Weihnachten: Ein Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Weihnachten: Ein Roman' von Maruan Paschen
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Weihnachten: Ein Roman"

Ein Roman
Gebundenes Buch
Ein Weihnachtsfest, das Fest der Liebe - oder aber das Fest der Tragödien, der Einsamkeit und der (Selbst-)Morde. Der Erzähler in Maruan Paschens rasantem und pointenreichem tragikomischen Familienroman berichtet einem Therapeuten vom letzten Weihnachtsfest mit seiner Familie: seine alleinerziehende Mutter und ihre Brüder. Voll abgründigem Witz kommt Paschen schnell zur Sache, da geht es um das Fondue, das in Handschellen zu sich genommen wird, um eine Liebesbeziehung im Kaufhaus, den kranken Onkel Art, der einen Weihnachtsbaum samt Auto klaut, Onkel Tarzan, der Araber hasst und von seiner Familie verlassen wurde, und Onkel Berti, der beim Versuch, das Weihnachtskonzert zu dirigieren, den Fonduetopf umwirft. Immer wilder werden die Geschichten und immer mehr erfährt man vom Leben des Erzählers und seiner Familie. In Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeste und die Familiengeschichte tritt die Vergangenheit wieder hervor. Alte Kränkungen und dunkle Geheimnisse, die über Generationen weitergegeben werden und das Leben schleichend vergiften, kommen ans Tageslicht. Aber wer tötete wen? Und wer war der Therapeut?

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:196
EAN:9783957576293

Rezensionen zu "Weihnachten: Ein Roman"

  1. Und jedes Mal derselbe Schmerz.

    Und jedes Mal derselbe Schmerz.

    Familiengeschichten gibt es vor Weihnachten zuhauf.

    Auch bitterböse Familiengeschichten sind inzwischen fast schon ein etabliertes Untergenre des Weihnachtsromans. Ich war daher durchaus bereit, dem Autor in die Geschichte (s)einer Familie zu folgen, deren Mitglieder sich jedes Jahr wieder treffen, den Geldwert der Geschenke abschätzen, die Absichten des Schenkenden so bösartig wie möglich interpretieren, Handschellen anlegen und die Schlüssel in den Fonduetopf werfen.

    Was übrigens erklärt wird, gleichzeitig wiederum auch nicht – wie so vieles in diesem Buch.

    Jedenfalls sind sie, die Familie Paschen, erstmal im wahrsten Sinne des Wortes an den Tisch gefesselt und essen sozusagen um ihre Freiheit. Derweil werden alte Geschichten neu erzählt, Familienmitglieder dazu erfunden oder umbenannt, und der Erzähler gesteht schon nach wenigen Seiten:

    »Dr. Gänsehaupt, ich komme nicht zu ihnen für eine Therapie. Ich komme zu Ihnen, weil Sie doch Schweigepflicht haben. Haben Sie? Ich möchte Ihnen erzählen, warum meine Familie nach diesem Weihnachtsfest sterben musste. Und natürlich auch, was ich dabei für eine Rolle gespielt habe, jetzt mal ohne das Wort »Mörder« gesprochen.«
    (Zitat)

    Das weckte in mir gewisse Erwartungen, jetzt mal ohne das Wort »Vorschusslorbeeren« gesprochen. Ist ja nicht die Schuld des Autors, was ich mir alles so vorstelle.

    Wörter nicht aussprechen, das tut der Erzähler übrigens mit Vorliebe. Überhaupt erhebt er das Relativieren zur Kunstform: »Das ist vielleicht das falsche Wort«, »Lesen Sie da jetzt nicht zu viel rein«, »Ach, vergessen Sie das«, »vielleicht«, »obwohl« und immer wieder »Ich weiß nicht«, »Ich weiß nicht«, »Ich weiß nicht«. Alles ist ironisch oder vielleicht ironisch oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls hat der Erzähler eine deutliche Faszination für das Konzept Ironie.

    Die ersten Seiten konnten mich noch mühelos abholen, und der Schwung trug mich durch die ersten Kapitel.

    Erst kam mir die Geschichte unterhaltsam vor, dann außergewöhnlich, bald auch ausufernd, manchmal abstrus, schließlich surreal… Insgesamt einfach mal etwas völlig anderes, sowohl inhaltlich als auch vom Schreibstil her. Ich habe durchaus eine Schwäche für Literatur, die die Grenzen ausreizt, jetzt mal ohne von der ‘Axt für das gefrorene Meer’¹ zu sprechen.

    Da muss man manchmal auch weiterlesen, wenn der erste Schwung vorbei ist.

    Manche Dinge sind unerhört, und vielleicht gerade deswegen wahr. So wurde die Mutter zum Beispiel ohne Knochen geboren – was es tatsächlich gibt, was hier aber in keinster Weise erklärt wird. Warum auch?

    Irgendwann verspürte ich beim Lesen jedoch eine gewisse Ermüdung. Der Erzähler verliert sich über Seiten hinweg in Nichtigkeiten und Details, nur um dann doch wieder alles zurück zu nehmen oder einfach nie auf den Punkt zu kommen. Obwohl man darin durchaus eine gewisse Absicht erahnen kann.

    Die Absurdität der Geschichte schraubt sich immer weiter hoch, bis man sich fragt, was man überhaupt noch glauben kann, oder was einem der Erzähler eigentlich sagen möchte.

    Gibt es den Therapeuten? Gibt es die Mutter, die Onkel, die Handschellen, die Weihnachtsfeste? Hat die literarische Familie Paschen auch nur das Geringste mit der echten Familie Paschen zu tun? Und spielt das eine Rolle?

    Am Ende hatte ich das Gefühl, dass meine Erwartungen mit voller Absicht nicht erfüllt wurden, um mal nicht den Begriff »Trugschluss« zu gebrauchen.

    Der Sinn des Ganzen erschloss sich mir jedenfalls nicht, aber vielleicht braucht ein Werk der Literatur auch nicht unbedingt einen leicht bekömmlichen Sinn. Vielleicht merkt man es meiner Rezension an: wenn ich auch sonst nichts über das Buch sagen könnte, so hat es mich zumindest zum Nachdenken gebracht.

    Was erwarte ich von Literatur, und ist es die Aufgabe des Autors, meine Erwartungen zu erfüllen – oder vielleicht das genaue Gegenteil?

    Ich fand es zunehmend schwer, die Persönlichkeit des Erzählers einzuschätzen.

    Mal wirkt er intelligent, dann wieder unbedarft, mal grundehrlich, dann wie ein Blender. Auch den anderen Charakteren kann man nicht unbedingt trauen. Man erfährt nur sehr wenig über ihr alltägliches Leben abseits der Geschichten, die an Weihnachten erzählt werden, und so ist hier alles eine Frage der Perspektive. Als Leser muss man selber entscheiden, wie man verschiedene Geschehnisse der Geschichte bewertet, und darin liegt ein gewisser Reiz.

    Einer der interessantesten Aspekte der Geschichte war für mich die Vaterlosigkeit des Erzählers.

    Der Vater bleibt bis zum Schluss eine reine Leerstelle in der Geschichte, während der Erzähler sich damit beschäftigt, sein eigenes Selbstbild zu definieren. Am glücklichsten war er, sagt er, in den wenigen Minuten, in denen er sich als in Deutschland lebender Araber fühlte. Und dennoch ist es kein Roman über Integration oder mangelnde Integration.

    Die Charaktere sind keine Symbole für irgendetwas. Sie sind nur sie selbst.

    »Neulich lag einer auf der Straße, und ich habe den Schmerz gespürt. Eine Frau mit dünnen Beinen hat sich im Regen den Mantel zugehalten, und ich habe den Schmerz gespürt. Einer hat Geld in einen Fahrscheinautomaten geworfen und laut ausgeatmet. Einer geht langsam, weil seine Beine krumm sind, eine weint, eine kämpft mit ihrer Zeitung, eine streicht mit der Hand über das Glas an der Wursttheke, als es ganz still ist. Einer ruft über die Straße, eine rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, einer liegt allein auf einer Wiese und schaut. Und einer steht einfach nur an einer Ampel. Und jedes Mal derselbe Schmerz.«
    (Zitat)

    Auch der Schreibstil ist vieles, aber auf keinen Fall langweilig oder gewöhnlich. Hier tat ich mich ebenfalls manchmal schwer, will aber dennoch die Leistung des Autors anerkennen: sein literarisches Ich hat eine sehr prägnante Stimme, das Buch eine sehr prägnante Atmosphäre. Und bei einigen der kristallklaren Sätzen kann einem auch schon mal der Atem stocken.

    Fazit

    »Weihnachten« von Maruan Paschen ist alles, nur nicht »Oh, du Fröhliche«.

    Das Buch hat 25 Kapitel sehr unterschiedlicher Länge, es ist also quasi ein literarischer Adventskalender. Das Weihnachtlichste an dieser Erzählung ist jedoch womöglich das Gefühl der Einsamkeit, das sich nur in trautem Zusammensein einstellen kann. Und bei den Paschens sitzt außerdem der Tod immer schon mit am Tisch.

    Dennoch kommt hier noch etwas, das »Weihnachten« von Maruan Paschen *nicht* ist: wider Erwarten ist es kein Weihnachtskrimi.

    Am ehesten kann man es ganz grob einordnen in die Schublade Gegenwartsliteratur – aber am besten lässt man die Schubladen gänzlich außen vor. Der Schreibstil hat es mir nicht leicht gemacht. Die Charaktere haben es mir nicht leicht gemacht. Dennoch ist es ein Buch, das ich gerne gelesen habe und das meines Erachtens die Mühe lohnt.

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    ¹ Zitat Franz Kafka:

    »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.«

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