Wunderkind Erjan

Buchseite und Rezensionen zu 'Wunderkind Erjan' von Hamid Ismailov
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Inhaltsangabe zu "Wunderkind Erjan"

Durch die Weite der Steppe Kasachstans fährt ratternd ein Zug. In ihm begegnen sich ein Reisender und Erjan, das Wunderkind. Der Knabe spielt mitten in dieser vom Zug durchquerten Einöde so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht. Doch die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist in Wahrheit bereits ein Mann von 27 Jahren; als Kind tauchte er allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See. Hamid Ismailov versetzt damit das Blechtrommel-Motiv des Immer-Kind-Bleibenden in die Einöde des von 486 Atombombentests verseuchten Kasachstan und gibt ihm eine herbe Intensität von tiefer Schönheit. Zwei Welten prallen darin aufeinander: die Weite und Einsamkeit der Steppe Kasachstans und die moderne Welt außerhalb davon – der Zug, der diese wie stehen gebliebene Welt täglich durchfährt, die Atomtests, die wie eine unsichtbare Macht die Natur und die Menschen verändern, die Musik, die einen anderen Rhythmus in Yerzhans Leben bringt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:152
EAN:9783932109980

Rezensionen zu "Wunderkind Erjan"

  1. Wenn Erjan auf Oskar Matzerath trifft...

    Trotz seiner gerade einmal knapp 150 Seiten ist dieser Roman ein Ereignis. Hamid Ismailov erzählt in einer wunderbar gelungenen Mischung aus Tragik und Komik die Geschichte des virtuos Geige spielenden Erjan und dessen Kindheit in der kasachischen Steppe in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre.

    Als Rahmenhandlung dient eine Zugfahrt durch die Steppe gegen Ende der 90er-Jahre, auf der der namenlose Ich-Erzähler den 27-jährigen Geigenspieler trifft. Doch Erjan sieht aus wie ein Zwölfjähriger und erst nach einem Blick in seinen Pass kann er sein Gegenüber von seinem Alter überzeugen. Mit zwölf Jahren hörte Erjan nämlich urplötzlich auf zu wachsen, just nachdem er einen Sprung in einen durch Nukleartests entstandenen Stausee wagte. In der Folge erzählt Erjan seinem Begleiter auf der Zugfahrt seine Familiengeschichte.

    Hamid Ismailov gelingt es in meinen Augen ganz hervorragend, die Leser:innen sowohl zum Lachen als auch zum Weinen zu bringen. Denn der historische Fakt, der dieser erzählten Kindheit zugrunde liegt, ist ein ungeheuerlicher: Von 1949 bis 1989 wurden in besiedelter Landschaft der Steppe insgesamt 468 Kernexplosionen ausgelöst, davon 125 überiridische. Die Sprengkraft übertraf in der Summe die der Hiroshima-Bombe um das 2500-fache. Darüber informiert das Buch in einem kleinen Auszug vor Beginn der Geschichte.

    Trotz dieser nahezu unfassbaren Grausamkeit wirkt "Wunderkind Erjan" erstaunlich humorvoll, bisweilen sogar beschwingt. Die Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner, die auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, ist hervorragend, denn Tretner gelingt es, durch zahlreiche Wörter und Gedichte aus dem Kasachischen eine sehr hohe Authentizität zu schaffen.

    Ein besonderer Erzählkniff ist, dass Erjan auf der Zugfahrt irgendwann einschläft und sich der Ich-Erzähler somit selbst zusammenreimen muss, wie Erjans Geschichte weiterging. Hier überwiegen die tragischen Ereignisse, denn der Erzähler ist offenbar ein Schwarzseher - oder nur ein Realist?

    "Wunderkind Erjan" ist ein großartiger kleiner Roman, ein Märchen aus dem Realismus, eine Parabel, vielleicht eine Art Anti-Blechtrommel. Was wäre das für ein Orchester, wenn Erjan an der Geige und Oskar Matzerath auf der Blechtrommel sich ein Stelldichein gäben und den Erwachsenen und den Grausamkeiten der Welt lärmend-virtuos gegenüberträten und ihnen ein "Hört uns an!" entgegen schmetterten.

    Ausdrücklich zu loben ist auch die wunderschöne Gestaltung des Buches aus der "Friedenauer Presse". Ich wünsche dem Roman viele Leser:innen - und den Leser:innen selbst, dass sie ihn entdecken mögen.

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