht gänzlich teilen. Anerkennen kann ich die sprachliche Leistung Hansens sowie auch die Fähigkeit, die Besonderheit des Insellebens auf den Punkt zu bringen. Die eher soziologischen Aspekte haben mich persönlich dabei am meisten angesprochen, die für mich zeigen, dass zum einen Blumenbergs Überlegungen immer noch aktuell sind. Zum anderen ist es der Autorin aber auch gut gelungen, die destruktiven Auswirkungen des Tourismus beispielsweise auf das Inselleben aufzuzeigen.

    Insgesamt für mich ein durchaus lesenswertes Buch, wenn auch leider kein absolutes Highlight. 

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  1. Seelengeld

    Seelengeld

    "Die Insel ist ein Chamäleon. Sie passt sich den Erwartungen an und ist vom Mythos bis zum Sehnsuchtsort durch alle Zeiten „nur Spiegelfläche des darauf projizierten Anderen“.
    Wir sehen, was wir sehen wollen." (Anne von Canal: Mein Gotland. mare 2020, S. 58)

    Weit weg vom Meer lebend, üben Inseln eine große Anziehungskraft auf mich aus. Gut möglich, dass meine Erwartungshaltung oder Projektion das Ihre dazu beiträgt, dass Urlaubstage auf Gotland, Bornholm, Föhr, den Ålandinseln, Schiermonnikoog oder Prince Edward Island meine Sehnsucht nach Erholung, Ruhe, Geborgenheit und Einsamkeit in besonderem Maße erfüllen.

    Doch was, fragt die Nordfriesin Dörte Hansen in ihrem dritten Roman "Zur See", bedeutet diese Inselbesessenheit für die Einheimischen? Wie wirkt sich der Strukturwandel vom Walfängervolk auf hoher See zum Dienstleistungsunternehmen für Sinn- und Erholungssuchende aus, wie der Ausverkauf von Immobilien, die Fremdaneignung der Inselkultur, der Verlust althergebrachter Strukturen und Traditionen?

    Tiefgreifende Veränderungen
    Dörte Hansen siedelt "Zur See" bei den Nachfahren der Grönlandfahrer auf einer namenlosen Nordseeinsel „irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ (S. 7) an. Dass sie sich nicht mehr mit den kargen Böden abzuplagen, auf Fischtrawlern und Krabbenkuttern frieren oder auswandern müssen, verdankten sie zunächst den Sommerfrischlern, heute den Kurztrippern, die „schnell entschleunigen“ (S. 181) möchten, und doch:

    "Man zahlt ein Seelengeld für dieses Leben." (S. 191)

    Fünf Stimmen
    Dies gilt auch für Familie Sander, wortkarg, jedes Familienmitglied mit schwerem Gepäck. Mutter Hanne und Vater Jens versuchten sich an einer Ehe nach elterlichem Vorbild, aber weder passten Kinder und Seefahrt zu ihm, noch duldsames Warten zu ihr. Sohn Ryckmer verlor sein Kapitänspatent, fürchtet die unberechenbare See, trinkt und setzt jede Beziehung in den Sand. Tochter Eske hält es auf dem Festland nicht aus, hasst die Fremden und Hanne, die als Gastgeberin das Spiel lange mitgespielt hat. Mit ihrer Ganzkörpertätowierung, der lesbischen Fernbeziehung und ihrer Liebe zu ohrenbetäubendem Heavy Metal frönt sie ihrer Wut, kümmert sich andererseits aber rührend um ihre Seniorenheimpfleglinge und hilft beim Bewahren der Inselsprache. Sohn Henrik schließlich, Nesthäkchen und Sonderling, verdankt sein Leben Hannes erfolglosem Versuch zur Rettung ihrer brüchigen Ehe und blieb stets unter ihrem Radar. Jetzt sind seine Figuren aus Treibgut Kult, er jedoch schert sich um nichts und niemanden. Als einziges Familienmitglied hat er im multiperspektivischen Chor der 14 Kapitel keine eigene Stimme und wir erleben ihn ausschließlich aus fremder Sicht.

    Die fünfte Stimme gehört dem smarten langjährigen Inselpastor Matthias Lehmann, den Sanders sehr verbunden, auch er im Umbruch, weil nach seinen Töchtern nun seine Frau aufs Festland zieht. Die Wochenendehe und anonyme Schmähkommentare machen ihm schwer zu schaffen und bescheren ihm eine Glaubens- und Sinnkrise.

    Verschwommen
    Weggehen und Zurückkommen, familiäre Bande, Tradition und Neubeginn, Anteilnahme und Wegsehen sind nur einige der Themen in Dörte Hansens neuem, vergleichbar starken Roman wie "Altes Land" und "Mittagsstunde". In gewohnt pointierter Sprache mit ultrastarken Bildern, melancholisch und doch mit einer Prise hanseatischem Humor, fast ohne Dialoge stellt sie die See in den Mittelpunkt und mit wenigen Strichen gezeichnete Menschen, die sich wie der gestrandete Wal „verschwommen“ haben.

    Ein Highlight des Literaturherbstes 2022, ein Roman wie ein Film und kein Plädoyer gegen Inselurlaube, sondern ein Appell an die Verantwortung der Gäste.

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  1. 5
    11. Okt 2022 

    Nüchtern und weise

    So war es einmal auf Dörte Hansens Insel, die beispielhaft für alle Nordseeinseln steht: Der Mann fuhr „Zur See“, die Frau kümmerte sich um die Feriengäste und zog die Kinder auf. Dass ein Mann an Land blieb – undenkbar. Nur hat sich mittlerweile vieles verändert – nicht zuletzt das Selbstverständnis der Frauen, die es satt haben, allein in der Warteschleife zu leben. Fangquoten, Öko-Aktivisten, Vogelschützer, die „Europa-Schwachmaten“, Air BnB, – das Leben, wie es für die Kapitäne und Fischer der Insel seit jeher funktioniert hat, passt nicht mehr in die heutige Zeit.

    Exemplarisch erfahren wir dies durch die Familie Sander, die eine Seefahrer-Tradition von 300 Jahren aufweisen kann. Heute aber geben die Sanders eher ein Zerrbild des Inselideals ab. Hanne hat schon lange keine Feriengäste mehr, sie hat den Anschluss an den modernen Standard verpasst. Ihr Mann, Kapitän Jens Sander, fährt nicht mehr zur See, sondern fristet ein Eremitendasein auf der vorgelagerten Vogelinsel. Der älteste Sohn Ryckmer hat seinen Job verloren und ein Alkoholproblem, der jüngste Sohn Hendrik ist Künstler und völlig verstrahlt, und Tochter Eske sieht nur auf den ersten Blick aus wie eine ganz normale Altenpflegerin. Ergänzt wird das Ensemble durch den Inselpastor Matthias Lehmann, der in einer Glaubenskrise steckt, seit seine Frau auf´s Festland gezogen ist. Alle Figuren, und das ist die große Kunst Dörte Hansens, sind sowohl prototypisch wie auch greifbare Menschen und bis in die Nebenfiguren scharf gezeichnet, mit Ecken, Kanten und Widersprüchen, an denen man sich wunderbar reiben kann. Keine der Figuren dominiert den Roman, jede Figur erweitert die Sicht auf die anderen – das ist höchst kunstvoll konstruiert und sorgt trotz des langsamen Erzähltempos für Spannung.

    Hansen hat eine unnachahmliche Art, auf Menschen zu blicken; ohne jede Bissigkeit, mit nachsichtiger Ironie: Auf die Touristen, die die Insel für ihren persönlichen Freizeitpark halten, die Einheimischen, die ihre Insel ausverkaufen und dann die Hotelbauten auf ihren ehemaligen Grundstücken verabscheuen, die „neuen“ Insulaner, die ganz leise die Insel gentrifiziert, aber keineswegs gezähmt haben, weswegen ihre mit viel Geld restaurierten Kapitänshäuser 50 Wochen im Jahr leer stehen. Hand auf´s Herz: Hat nicht jede/r schon mal in Gedanken ein Inselhaus mit Knochenzaun, Reetdach und Kletterrosen bezogen und vom Inselleben geträumt? Hansen zieht uns den Romantikschleier weg, lässt unsere Illusionen platzen wie Seifenblasen - und man nimmt es ihr nicht übel, im Gegenteil.

    Mit ihren Figuren erleben wir das wahre Inselleben mit seinem Spagat zwischen Herzlichkeit und Kommerz, mit den Traditionen, die einerseits betrauert, andererseits inszeniert werden, mit dem unscharfen Übergang vom Echten und Wahren zur Touri-Show. So manche/r Einheimische/r, so lernen wir, geht in diesem Spannungsfeld unter.

    Das alles in einer dichten, lakonischen Sprache, oft witzig, mit zu Halbsätzen kondensierten klugen und überraschenden Gedanken und Blickwinkeln. Hansens Metaphern und Vergleiche sind so treffend wie originell und machen die Lektüre zum Genuss. Dabei bleibt der Erzählton immer eine Spur hanseatisch-distanziert. Hansen schaut hin, aber sie macht uns nicht zu Voyeuren.

    Der Roman endet mit einem Knall, der lange nachhallt und die Gedanken noch einmal um die Insel schickt. Ein großartiges Buch – kurzweilig, nüchtern und weise.

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  1. Die Insel der einsamen Seelen

    Auf einer nicht näher bezeichneten Nordseeinsel lebt die Familie Sander in stiller Einsamkeit nebeneinander her. Vater Jens hat seine Frau Hanne und die Kinder vor langer Zeit verlassen, um als Vogelwart ein Eremitendasein zu führen. Sohn Ryckmer verliert als Trunkenbold eine Anstellung nach der anderen, Tochter Eske denkt schon länger darüber nach, der Insel den Rücken zu kehren. Lediglich der jüngste Sohn Henrik, ein nie erwachsen werdender Künstler, scheint mit sich und seiner Umgebung im Reinen. Als innerhalb eines Jahres nicht nur ein sterbender Wal angespült wird, sondern auch Inselpastor Matthias Lehmann den Glauben an Gott verliert, sieht sich die Familie plötzlich mit den ganz großen Fragen des Lebens konfrontiert.

    In Dörte Hansens neuestem Roman "Zur See", der jetzt bei Penguin erschienen ist, erzählt die Autorin sprachlich brillant, voller Wärme und Empathie und durchaus mit feinem Humor von dieser Familie Sander und blickt dabei nur scheinbar beiläufig auf das, was ein Inselleben überhaupt ausmacht. Dabei spart sie auch gesellschaftskritische Themen nicht aus. Sei es der Klimawandel, der auch vor der Insel keinen Halt macht, sei es der immer größer werdende Tourismusstrom oder auch der Verlust typischer Berufe wie Seefahrer oder Fischer. Dörte Hansen legt ihren Finger auf schmerzende Wunden und stellt sich dabei doch ausnahmslos hinter ihre einsamen Figuren.

    Schon der erste Satz des Romans gibt die Richtung der gut 250 Seiten vor. "Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens", heißt es dort, und ein jeder, der schon einmal eine Insel in der Nordsee besucht hat, wird sich darin wiederfinden. In der Melancholie des vagen Ortes einerseits, in der Begegnung mit diesen Figuren, diesen "Typen" oder "Originalen" andererseits. Dabei spielt Hansen gekonnt mit den Klischees und Vorurteilen und setzt diesen Erwartungen auch die ein oder andere lakonische Spitze genau entgegen.

    "Zur See" ist ein außerordentlich leiser und langsamer Roman, der dennoch mit großer Eindringlichkeit aufwartet. Wer braucht einen aufregenden Handlungsbogen, wenn er einer so wunderbaren Erzählweise folgen darf. Hansen findet für ihre Figuren genau die richtigen Worte und spielt mit der Perspektive, wenn sie beispielsweise ein auf den ersten Blick so unscheinbar wirkendes nächtliches Vorlesen des großen Bruders Ryckmer zunächst aus Eskes Sicht schildert und die Bedeutung des Ganzen ein paar Kapitel später völlig über den Haufen wirft, wenn sie sich Ryckmer nähert. Dieses Vorgehen sorgt nicht nur für Abwechslung, sondern auch für ein großes Verständnis der Figuren und für eine hohe Empathie der Leserschaft.

    Bemerkenswert ist auch, dass der Roman auf eine klassische Hauptfigur verzichtet. Die einzelnen Mitglieder der Familie Sander sind ebenso wichtig wie Pastor Lehmann. Keiner von ihnen steht ständig im Mittelpunkt, doch scheinen alle durch das dichte Handlungsnetzwerk stets miteinander verwoben zu sein. Wenn man so will, ist die eigentliche Protagonistin die Insel - oder vielleicht sogar die Nordsee.

    Für mich persönlich war "Zur See" der erste Roman, den ich von Dörte Hansen gelesen habe. Nach der Lektüre kann ich die außerordentliche Beliebtheit ihres Werkes sehr gut nachvollziehen, auch wenn es schwer zu definieren ist, was diesen Zauber eigentlich ausmacht. Vielleicht ist es die Fähigkeit, sprachlich einerseits zugänglich zu schreiben, dabei andererseits aber so tief unter die Haut zu gehen, dass ich mich bei der Lektüre mehrfach einer Gänsehaut ausgesetzt sah. Vielleicht ist es die Wahl des Ortes, die einerseits eine Art Sehnsucht bedient - und diese trotz einer gewissen Dekonstruktion nicht zerstört. Vielleicht ist es aber auch einfach das Geheimnis Dörte Hansens, was einen guten Roman ausmacht. "Zur See" ist jedenfalls ein ganz hervorragender geworden.

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  1. Herber Abgesang auf die Insel

    Kurzmeinung: Das Sprachgefühl der Autorin macht das Buch zu einem Highlight.

    In vierzehn relativ schmalen Kapiteln erzählt Dörte Hansen vom Inselsterben. Dreh- und Angelpunkt ihrer Inselerzählung ist die Familie Sander, andere kauzige Individueen sind um sie herum gruppiert.

    Hanne und Jens Sander haben sich auseinandergelebt. Im Prinzip führten sie das typische traditionelle Inselleben, da kann auch der Widerstrand Hannes nichts daran ändern, der Mann ist auf See, die Frau wuppt den Rest. Die erwachsenen Kinder folgen immer noch den Spuren der Tradition, der älteste Sohn wurde ebenfalls Kapitän wie der Alte. Man kam nicht auf die Idee, dass man eine Wahl hätte. Die zwei Jüngeren üben die Revolte auf ihre Weise, doch die Insel lässt sie nicht los.

    Der Kommentar:
    Gelegentlich bedient Dörte Hansen das Klischee bestimmter Berufsgruppen, a sailor is a lonely man, er säuft und flucht und ertrinkt, er liebt die See und leidet an ihr – und dann durchbricht sie die Idylle und das Klischee, schneidet die Hülle auf und entblößt die Knochen. Jeder ist einfach nur ein Mensch mit einem Schicksal, mehr oder weniger wie alle anderen. Ihre Metaphern sind grandios, ihr Sprachhändling kaum zu toppen.

    Und doch sind nicht nur die Menschen auf der Insel Thema, sondern das Inselsterben. Früher, als noch nicht alles besser war, war das Tagwerk hart, die See und was sie zu geben vermochte, die einzige mögliche Einnahmequelle, Matrosen, Kapitäne, Fischer, Einsamkeit, zerrissene Familien, Väter, die die Kinder kaum kannten und bei jedem Heimataufenthalt ein neues Kind zeugten, aber auch gewachsene Traditionen. Diese Traditionen leben heute nur noch in verkünstelter Form weiter, zum Beispiel in den Shantychören, und werden in kleinen Museen aufbewahrt. Nicht alles Neue ist schlecht, die Touristen bringen auch Wohlstand. Sie sind Segen und Fluch zu gleich. Dass die Hiesigen unter den Veränderungen leiden, ist verständlich. Sie haben allerdings immer gelitten. Einst unter Hunger und der Härte des Lebens, jetzt darunter, ihre Heimat quasi mit allen teilen zu müssen.

    Die Wohnhäuser auf den Inseln gehören zum Teil den Neureichen und überall sind Touristen, die die Brutstätten der Vogl nicht respektieren und eine Inselromantik einfordern, die es so nie gegeben hat. Bettenhochburgen verschandeln die Idylle. Dennoch kommt zur Ruhe, wer zur Ruhe kommen will. Noch. Auf der Insel. Ein bisschen was von ihrem alten Charme ist noch da. Aber wie lange noch? Der Meeresspiegel steigt unaufhaltsam und die nächste Jahrhundertflut kommt vielleicht nicht morgen, dennoch totsicher! Die Insel, auf der man jetzt noch kommod lebt, ist zenmässig gesehen, längst versunken.

    Fazit: Ein herber Abgesang auf das Inselleben wie es früher einmal war.

    Bis auf ein paar kleine Klischeeausrutscher ein wunderschönes Buch, was besonders der Sprache einer herausragenden Literatin zu verdanken ist.

    Kategorie: anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Penguin, 2022

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  1. Inselleben ungeschminkt

    Zu Beginn des Romans werden die Leser:innen von einem, der die Leinen los- und festmacht, mit auf eine Nordseeinsel genommen - "irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7), eine Insel also, die exemplarisch für eine der typischen Ferieninseln steht.

    Der Seemann dient den Fremden als Paradebeispiel.
    "Sie (die Touristen) kaufen ihm die Schweigenummer ab, den wilden Bart, das grimmige Gesicht und diese alte Seemannsjacke. Die Fremden lassen sich gern blenden von den Messingknöpfen mit dem Ankermuster und dem Ring in seinem Ohr. Ein Ryckmer Sander passt in ihren Nordseeurlaub wie der Austernfischer und der Seehund und die Kutterscholle." (13f.)

    Wir erfahren, dass er der älteste Sohn der Familie Sander ist, deren Mitglieder, neben dem Pastor der Insel, Matthias Lehmann, die Protagonist:innen des Romans stellen.
    Auch das Haus der Familie mit seinen Knochenzäunen wird uns vorgestellt. Ein typisches Haus - so wird es suggeriert. Idyllisch, ohne eine Idylle zu beherbergen - der Knochenzaun gibt uns erste Hinweise, dass es hier hart zugeht.
    Hanne Sander, die von ihrem Mann Jens verlassen wurde, der auf einer Vogelinsel, dem "Driftland" lebt. Ryckmer, der Alkoholiker ist und die "weiße Wand" nicht vergessen kann. Eske, die Altenpflegerin, die die Touristen nicht mag und an der alten Sprache hängt, und Henrik, der Jüngste, Künstler und Eigenbrötler.

    "Auf einer Inselfähre/Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7/10) klingt wie der Anfang einer Sage, eines Märchens.
    Hansen führt die von uns, die die Inseln nur aus dem Urlaub kennen, vor: Wir durchschauen die Idylle nicht, lassen uns gern blenden, wollen uns das Urlaubsfeeling nicht mit der Realität zerstören lassen. Das geschieht dann, wenn die vom Festland ihren Traum verwirklichen und sich ein Haus auf der Insel kaufen.
    Dieser Bruch der Illusion, der Idylle taucht immer wieder auf. Ein Beispiel ist, dass die Kinder wegen der Feriengäste aus ihren Zimmern vertrieben werden und gemeinsam auf dem Dachboden schlafen müssen, sie werden "Luftkinder" (48), "Flaschengeister" (48). Hansen versteht es mit ihren Bildern sofort Assoziationen zu wecken, ein Erkennen hervorzurufen.
    Doch die Touristen haben sich verändert, werden anspruchsvoller, raumgreifender, so dass Hanne Sander keine "Badegäste" mehr aufnimmt - ihr Haus mit Knochenzaum wird den Touristen nicht mehr gerecht.

    Auch der Pastor sucht bewusst die "Tagesränder (...). Die Dämmerzeiten zwischen Tag und Nacht, die frühen Nebelmorgen und die späten Regennachmittage. Man muss am Strand, beim Bäcker und im Supermarkt gewesen sein, bevor die erste Fähre mit den Bustouristen und den Fahrradfahrern kommt. Und man muss warten, bis die Abendfähre weg ist, wenn man klein auf einem Inselfriedhof stehen will." (23)
    In der Hauptsaison ist er in Hochform, strahlt von seine Kanzel, bezaubert mit seinem Charisma.
    "Er fühlt sich manchmal wie ein Vogel, der die Federkleider wechselt: sommerliches Prachtkleid, winterliches Schlichtkleid, und dazwischen liegt die Zeit der Mauser." Jetzt ist er "Federlos" (=Kapitelüberschrift), denn seine Frau will die Insel verlassen und nur noch am Wochenende kommen, will näher bei den Kindern sein, um diese zu unterstützen. Der Titel der jeweiligen Kapitel ist sozusagen sein Motto.

    Ein Figurentableau mit vielen Problemen, alltäglichen und außergewöhnlichen. In der Familie Sander und auch beim Pastor bündeln sich diese exemplarisch und Hansen erzählt, wie sie sich weiterentwickeln, sich das Beziehungsgeflecht langsam wieder ändert und auch, wie sich das Leben auf der Insel durch die Touristen unwiederbringlich den neuen Zeiten anpassen muss.

    Ein Roman, in dem genau hingeschaut wird. Auf die Touristen und die Insulanerer:innen, auf einzelne Figuren, die in ihrer Komplexität dargestellt werden. Und das in einer vordergründig nüchternen Sprache, die jedoch immer wieder poetisch wird. Das ist der besondere Ton ihrer Romane. Die Figuren werden beleuchtet, aber mit Empathie und Nachsicht.

    Klare Leseempfehlung!

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  1. Zeit und Gezeiten

    Die See, für manche Sehnsuchtsort, für andere Lebensmittelpunkt und in ihren tiefsten Tiefen immer noch unerforscht. Nur an den Rändern offenbart sie sich. Mit Ebbe und Flut gibt und nimmt sie und die Menschen an ihren Küsten müssen sich arrangieren.

    Dörte Hansen schaut sehr genau auf ein nicht näher bezeichnete Insel in der Nordsee und berichtet von seinen Bewohnern. Die Familie Sander, mit ihren Kapitänsvätern und -großvätern und ihrem traditionsreichen, reetgedeckten Kapitänshaus steht hier im Mittelpunkt.
    Hanne Sander hat drei erwachsene Kinder, aber nur ihr Ältester, Ryckmer, fuhr zur See, bis er sein Patent verlor und nun mit oft reichlich Alkohol im Blut seine Erlebnisse dort zu verarbeiten sucht. Hanne sorgt dafür, dass er wenigstens den Job als Inselfährmann halbwegs nüchtern erledigt.

    Ihre Tochter Eske ist Pflegerin im Inselaltenheim. Dort pflegt sie die letzten echten Inselbewohner und zeichnet ihre verschwindenden Dialekte auf. Die Aufnahmen übergibt sie jedes Jahr, wenn sie im Winter für 4 Wochen die Insel verlässt, einem Sprachenforscher. Eske zieht es aber auch noch aus einem weiteren Grund ans Festland.

    Nur Hannes Jüngster, Henrik, scheint mit sich und seiner Welt zufrieden zu sein. Er lebt und arbeitet mit und für die Dinge, die die Flut regelmäßig anschwemmt. Er schraubt und sägt daraus Inselkunst. Er liebt die See und was sie ihm schenkt und die See liebt ihn zurück. Fast über Nacht wird er berühmt für seine Werke, die die Fluten von Inselurlaubern und neureichen Teilzeitbewohnern ihm abkaufen und in ihre Unterkünfte und Vorgärten stellen.

    Dörte Hansen belebt ihre Geschichte mit weiteren Gestalten, die so das Bild einer urigen Urlaubsinsel verfestigen. Da ist der Inselpastor, der an seinem Glauben zweifelt, da sind die Fischer, die sich mit EU-Vorgaben abplagen und da ist vor allem Jens Sanders, Hannes Mann, der auf unbeständigem Driftland sitzt und Vögel beobachtet, bis ihm ein "Thronfolger" bewusst werden lässt, dass er menschliche Nähe braucht. Doch seiner Frau kann er sich nach 20 Jahren Trennung nur langsam annähern.

    Ein Pottwal ist es, der noch einmal das verschüttete Wissen der Insulaner heraufbeschwört und ihnen das alte, harte Leben ihrer Vorfahren in Erinnerung ruft. Die Knochenzäune am Kapitänshaus waren Zeugen.

    Die Gezeitenströme geben und nehmen, die Touristenströme zahlen und zerstören, aber der Zeitstrom ändert gnadenlos, unaufhaltsam und unwiderbringlich. Und die See, die See holt sich, was sie liebt.

    Mit wundervollen, treffenden, Emotionen heraufbeschwörenden Sätzen versetzt Hansen ihre Leser auf eine Inselwelt und zeigt Licht und Schatten, Kulissen und ihr knirschendes Gebälk im Zeitenverlauf, wie es an Dreidimensionalität kaum zu übertreffen ist. Auf 250 Seiten sitzt alles geschliffen am rechten Platz und hält doch Raum vor, für Erinnerungen an längst vergangene Kindertage, als auch wir nur Flaschengeister in der Erwachsenenwelt waren, oder der auflandige Seewind unsere Wunden und unseren Kummer weggepustet hat.

    Erstaunlich, dass mir die Romane von Dörte Hansen bisher durch die Lappen gegangen sind, aber das wird sich jetzt definitiv ändern. Sie konnte mich rundum begeistern, mit einer verstörenden Strahlkraft. Fast hätte ich meine Koffer gepackt und die Inselfähre gebucht, nun wohlwissend, wie brüchig dieser Rand unserer Welt ist.

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  1. Insulaner und Touristen + eine Nordseeinsel im Wandel

    Ein Leben auf einer Insel, eine Stunde mit der Fähre vom Festland entfernt, den Gezeiten und dem Wetter ausgeliefert, kann ich mir für mich schlecht vorstellen. Ich freute mich aber sehr, dass Dörte Hansen dieses Leben mit ‚Zur See‘ faszinierend und packend zugleich veranschaulicht hat!

    Und nicht nur das Leben verschiedener Insulaner, wie z.B. der fünfköpfigen Familie Sander oder des Inselpastors Matthias Lehmann und seiner Frau, die Rettungsschwimmer von der Inselstrandwacht, bei denen das Gesetz ‚Noch! Nicht!‘ herrscht, sondern auch die Touristen sind ein Thema mit der Entwicklung der Touristik durch die Zeiten.

    Eine facettenreiche Handlung, Ehe- und Familien-Strukturen, die mich zum Analysieren reizten, und dann noch viel Wissenswertes, z.B. das Zerlegen und Entfernen eines Pottwals, die Bedeutung des Worts ‚Kükenfluten, und vieles mehr wird geboten. Von alten Traditionen und Neuerungen können wir lesen – wunderschöne, treffende Beschreibungen und Vergleiche rundeten den Genuss für mich ab! Ich konnte das Buch kaum mehr aus der Hand legen!

    Die pointierte Beobachtungsgabe der Autorin mit ihrem feinen Humor hinterließ bei mir (wie schon bei ihren beiden ersten Büchern) einen tiefen Eindruck! Leider kann ich nicht mehr als die Höchstzahl von fünf Sternen vergeben, ich wünschte, es wären mehr. Ich drücke dieses besondere Buch allen Lesenden ans Herz, die neugierig auf ein anderes Leben sind, als sie selbst führen.

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  1. 4
    07. Okt 2022 

    Das Kapitänshaus

    Die Mitglieder der Familie Sander kommen und gehen im Kapitänshaus auf der Insel. Nun wohnt Hanne dort, zwei Jungs und ein Mädchen hat sie großgezogen. Ihr Mann Jens fuhr lange Zeit zur See. Irgendwann hat Hanne das Warten nicht mehr ausgehalten und Jens die Ehe. Nun beobachtet er die Vögel. Die Tochter Eske hätte die Insel verlassen können, doch ist als Altenpflegerin im einzigen Altenheim der Insel tätig. Ryckmer, der Älteste, hatte auch das Kapitänspatent, allerdings verlor er es und hilft nun auf der Fähre aus. Eine Bedingung gibt es, er muss nüchtern bleiben. Hendrik, der jüngste, ist Künstler.

    Auf der kleinen Nordseeinsel kennt man sich. Zwar braucht die Fähre nur eine Stunde bis zum Festland, jedoch ist das Inselleben ein anderes. So viele Einheimische leben nicht mehr dort, dafür kommen schon die Touristen, erst eher im Sommer und nun fast während des ganzes Jahres. Früher war es im Sommer anders. Alles drehte sich um die Gäste, selbst die Kinder mussten ihren Platz räumen. Hanne war im Sommer eine andere. Inzwischen sind ihre einfachen Gästezimmer nicht mehr so gut besucht. Dafür lebt Ryckmer wieder daheim, nachdem er seinen Posten verlor. Und auch im Leben das Inselpastors ergeben sich Veränderung, die ihn nicht unbedingt begeistern.

    Und wieder schenkt Dörte Hansen ihren Lesern einen fesselnden Roman. Das Buch atmet Nordseeluft, wobei neben der Sehnsuchtszeit des Urlaubs und des Sommers auch das Grau der anderen Jahreszeiten nicht ausgespart wird. Das Inselleben verändert sich ebenso wie das Leben im Kapitänshaus. Auch wenn sich die Beschreibungen, sehr norddeutsch dauert es eine Weile bis das erste Wort gesprochen wird, auf die Familie Sander fokussieren, so werden auch kleine Begebenheiten um die anderen Insulaner geschildert. Es ist so normal und doch so anders. Wortkarg sind sie und doch reich an Empfindungen. Kein leichtes Buch, doch sehr beeindruckend. Der Wind, die Brise, das Geschrei der Möwen, die Charaktere der Menschen sind perfekt und liebevoll gezeichnet, ohne irgendetwas zu beschönigen. Es herrscht eben nicht nur Urlaubsfeeling, sondern eben auch mal Wind und Wetter. Wenn sich Dörte Hansen eines Themas annimmt, kann man sicher sein, dass man eine anrührende Geschichte lesen darf.

    4,5 Sterne

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  1. Phänomenal erzählt! Wow!

    !ein Lesehighlight 2022!

    Klappentext:
    „Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?

    Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.“

    Wow! Was für ein Buch! Was für Geschichten! Ich muss wirklich zugeben, es war erschreckend und faszinierend zugleich zu lesen was Dörte Hansen hier niedergeschrieben hat. Diese Frau schafft es so gekonnt mit ihren Protagonisten die Menschen an der See zu charakterisieren, das man nur so staunt. Wie ich darauf komme? Ich wohne hier direkt an der Nordseeküste, kenne die alten und neuen Geschichten, kenne das Wetter, kenne die See da sie lange Zeit mein Arbeitsplatz war und der meines Mannes. Die See formt sie Menschen und nicht umgedreht. Die See ist unberechenbar.
    In ihrem Buch „Zur See“ spricht Hansen in der dritten Person. Macht das Sinn? Und wie! Denn nur so bleibt eine gewisse Distanz zwischen uns Lesern und den Figuren erhalten die es auch braucht. Wenn wir alle Seelen in diesem Buch an unser Herz lassen würden, kämen wir bei den ganzen Geschichten nicht weit. Sie würden uns zu sehr belasten. Hansen erzählt von Ryckmer Sanders, seiner Mutter Hanne, seinem Vater Jens, Schwester Eske kommt darin vor und auch Bruder Henrik. Kurzum: die ganze Sanders-Familie wird hier beleuchtet, aber auch der Inselpfarrer kommt zu Wort und seine Frau und am Rande auch noch so einige andere Charaktere. Hansen erzähl uns aus derem Leben und was die See immer wieder damit zu tun hat. Jeder der Figuren hat seinen Seelenrucksack zu tragen, jeder hat sein Päckchen zu schleppen. Schlussendlich ist alles hausgemacht, außer das was die See anrichtet. Der gestrandete Wal ist einerseits Naturereignis aber auch eine Metapher zugleich. Keine Angst, religiös wird es nicht aber die Gedanken kommen einem beim lesen automatisch auch wenn man damit nichts am Hut hat. Unsere namenlose Nordseeinsel wird von Touristen belagert (auch das kenne ich nur zu gut, denn ich wohne selbst in einem Ferienort) und schlussendlich ist es Fluch und Segen zugleich. Das Wasser schwemmt sie an und nimmt sie wieder mit wenn die Saison vorbei ist und die Insulaner wieder ihre Insel für sich haben. Sie leben davon aber wollen es eigentlich nicht. Trauriges Spiel welches heute leider ganz ernste Realität geworden ist. Wenn man die großen Inseln in Nord- und Ostsee ansieht, weiß man was Hansen hier im Buch damit meint. Vieles Altes geht und Neues kommt - nicht immer gut austariert. Es ist nicht alles Gold was glänzt und die alten Häuser und Geschichten über die Seefahrer und die Nachkommen bekommen eine gewisse blasse Note. Dörte Hansen verurteilt nicht in diesem Buch, sie fügt zusammen was zusammen gehört und was entstanden ist. All das ist Realität und keine Fiktion! Es gibt hier solche Typen wie Henrik oder Ryckmer! Wirklich! Ihre fein akzentuierten Erzählungen, ihre raue und kurz-angebundene Sprache zeigen perfekt, fast erschreckend perfekt, das Bild hier an der See auf. Es könnte überall spielen. Hier an der Nordseeküste, auf Sylt oder Rügen. Die Menschen sind so unberechenbar wie die See selbst aber sie hat immer noch die Überhand. Die See ist der rote Faden. Die Naturereignisse stellt Hansen ebenfalls als Metapher aber auch als eben jene Naturgewalt dar. Beides passt und ist stimmig, genau wie der Rest der Geschichte. Hier stimmt alles! Egal ob die Charaktere (Hansen muss ein feine Beobachtungsgabe haben diese so zu analysieren), die Örtlichkeit, die See selbst und die Geschichten hinter allem. Ja, ich war erschrocken über so manche Erzählung und Beschreibung. Hansen trifft ganz tief ins Mark und sagt das, was wir Bewohner der Küste hier nicht wirklich laut in die Welt hinaus posaunen würden - dafür sind wir zu still. Die Autorin poppelt hier in Wunden herum die weh tun, aber das muss manchmal sein. Egal,ob gewollt oder Nebeneffekt. Sie nennt Themen die eigentlich niemand gern hören will, die in wenig schmerzen in den nordsichen Ohren aber es muss sein. Hansen streut Salz in die Wunden und zeigt dadurch das wahre Gesicht. Besser und eindrucksvoller hätte sie es nicht schreiben können. Dieser Roman ist ein Kracher und ich kann ihn nur empfehlen und ich würde gern mehr als 5 Sterne dafür vergeben. Ich bin tief beeindruckt von diesem Buch, welches ganz klar win Lesehighlight 2022 für mich ist!

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