Zukunftsmusik: Roman

Rezensionen zu "Zukunftsmusik: Roman"

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    20. Nov 2022 

    Zwangs-WG und Trauermarsch...

    Die Geschichte eines Aufbruchs: In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen. (Klappentext)

    Im Radio erklingt am 11. März 1985 der Trauermarsch von Chopin - ein untrügliches Zeichen dafür, dass im Politbüro schon wieder jemand gestorben ist. Der letzte ZK-Generalsekretär der alten Garde, Konstantin Tschernenko, ist tot, kein Jahr nach seinem Antritt dieses Postens. Katerina Poladjan erzählt in ihrem Roman vom Alltag der Menschen in einer Kommunalka an eben diesem Tag in einer namenlosen Stadt tausend oder mehr Kilometer östlich von Moskau. 

    Kommunalka - das ist im Grunde eine Zwangs-WG, eine Gemeinschaftswohnung, in der den Bewohnern von staatlicher Seite her wenige Quadratmeter zugeteilt werden, kaum Privatsphäre, Küche und Bad müssen geteilt werden. Zudem ist dies eine Wohnform, die schon im 19. Jahrhundert im Zarenreich aus Mangel an Wohnraum entstanden ist und daher auch später typisch für die Sowjetunion wurde.

    Die Autorin stellt in ihrem Roman einige der Bewohner der Kommunalka vor, andere werden lediglich erwähnt und spielen keine große Rolle. Vor allem die Großmutter Warwara (übergriffig aber mit Geheimnissen), die Mutter Marija (vom Mann verlassen, Aufseherin im Naturkundemuseum und voller Sehnsüchte), die Tochter Janka (Fabrikarbeiterin mit eigenem Kopf und musikalisch talentiert) sowie die dreijährige Enkelin Kroschka (angepasst und zurückhaltend), die sich ein einziges Zimmer teilen, stehen hier im Mittelpunkt des Geschehens, daneben noch der Zimmernachbar Matwej Alexandrowitsch (Ingenieur und staatstreuer Kommunist, der aber als junger Student die Willkür des Systems erfuhr).

    Fünf Klobrillen hängen auf der Toilette an der Wand, in der Küche der Wohnung stehen fünf Herde, man versucht sich so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, doch immer wieder branden kleine Konflikte auf, wird sich am Eigentum der anderen bedient. Bildet sich vor einem Geschäft eine Schlange, stellt man sich an, ohne zu wissen, was es zu kaufen gibt - aber: es gibt immerhin etwas zu kaufen, und irgendetwas wird man damit schon anfangen können. 

    Auf so engem Raum wie in der Kommunalka werden Toleranz und Geduld auf eine harte Probe gestellt, es ist schwer, Dingen auszuweichen, die einen stören. Resignation und Melancholie durchwabern die Räume, ebenso wie die allgegenwärtige Angst vor einer möglichen Denunziation (nur die Gedanken sind frei), doch irgendwie schaffen es alle irgendwie, sich mit den Wohnverhältnissen und dem System zu arrangieren. Dennoch gibt es da bei jedem auch den Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht nach Glück, teilweise sich selbst gegenüber kaum eingestanden, manchmal jedoch auch nahezu offeniv. So will die junge Janka am Abend in der Küche ein Konzert geben, die Lieder genau davon handelnd.

    Obwohl sie bereits als Kind die Sowjetunion mit ihren Eltern verließ, gelingt es Katerina Pladjan, das Lebensgefühl jener Zeit wachzurufen und authentisch darzustellen. Sie schreibt dazu selbst: 

    "Am Anfang und im Zentrum stehen für mich Menschen, die in einem solchen komplizierten Beziehungsgeflecht leben – im Verhältnis zur Familie, zur Gemeinschaft, zum Kollektiv und letztendlich zum politischen System. Was nehmen die Menschen als Freiheit wahr? Wo fühlen sie Beschränkung? Was bedeutet persönliche Entfaltung unter widrigen Bedingungen?"

    Die Kommunalka stellt demnach ein Sinnbild der sowjetischen Gesellschaft im März 1985 dar. Nicht wissend, wer oder was nach dem Tod von Tschernenko erfolgt, erleben die Bewohner der Gemeinschaftswohnung dennoch einen Aufbruch. Es bröckelt der Stuck, im Dach ist ein Loch, nun muss renoviert oder umgebaut werden - Perestrojka bedeutet: Umbau, Umgestaltung. Und eben jene folgt auf Tschernenkos Tod, was zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand weiß. Und so brechen die Bewohner der Kommunalka in diesem Roman am Ende in einem surrealen Szenario in eine neue, ungewisse Zukunft auf.

    Der Spagat zwischen Staatstreue und Freiheitswunsch im Augenblick eines historischen Neubeginns. Ein kleiner, feiner Roman.

    © Parden

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