Wintersturm

Buchseite und Rezensionen zu 'Wintersturm' von John Vercher
3.7
3.7 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Wintersturm"

Pittsburgh, 1995. Der zweiundzwanzigjährige Bobby Saraceno ist ein gemischtrassiger Schwarzer, der sich als Weißer ausgibt. Bobby hat seine Identität vor allen verborgen, auch vor seinem besten Freund Aaron, der gerade als radikalisierter weißer Rassist aus dem Gefängnis zurückgekehrt ist. In der Nacht ihres Wiedersehens wird Bobby Zeuge, wie Aaron einen jungen Schwarzen gnadenlos mit einem Ziegelstein angreift. Nach dieser entsetzlichen Gewalttat muss Bobby seine unwissentliche Beteiligung an dem Verbrechen vor der Polizei verheimlichen und mit seinen eigenen persönlichen Dämonen kämpfen. Eine erschütternde Geschichte über Rassismus und Brutalität. 2020 nominiert für den Edgar Award for Best First Novel.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:300
Verlag: Polar Verlag
EAN:9783948392628

Rezensionen zu "Wintersturm"

  1. Abbild des amerikanischen Rassismus

    Pittsburgh 1995, Bobby Saraceno ist 22 Jahre alt, er arbeitet in einem Restaurant im Schichtbetrieb. Seine Mutter Isabel ist Alkoholikerin, die finanzielle Situation regelmäßig prekär. Bobbys Freund Aaron saß einige Zeit wegen eines Drogendelikts im Gefängnis. Gleich an seinem ersten Abend in Freiheit erschlägt Aaron einen jungen Schwarzen, während Bobby Zeuge dieser Tat war.

    Wintersturm ist der Titel des Debütromans von John Vercher. „Three-Fifths“, wie der Originaltitel des Romans lautet, erzielte einige Auszeichnungen. Es ist ein Buch im Zeichen des blacklivesmatter.

    Vercher siedelt seine Story im Jahr 1995 an. In diesem Jahr fand der Prozess gegen O.J. Simpson statt und dieses Ereignis wird im Roman auch mehrfach erwähnt. Auch wenn die deutsche Ausgabe unter der Bezeichnung Kriminalroman erscheint, handelt es sich eigentlich viel mehr um eine Milieustudie und ein Abbild des amerikanischen Rassismus.

    Bobby, so erfährt man schon im Klappentext, ist ein gemischtrassiger Schwarzer. Doch weiß sein bester Freund Aaaron nichts davon. Aaron hingegen hat vor seiner Haft den Style schwarzer Jugendlicher imitiert. Im Gefängnis wird der junge Mann nach schweren Verletzungen unter den Schutz einer arischen Bruderschaft gestellt und radikalisiert.

    Erzählt wird die Geschichte aus drei Blickwinkeln: Bobby, Bobbys Mutter und Robert, dem Arzt, der Aarons Opfer im Spital behandelt. Mit dem Perspektivenwechsel nimmt Vercher immer wieder auch das Tempo nach aufgeladenen gewaltsamen Handlungsteilen.

    Schwarz, Weiß, Herkunft und Identität, Schuld und Gewissen sind die Schlagworte für diesen Roman.

    „Was bist du eigentlich für eine?“, fragte er sie…… „Ich bin ein Mensch“, sagte sie….
    Eine Nebenfigur der Handlung wird zum moralischen Zeigefinger.

    Der „Three-Fifths Compromise“ - die Drei-Fünftel-Klausel - aus 1787 legte fest, dass jeweils drei von fünf Sklaven bei der Volkszählung mitgezählt werden sollten. Der europäische Leser kann sich diese Information selbst erarbeiten, aber Verchers Anliegen, den Menschen nicht aufgrund der Hautfarbe unterschiedliche Werte beizumessen muss auch ohne dieses „Hintergrundwissen“ gehört werden.

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  1. Lügen haben kurze Beine

    Der Polar Verlag hat John Verchers hoch gelobtes Debut "Wintersturm" nun auch ins deutsche Verlagsprogramm aufgenommen. Ein klassischer Kriminalroman, so viel vorweg, ist es nicht. Im Kern geht es um die Themen Brutalität und Rassismus. Die Geschichte spielt Mitte der 90er Jahre; Schauplatz ist Pittsburgh.

    Zu Beginn der Geschichte treffen Bobby und Aaron aufeinander. Sie sind seit ihrer Schulzeit befreundet. Damals schweißte sie ihr Außenseitertum und die Leidenschaft zu Comics zusammen. Der eine (Bobby) ist ein gemischtrassiger Schwarzer, der aber den Part des Schwarz-Seins bezüglich seiner Identität verdrängt hat. Seinen (schwarzen) Vater hält er den Erzählungen seiner Mutter Isabel folgend für tot. Der andere (Aaron) ist ein Weißer, der zu Schulzeiten gerne den Kleidungsstil der schwarzen Mitschüler imitierte, nun aber Schwarze verachtet. Er hat im Gefängnis eingesessen, wo er sich einer Bande angeschlossen und radikalisiert hat. Die Freunde treffen nun seit langer Zeit erstmalig aufeinander. Nach einem Kneipenbesuch kommt es zu einem folgenschweren Zwischenfall: Aaron erschlägt einen schwarzen Jungen mit einem Ziegelstein und Bobby wird zum Mittäter. Fortan fürchtet er Aaron.

    Im Laufe der Geschichte erfahren wir v.a. viel aus Bobbys Sicht: Er kellnert, um die Miete für sich und seine alkoholkranke Mutter Isabel aufbringen zu können. Ihm ist wortwörtlich nicht wohl in seiner Haut- erst Recht, seitdem Aaron verändert aus der Haft wieder aufgetaucht ist. Über Aaron selbst erfahren wir deutlich weniger. Wohl aber lesen wir über einen schwarzen Arzt namens Robert, der im Krankenhaus den oben erwähnten schwazen Jungen behandelt. Wir lesen auch im Rückblick über seine gescheiterte Ehe und einen unerfüllten Kinderwunsch. Und natürlich lesen wir über Isabel und ihren Versuch, Bobby durch das Verschweigen der Wahrheit vor einer potentiellen Gefahr durch ihren Vater, Großvater zu schützen. Sie alle lügen sich irgendwie in die Tasche und alle müssen sie am Ende einsehen, dass die Wahrheit siegt...

    Soviel zum Inhalt, ohne zu viel zu verraten. "Wintersturm" greift also das Thema auf, ob und wie die Hautfarbe, Einfluss auf das Leben nimmt. So ist es nicht verwunderlich, dass sich passende Bezüge zur US-Lebenswirklichkeit finden, u.a. auf den damals mit großem Interesse verfolgten Simpson-Prozess. Rassismus ist gerade in manchen US-Regionen nach wie vor ein sehr aktuelles Thema. Vercher nimmt im Orginaltitel "Three-Fiths" auf die US-amerikanische Verfassung Bezug, wo ein Mensch schwarzer Hautfarber weniger zählt: Nur drei von fünf Schwarze werden bei der Volkszählung mit berücksichtigt. Ein durchgängiges Motiv ist die Bedeutung der Hautfarbe für das Leben der einzelnen Protagonisten, deren Lügen und Selbstinszenierungen nicht verhindern können, dass die harte und wahre Realität sie einholt. Wie Vercher diesen Faden in die Geschichte einwebt, sachlich und unaufgeregt, hat mir gut gefallen. Allein, das Thema Rassismus wurde in der Literatur bereits meisterhaft aufgearbeitet. Verchers Roman ist von daher nicht sonderlich "originell". Als Leser wundert man sich an manchen Stellen vielleicht etwas, welche Figuren wieviel Aufmerksamkeit erhalten und was letztlich vom Autor als relevant erachtet wird. Dennoch finde ich die Figurenzeichnung insgesamt gut gelungen. Bobbies Zerrissenheit kommt besonders gut heraus. Allerdings hätte ich gerne mehr über Aarons Innenperspektive gelesen. Das Ende - darüber kann man diskutieren. Letztlich ist es so wie mitunter das Leben selbst: hart und ungerecht. 

    "Wintersturm" ist kein klassischer Krimi, was mich aber überhaupt nicht gestört hat. Es ist eine solide Milieustudie zu einem nach wie vor wichtigen Thema, die meines Erachtens die Lektüre wert ist. 

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  1. Schwarz und weiß

    Schwarz und weiß

    Bobby trifft in "Wintersturm“ auf seinen Freund Aaron. Die beiden verbindet eine langjährige Freundschaft, die damals zur Schulzeit entstand, als beide sich zusammenfanden, um ihr Aussenseitertum erträglicher zu machen. Comics, eine Leidenschaft die die beiden Jungen damals verband, führte sie letztlich zusammen.
    Doch nun klafft eine große Lücke, denn Aaron war im Gefängnis. Nichts erinnert mehr an den schlaksigen Jungen, der sich häufig wie die schwarzen Mitschüler kleidete, und von denen er kein Verständnis dafür erntete. Nun ist Aaron ein klotziger Kerl, der sich im Gefängnis einer Bande angeschlossen hat, und er trägt seine Verachtung gegen die Schwarzen offen zur Schau.
    Bobby, der Kellnern muss, um die Miete aufzubringen für sich und seine alkoholkranke Mutter, erkennt seinen Freund gar nicht wieder. Er hat Angst vor ihm, und traut sich nicht ihm zu gestehen, dass er eigentlich zur Hälfte ebenfalls schwarz ist.
    Als Aaron einen schwarzen Jugendlichen tötet, und Bobby mit ihm gemeinsam flieht, beginnt ein Strudel aus Angst an dem Bobby zu zerbrechen droht.

    Der Autor zeigt in diesem Drama, dass nicht immer alles nur weiß oder schwarz ist. Ein Thema, dass leider nach wie vor an der Tagesordnung steht. Für Bobby und auch für Aaron ist diese Frage nicht nur nebensächlich, sondern stellt einen großen Faktor im täglichen Leben dar. In Bobbys Fall geht der Autor dabei ziemlich in die Tiefe, Aaron bleibt eher Beiwerk, ist aber dennoch wichtig für die Geschichte, die erzählt wird. Rassismus gibt es überall auf der Welt, doch es gibt nach wie vor Gegenden, wo die Hautfarbe darüber entscheidet, ob man ein gutes Leben führen kann. Dies muss sich ändern, und ich denke, der Autor möchte genau dies erreichen mit seinem Roman, er möchte die Leser erreichen und aufmerksam machen.

    Mir hat der Roman gut gefallen, lediglich das Ende, ließ mich ein wenig ratlos zurück. Unrealistisch ist es nicht, dennoch hätte ich mir ein anderes Ende gewünscht. Aber wie im wahren Leben, läuft es nicht immer so, wie wir es uns wünschen.

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  1. Ambitionierter Erstling

    „Wintersturm“ wirkt wie das, was er ist: ein ambitionierter Erstling, bei dem der Autor allerdings erst noch herauszufinden versucht, wo seine erzählerischen Stärken liegen und auf welche Thematik er sich konzentrieren möchte. Vor dem Hintergrund der auf die Ereignisse um Rodney King folgenden Unruhen und des O.J.Simpson-Prozesses 1995 muss sich der junge Bobby mit seinem gerade aus der Haft entlassenen besten Freund Aaron auseinandersetzen, der im Gefängnis zu einem Neonazi geworden ist. Bobby, der bereits seit einigen Jahren weiß, dass er zur Hälfte schwarz ist, entwickelt eine tiefsitzende Angst vor Aaron, die dadurch gespeist wird, dass er unmittelbar Augenzeuge von dessen Gewaltbereitschaft wird.

    Der Roman liest sich besonders in der ersten Hälfte sehr rasant und spannend, was den unterschiedlichen Figuren geschuldet ist, aus deren Blickwinkel einzelne Kapitel geschildert werden. Allerdings gibt es in der Figurenkonzeption Defizite, die besonders in der zweiten Romanhälfte immer augenfälliger werden. Bis auf Bobby tragen alle Figuren an der Last des Stereotyps und des Klischees, besonders die Problemfigur Aaron wird für meinen Geschmack zu wenig ausformuliert, ihr werden Charaktereigenschaften und Hintergründe zugeschrieben, die unausgereift und daher wenig glaubwürdig und stimmig erscheinen. Hinzu kommt, dass es auch kein Kapitel gibt, dass Aaron als Fokalisierungsinstanz nutzen würde – dies erschüttert die Authentizität seiner Figur zusätzlich.
    Der Roman nutzt seine Figuren um Vorurteile gegenüber Schwarzen aufzuzeigen und zu entlarven, die von (Alltags-)Rassismus geprägten zahlreichen prekären Situationen erlebbar zu machen und für diese untragbaren Situationen ein Bewusstsein zu schaffen. Gleichzeitig greift er aber bei der Darstellung der weißen Figuren auf Klischees zurück (alle Cops sind weiße Rassisten) und hinterfragt diese nicht. Dies wird unkommentiert als gegeben hingenommen, was die Durchschlagskraft des Romans und seine didaktische Wirkung begrenzt.

    Darüber hinaus kämpft der Roman mit erzählerischen Disbalancen – detaillierte, ausufernden Schilderungen ein- und derselben Szene aus verschiedenen Perspektiven, stehen stark verkürzte Kapitel gegenüber, die sich durch Auslassungen und fehlende Informationsvergabe auszeichnen. Beide Optionen sind für sich absolut adäquate Stilmittel, aber hier treffen sie eher unharmonisch aufeinander. Außerdem gibt es Szenen, deren Relevanz im Dunkeln bleibt und sehr viele, zu häufig auftretende, Comic-Verweise.

    Insgesamt habe ich die Lektüre als lohnenswert empfunden, die zeitliche Kontextualisierung als äußerst spannend und die angerissenen Themen als absolut erzählwürdig, aber es gibt deutliches Optimierungspotenzial, denn leider bleibt der Roman aufgrund der genannten Punkte unrund, ein wenig wie ein etwas stottender Motor, der ein paar Kilometer sehr gut fährt und dann immer wieder zum Erliegen kommt.

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  1. 4
    30. Aug 2022 

    Ein ungewöhnlicher Kriminalroman

    John Verchers Roman "Winterstürme" ist kein Kriminalroman der gewöhnlichen Art, was zu erwarten war. Denn Herausgeber dieses Buches ist der Polar Verlag. Und wer sich ein wenig in der Verlagswelt auskennt, weiß, dass Krimis, die den Herkunftsstempel Polar Verlag tragen, immer ungewöhnlich, wenn nicht sogar außergewöhnlich, sind.
    "Winterstürme" ist mindestens ein ungewöhnlicher Krimi, der im amerikanischen Pennsylvania der 80er Jahre spielt, in einer Zeit, in der der OJ Simpson-Fall für Furore gesorgt hat.
    Wie sich das für einen guten Krimi gehört, steht am Anfang dieses Romans ein Verbrechen – weniger prominent als der OJ Simpson-Fall – aber immer noch aufsehenerregend genug und mit dramatischen Konsequenzen für die Beteiligten.

    Bobby und Aaron, zwei Freunde seit Kindertagen, mittlerweile Anfang 20, geraten während eines nächtlichen Besuchs eines Diners in eine Auseinandersetzung mit einem anderen Gast. Kurz darauf wird Aaron den Gast auf dem Parkplatz erschlagen. Scheinbar unbemerkt können sich Aaron und Bobby aus dem Staub machen.
    Wie nun der Autor John Vercher die Handlung weiterentwickelt, hat einen großen Anteil an der Ungewöhnlichkeit von „Wintersturm" als Kriminalroman.
    Das geschilderte Verbrechen und die daraus resultierenden Konsequenzen liefern dabei den Rahmen der eigentlichen Handlung und werden in diesem Roman fast zur Nebensache. Denn das Hauptaugenmerk richtet sich auf eine alles bestimmende Thematik in diesem Buch. Es geht um Hautfarben, und, damit einhergehend, das Thema Rassismus.
    Vercher spielt dabei mit dem Leser, indem er zunächst offenlässt, welche Hautfarben seine Protagonisten haben. Diese Informationen erschließen sich erst nach und nach.

    Die Handlung wird aus der Sicht von drei Charakteren erzählt:
    Bobby, der unfreiwillig zum Mittäter des Verbrechens wurde
    Isabel, die Mutter von Bobby, die von der Tat nichts weiß
    Robert, ein Krankenhausarzt, der das Opfer behandelt

    Autor John Vercher lässt den Leser am Leben dieser Charaktere teilhaben, indem er sie einen Einblick in ihre Erinnerungen und ihre seelische Verfassung geben lässt. Alle Protagonisten haben eine gemeinsame Verbindung, die sich aber erst im Verlauf der Handlung abzeichnet. Unabhängig davon gibt es eine weitere Gemeinsamkeit:
    Der Rassismus begleitet sie durch den Alltag. In welcher Ausprägung ist sicherlich davon abhängig, welche Hautfarbe die jeweiligen Charaktere haben.
    Rassismus ist also das bestimmende Thema in diesem Krimi, in welchem das eigentliche Verbrechen zum Randereignis wird. Und das ist ungewöhnlich für einen Kriminalroman.
    Mich hat diese Gewichtung nicht gestört, sie ging auch nicht zu Lasten der Spannung, haben doch die inneren Kämpfe, die die Protagonisten mit sich ausgetragen haben, für genügend Spannung gesorgt.

    Mit dem Ende dieses Romans führt uns Vercher wieder auf die Krimi-Schiene zurück, indem er das Verbrechen, welches abseits der Handlung vor sich hingeschlummert hat, wieder in das Zentrum des Geschehens rückt. So mögen diejenigen Leser, denen der Krimi-Thrill über weite Teile dieses Buches gefehlt hat, wieder besänftigt worden sein. Denn das Ende hat es definitiv in sich.

    Fazit
    Ein ungewöhnlicher Krimi, in dem das Verbrechen zum Randereignis wird, und das Thema Rassismus in den Mittelpunkt rückt. Vercher erweist sich dabei als verwirrend kreativ, indem er mit der Wahrnehmung des Lesers spielt, was die ethnische Zugehörigkeit seine Protagonisten angeht. Dieses Verwirrspiel hat mir sehr gut gefallen.
    Ein wenig stört mich in diesem Roman die Anhäufung gesellschaftskritischer Themen, die Vercher- neben seinem zentralen Thema Rassismus - unterbringt. Diesen Rundumschlag hätte ich nicht gebraucht. Doch das ist am Ende Jammern auf hohem Niveau.

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  1. Wenn alte Freundschaft zum Verhängnis wird

    Bobby und Aaron verbindet eine tiefe Freundschaft seit Kindertagen. Mittlerweile sind die beiden Anfang 20 und haben sich aus den Augen verloren. Wesentlicher Grund: Aaron ist auf die schiefe Bahn geraten, hat gedealt, wurde verhaftet und verbrachte die letzten drei Jahre im Gefängnis. Dort wurde er so brutal malträtiert, dass er sich radikalisierte. Zahlreiche Tätowierungen auf seiner Haut liefern den äußeren Beweis, zudem verhält er sich in Worten und Taten insbesondere Schwarzen gegenüber ablehnend rassistisch. Bobby muss indessen sich und seine Mutter Isabel mit der Arbeit in einem Diner über Wasser halten, permanent droht der Verlust der gemeinsamen Wohnung. Er schiebt Doppelschichten, weil Isabel unzuverlässig ist und ihr Geld lieber mit windigen Typen an der Theke versäuft.

    Als Aaron aus dem Gefängnis entlassen wird, sucht er sofort Bobby auf. Sie fahren zusammen los, wollen sich etwas zu essen besorgen. Schnell werden Bobby die Veränderungen seines Freundes deutlich: „Sein bester Freund, Aaron Möchtegern. Der Wigger. Etwas war an seine Stelle getreten. Hatte seinen Namen angenommen. Einen schwachen Abklatsch seines Charakters behalten. Aber er war das nicht. Rasierter Schädel und Springerstiefel statt Jeans und Turnschuhe.“(vgl. S. 25) Bereits am ersten Abend in Freiheit kommt es zur Katastrophe: Aaron gerät mit einem schwarzen Jungen in Streit, schlägt ihn mit einem Ziegenstein auf den Kopf. Es fließt viel Blut. Bobby sitzt am Steuer, hat Angst vor der Unberechenbarkeit seines Freundes. Beide fahren überstürzt weg, ohne sich um den Verletzten zu kümmern.

    Soweit die Ausgangssituation. Was Vercher daraus konstruiert, ist ein vielschichtiger Roman, der sich wichtiger amerikanischer Themen annimmt. Im Zentrum steht der gesellschaftliche Umgang mit unterschiedlichen Hautfarben. Bobby sieht weiß aus. Sehr schnell erfahren wir, dass er einen schwarzen Vater hat, jedoch mit weißer Hautfarbe bei seiner Mutter und dem rassistischen Großvater aufwuchs, der ihn stark beeinflusst hat. Aaron indessen war als Kind ein weißer Außenseiter, der sich an die gemischtrassigen Jungen aus dem Homewood anbiederte und zu ihnen gehören wollte. Es wird deutlich, wie wichtig Ethnizität und Hautfarbe in dieser Gesellschaft sind.

    Aaron und Bobby gehen sehr unterschiedlich mit der Gewalttat um. In Rückblenden erfahren wir vieles aus deren Kindheit und Jugend. Auch Aarons diskriminierende Zeit im Gefängnis wird nicht ausgespart. Deutlich ist die Kritik am Strafvollzug, der keinerlei Besserung der Delinquenten bewirkt. Aaron wirkt kalt und abgebrüht. Bobby indessen leidet unter der Tat und der drückenden Schuld. Seine Gefühle fahren Achterbahn, er sucht krampfhaft nach Lösungen, baut Lügengebäude auf, malt sich unterschiedliche Szenarien aus. Seine Mutter ist ihm freilich keine Hilfe, es ist erschreckend, wie viel Verantwortung der Sohn seit Jahren für sie übernehmen muss. Aarons brutale Tat stellt Bobbys ohnehin konfuses Leben vollends auf den Kopf. Nicht nur der Schneesturm nimmt Fahrt auf, sondern auch die Geschehnisse rund um Bobby, an dessen Emotionen wir hautnah Anteil nehmen dürfen. Die gesamte winterliche Atmosphäre wirkt düster und bedrückend. Sie bietet das perfekte Szenario. Vercher weiß Fährten zu legen, er spielt mit den Erwartungen seiner Leser, überrascht sie und lässt sie sprachlos zurück. Er zeigt keine heile Welt, sondern hat eine Message, die er höchst glaubwürdig und bis zum bitteren Ende konsequent übermittelt.

    Verchers preisgekrönter Roman ist aus einem ursprünglichen Drehbuch entstanden, was die ein oder andere ungelenke Szene erklären mag. Die Handlung ist im Jahr 1995 angesiedelt, zu einer Zeit, als O.J. Simpson der Prozess gemacht und auf allen TV-Kanälen übertragen wird. Die öffentliche Stimmung ist aufgeheizt. Der Roman besticht durch die Komplexität seiner Charaktere. Rückblicke beschreiben deren Entwicklung, zeigen auf, wie sie das wurden, was sie sind. Vercher zeigt uns eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, in der die Herkunft maßgeblich über zukünftige Chancen entscheidet. Hautfarbe ist dabei keine Nebensache. Stattdessen ist Rassismus omnipräsent: In der Schule, in der Öffentlichkeit, in der Familie. Polizei und Justiz gehen wesentlich schärfer gegen Schwarze als gegen Weiße vor, was sich im Strafvollzug fortsetzt, wo es keine Regeln zu geben scheint, sondern das Recht des Stärkeren gilt. Man bekommt tiefes Verständnis für den täglichen Kampf der Unterschicht ums Überleben, wo einfache Arbeitskräfte ausgebeutet werden und eine Krankenversicherung keine Selbstverständlichkeit ist.

    „Wintersturm“ ist ein spannender, unkonventioneller Kriminalroman, der sich viel Zeit für Sozialstudie und Charakterisierung der männlichen Figuren nimmt. Er versucht, gängige rassistische Stereotype vorzuführen und in Frage zu stellen. Mancher Rückblick ist mir dabei etwas langatmig geraten, nicht jede Szene konnte ich mit der Haupthandlung sinnvoll in Beziehung bringen. Trotzdem hat mich der Plot dieses Debüts überzeugt. Man kommt schnell in einen Lesefluss und wird von der Handlung in Beschlag genommen. Mit neuem Kenntnisgewinn rätselt man tüchtig mit, wie sich das Drama um die beiden jungen Männer glaubwürdig auflösen könnte. Das reflektierte und intelligente Nachwort von Schriftstellerkollege William Boyle liefert Hintergrund sowie Interpretationsansatz.

    Ein sehr lesenswerter Kriminalroman für alle, die das Besondere lieben und Freude an amerikanischer Literatur haben. Ein Buch wie „Wintersturm“ schärft auch den Blick des deutschen Lesers für Ungerechtigkeiten, die aus Alltagsrassismus resultieren können. Leseempfehlung!

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  1. Rassismus ist Mist.

    Kurzmeinung: Mal was anderes, habe ich gerne gelesen.

    In „Wintersturm“ begegnen sich zwei alte Freunde. Bobby, der als Kellner arbeitet, um seine Mutter zu unterstützen und die Miete zusammenzukratzen, begegnet seinem Jugendfreund Aaron. Aaron kam für einige kleinere Drogendeals vor Gericht und wurde zu 3 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Sein erster Gang in Freiheit führt ihn zu Bobby. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

    Was sich aus dieser Begegnung entwickelt ist folgerichtig, der Leser kann genau so wenig etwas dagegen tun wie die beiden Jungs selber. Es sind noch junge Kerle, aber jeder ist auf seine Weise gebrochen. Aaron wurde in der Justizvollzugsanstalt durch die anderen Insassen so zugerichtet, dass Bobby ihn nicht wiedererkennt; äußerlich und innerlich ein anderer Mensch. Bobby hat Angst vor ihm.

    Der Roman „Wintersturm“, Originaltitel „Three-Fifth“ hat das Rassismusproblem in den USA im Visier. Das Geschehen ist zurückdatiert auf 1995, der O.J. Simpson Prozess ist in vollem Gange und wird sowohl in der schwarzen wie in der weißen Community erregt diskutiert; der Fall Rodney King macht Schlagzeilen und elektrisiert die Bevölkerung.

    Der Kommentar:
    Bobby und Aaron sind keine ganz typischen Vertreter der beiden Parteien, schwarz und weiß. Der eine, Aaron wollte in seiner Jugend schwarz sein, bzw. wurde von deren Lebensart angezogen und buhlte um deren Anerkennung. Der andere dagegen, Bobby, dem man seine Gemischtrassigkeit nicht ansieht und von der ausser seiner Mutter auch keiner weiß, wollte weiß sein und haderte mit seiner Herkunft. Nach den drei Jahren Freiheitsentzug hat sich alles ins Gegenteil verkehrt, denn Aaron hat sich einer rechtsradikalen Gruppierung angeschlossen und Bobby lernt, zu seiner gemischtrassigen Herkunft zu stehen.

    Dieses Spiel mit den Hautfarben ist reizvoll, es unterstreicht die Absurdität des Konstrukts Rassismus (alles nur in den Köpfen). Die Freundschaft der beiden Jungs hat Sprengkraft. Beide haben ihre Geheimnisse voreinander und aufgrund von in ihren Kreisen und insgesamt in der Gesellschaft der USA festsitzenden, angstmachenden Vorurteilen können sie sich einander nicht anvertrauen. Als sie es dann doch wagen, ist es zu spät.

    Die Sprache des Romans ist sehr klar, aber auch schlicht. Sie passt indes zu der bildungsfernen Herkunft der Protagonisten. Der Autor hält sich jedoch abseits seiner beiden Jungs nicht mit großartigen Charakterisierungen anderer Personen auf, die Frauenfiguren sind fast schon beleidigend simpel, auch die Dialoge des Romans hauen einen nicht vom Hocker, der belehrende Zeigefinger ist erhoben.

    Trotzdem überzeugt besonders die Figur des Aaron. Ein netter, vorurteilsfreier Junge wird im Zuchthaus gebrochen und radikalisiert sich. Das Ende ist kurz und schmerzhaft. Wie im Leben. Frustrierend, aber vollkommen nachvollziehbar.

    Fazit: Das klassische Whodunit bekommt man hier nicht. Jedoch eine realistische Darstellung, wohin uns Rassismus bringt. Wohltuend, dass der Autor auf die üblichen Schuldzuweisungen verzichtet, keiner Seite den schwarzen Peter zuschiebt. Jeder ist verantwortlich. Jeder macht etwas falsch. Jede Seite hat Angst.

    Kategorie: Kriminalroman
    Verlag: Polar 2022

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