Was es braucht in der Nacht: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Was es braucht in der Nacht: Roman' von Laurent Petitmangin
4.65
4.7 von 5 (14 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Was es braucht in der Nacht: Roman"

Fus und Gillou, 10 und 7, sind sein ganzer Stolz. Doch als seine Frau stirbt, steht er mit seinen Jungs allein da. Die Arbeit als Monteur, Haushalt, Erziehung: Er gibt sein Bestes, bringt die Jungs zum Fußball, zeltet mit ihnen in den Ferien. Die ersten Jahre läuft alles glatt. Nur Fus wird in der Schule schlechter, sodass er danach nicht in Paris studieren kann. Der Vater tröstet sich damit, dass sein Ältester nicht wegzieht – bis er entdeckt, dass der 20-Jährige neuerdings mit einer rechtsextremen Clique rumhängt. Wie fühlt man sich, wenn der Sohn in falsche Kreise gerät? Was kann man tun? Er weiß sich nicht anders zu helfen, als mit erbittertem Schweigen seine Missbilligung kundzutun. Ein Drahtseilakt, der in einer Tragödie gipfelt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783423290128

Rezensionen zu "Was es braucht in der Nacht: Roman"

  1. Warum

    Ein alleinerziehender Vater muss hilflos mit ansehen, wie sein heranwachsender ältester Sohn in rechtsextreme Kreise gerät und ihm entgleitet. Eingreifen oder schweigen, was soll er tun. Er hofft, den Jungen, den er großgezogen hat, wiederzufinden, doch ein einziger Moment verändert alles in ihrem Leben.

    Laurent Petitmangin hat mit seinem Debüt ein ausdrucksstarkes beeindruckendes Gänsehaut-Leseerlebnis geschaffen. Hier spricht ein vom Schicksal geschlagener Vater und legt seine tiefsten Gefühle den LeserInnen schonungslos offen. Dieser namenlose Mann hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Als seine Frau mit 44 Jahren an Krebs erkrankt, muss er sich um seine Söhne Fus, 10 und Gillou, 7 Jahre alt, allein kümmern. Ihr Tod lässt keine Zeit für Trauer, der Vater muss funktionieren.

    Immer wenn er nicht weiter weiß, spricht er im Gedanken mit "Mutti", doch die Antwort bleibt aus. Die anfänglichen Familienausflüge werden weniger und die beiden Brüder sind sich selbst überlassen. Fus findet sich in der Schule nicht mehr zurecht; er sucht außerhalb der Familie Halt, den ihm eine rechtsextreme Gruppierung zu geben scheint. Die Scham über den fehlgeleiteten Sohn wandelt sich in Resignation, als er selbst von den Nachbarn mehr oder weniger nur ein Schulterzucken über die Nähe des Sohnes zur Front National erfährt.

    Fortan schweigen Vater und Sohn, auch wenn es den Vater innerlich zerreißt.

    "Die ganze Wut blieb in mir drin, schnürte mir die Brust zu, verbrannte meine Lungen, aber sie platzte nirgendwo heraus. Im Gegenteil, meine Beine fühlten sich auf einmal an wie Watte, meine Arme nutzlos und paralysiert."
    Jeder weitere Leseabschnitt zieht nicht nur Fus, seinen Bruder und den Vater immer näher an den Abgrund, sondern auch die LeserInnen. Man möchte den Vater an den Schultern rütteln und rufen: "Wach doch endlich auf, tu was". Man fühlt so sehr mit den Protagonisten und ist sich der Ohnmacht der Situation bewusst.

    "Das unser aller Leben, trotz seiner scheinbaren Geradlinigkeit, nur aus glücklichen oder unglücklichen Fügungen, zufälligen Begegnungen und verpassten Gelegenheiten bestand. Unser Leben war voll von diesen Nichtigkeiten, die uns, je nachdem, was uns sicher geschah, zu Königen der Welt oder Sträflingen machten."
    Tatsächlich habe ich bis zum Schluss in Fus einen von den "Guten" gesehen. Seine Bemühungen um seinen Bruder Gillou sind herzlich, die ruhige Stimmung, die er verbreitet, strahlt Harmonie aus. Man kann nicht glauben, warum dieser sympathische Mann sich von offensichtlich extrem orientierten Menschen beeinflussen lässt.

    Passend zur französischen Präsidentschaftswahl 2022 kann dieser Roman nicht aktueller und brisanter sein. Unterschwellig eingeflochtene gesellschaftskritische Anmerkungen zur Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiterklassen sowie die Ohnmacht der Parteien zeigen einen möglichen Aspekt auf, warum es zu diesem schicksalhaften Wendepunkt im Leben der Familie kam.

    Dieser Roman endet nicht, nachdem man den Buchdeckel geschlossen hat. Das Warum hallt nach und hinterlässt ein flaues Gefühl. Unbedingt lesen

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  1. Eine Familie zerbricht

    Frankreich, Lothringen, Gegenwart: Ein Vater, Monteur bei der französischen Eisenbahn und bekennender Sozialist, erzieht seine Söhne Fus und Gillou nachdem Krebstod der Mutter allein. Die Söhne sind beim Tod der Mutter noch Kinder, 10 und 7 Jahre alt. Der Vater gibt sein Bestes, verbringt seine Freizeit mit den Kindern beim Fußball, macht mit ihnen einfache Campingurlaube. Die schulischen Leistungen des älteren Jungen, Fus, verschlechtern sich, doch Gillou schafft es sogar zu einem Studienplatz in Paris. Für den Vater bricht dessen Welt ein, als sich Fus der Front National anschließt.

    Der französische Schriftsteller Laurent Petitmangin debütiert mit dem Roman „Was es braucht in der Nacht“ auf eindrucksvolle und bedrückende Weise. Selbst einer Bahnarbeiterfamilie aus Lothringen stammend, zeigt der Autor anhand der kleinen Familie die politische Landschaft im Großen. Im Arbeitermilieu zeigt sich wenig Perspektive, die ehemals politische Heimat der Sozialisten ist zahnlos. Der Vater muss sich vom Sohn den Vorwurf gefallen lassen, zu den Parteitreffen nur mehr zum Kuchenessen zu gehen. Die rechtsradikale Partei heißt die Wohlstandsverlierer willkommen, sie ist williges Auffangbecken für den enttäuschten Bürger.

    Der Vater ist einer, der mit Gefühlen und Worten sparsam umgeht und dennoch ist seine Hilflosigkeit, seine Scham, sein Scheitern so eindrücklich wie schnörkellos.

    Der Roman ist in seiner Kürze von gerade 160 Seiten konzentriert und zeigt ganz genau hin auf die soziale Wirklichkeit.

    Was braucht es in der Nacht? Was braucht es in einer Familie, die schon einen schweren Schicksalsschlag verkraften musste? Fürsorge, Zuwendung und Trost reichen nicht aus, wenn ein Familienmitglied sich einer völlig konträren Weltanschauung zuwendet, als der vorgelebten. Es ist eine traurige, gegenwärtige Geschichte, zum Greifen nah!

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  1. Einmal Vater, immer Vater

    Geht es nur mir gedanklich so oder wird die Literatur immer „schwerer“? Schwer im Sinne von „aufs Gemüt schlagen“ oder auch thematisch? Okay, keiner zwingt einen, Bücher vom Schlage „Was es braucht in der Nacht“ von Laurent Petitmangin zu lesen, aber wenn es von der Kritik Lobeshymnen hagelt – nun, dann kann (und sollte) man skeptisch bleiben oder sich einfach blind in die Reihe der Lesenden eingliedern und sich eine eigene Meinung bilden.

    In diesem Fall, soviel vorab, hat der DTV-Verlag, der das Debüt des Franzosen hier in Deutschland veröffentlicht hat (Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller), den richtigen Riecher gehabt und sich einen (zukünftigen) Goldesel an Land gezogen.

    Laurent Petitmangin lässt seinen Ich-Erzähler, einen alleinerziehenden Vater zweier Söhne, Monteur bei der Bahn und Sozialist, eine zutiefst bewegende, nachhallende Geschichte erzählen, die sich um die (wie ich bestätigen kann) besondere Magie einer Vater-/Sohn-Beziehung, der Radikalisierung des Sohnes, den (widersprüchlichen) Gefühlen den eigenen Sohn betreffend und der Frage, ob und wenn ja wie viel man richtig oder falsch gemacht hat, dreht.

    Dabei regiert in diesem Roman die (typisch männliche?) Verknappung der Gefühlsbekundungen. Die geneigte Leserschaft sollte also auf die Zeilen „zwischen den Zeilen“ achten und den Stolz, die Liebe, die Verzweiflung dort herauslesen :-). Keine Ahnung, warum es uns Männern (dem Großteil) nach wie vor so schwerfällt, offen und ehrlich über unsere Gefühle zu sprechen. Haben wir Angst, uns zu blamieren? Egal, ich bilde mir hier kein Urteil, das evtl. auf mich selbst zurückfallen könnte *g*.

    Entsprechend braucht der Roman auch nicht viele Seiten; knapp 160, die aber mehr Aussagekraft haben, als mancher 1000 Seiten-Wälzer. Das durchaus offen angelegte Ende verlangt den Leserinnen und Lesern noch einmal alles ab und beschließt einen Roman, der zu den definitiven Highlights in diesem Jahr gehören wird.

    5* und eine glasklare Leseempfehlung.

    ©kingofmusic

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  1. Wenn der Sohn in die falschen Kreise gerät

    Die Region Lothringen in Frankreich: Nach dem Tod der Mutter müssen Frédéric, genannt Fus, und sein Bruder Gillou schon in jungen Jahren oft alleine zurechtkommen. Der Vater ist gelegentlich beruflich über Nacht unterwegs. Dennoch schlagen sie sich noch recht passabel, obwohl die Mutter sehr fehlt. Doch dann gerät Fus mit Anfang 20 in den Dunstkreis einer rechtsextremen Gruppe…

    „Was es braucht in der Nacht“ ist der Debütroman von Laurent Petitmangin.

    Meine Meinung:
    Der Roman gliedert sich in 23 kurze Kapitel und endet mit einem Brief, der als eine Art Epilog verstanden werden kann. Es gibt mehrere Zeitsprünge, wobei sich die Handlung nur ungefähr zeitlich einordnen lässt.

    Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht des Vaters. Die Wortwahl entspricht eher der Umgangssprache, was mich in diesem Fall aber nicht gestört hat, weil es sehr authentisch und passend zum Arbeitermilieu wirkt. Der Schreibstil ist schnörkellos und wenig detailreich, aber atmosphärisch. Die reduzierte Ausdrucksweise erfordert ein Lesen zwischen den Zeilen und lässt Raum für Interpretationen.

    Inhaltlich hat mich der Roman sehr gereizt. Die Frage, wie ein Kind in den Extremismus abrutschen kann und wie sich ein Elternteil verhalten sollte, ist sehr interessant und regt zum Nachdenken an. Diese aktuelle Thematik steht im Mittelpunkt des Romans.

    Auf weniger als 150 Seiten herrscht durchweg eine schwelende Grundspannung, die neugierig auf den weiteren Verlauf der Geschichte macht. Auch eine dramatische Wendung im letzten Drittel sowie der überraschende Schluss erzeugen einen hohen Unterhaltungswert. Alles in allem habe ich jedoch das Gefühl, dass die Geschichte zu viele Leerstellen und offene Fragen lässt.

    Das größere Manko ist aber für mich die Ausgestaltung der drei Protagonisten. Sowohl der namenlose Vater als auch seine beiden Söhne blieben mir fremd und unsympathisch. Trotz der recht dramatischen Geschichte kamen bei mir kein Mitgefühl und nur wenig Verständnis auf. Gedanken und Beweggründe werden nur beim Vater richtig deutlich. Nachvollziehbar sind seine Reaktionen aber nicht für mich. Das trifft nicht nur, aber vor allem auf die letzten Kapitel zu.

    Der deutsche Titel, der sich nahe am französischen Original („Ce qu‘il faut de nuit“) orientiert, erschließt sich mir leider nicht so ganz. Dagegen finde ich das Cover jedoch nicht unpassend.

    Mein Fazit:
    Meinen hohen Erwartungen wurde Laurent Petitmangin mit seinem Roman leider nicht in Gänze gerecht. Trotzdem ist „Was es braucht in der Nacht“ durchaus eine lohnenswerte Lektüre, die nachhallt. Auf die Verfilmung bin ich neugierig.

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  1. 5
    20. Apr 2022 

    Wirft viele Fragen auf

    Der Autor Laurent Petitmangin, Jahrgang 1965, Vater von vier Kindern, legt mit „ Was es braucht in der Nacht“ einen beachtlichen Debutroman vor. Er hat dafür in Frankreich gleich mehrere Preise erhalten.
    Die Geschichte spielt in Lothringen, eine Ecke Frankreichs, die dem Autor sehr vertraut ist. Hier wurde er geboren, hier hat er seine Jugend verbracht. Und wie sein Protagonist stammt er aus einer Familie von Eisenbahnarbeitern. Wirtschaftlich geht es der ehemals prosperierenden Region schlecht: Bergwerke, Fabriken und Geschäfte schließen, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Früher fühlten sich die Arbeiter seit Generationen den Sozialisten verbunden, doch mittlerweile finden sich immer mehr Anhänger und Wähler der Rechtsextremen unter Le Pen.
    Auf knapp 160 Seiten erzählt uns der namenlose Ich- Erzähler, ein Bahnarbeiter aus einer Kleinstadt nahe Metz, die tragische Geschichte seiner Familie. Als seine Frau nach einer Krebserkrankung stirbt, steht er allein da mit seinen beiden Söhnen, dem 13jährigen Fus ( „ Fus für Fußball“) und dem jüngeren Gillou. Er versucht sein Bestes, um den Kindern Halt zu geben, doch mit manchen Dingen ist er einfach überfordert. Fus muss deshalb schon früh Verantwortung übernehmen. Er kümmert sich liebevoll um den kleinen Bruder, der in ihm ein bewundernswertes Vorbild sieht.
    Die Jahre vergehen. Für Fus werden die Kumpels wichtiger als die Familie, Freunde, die dem Vater nicht gefallen. Das einzig Verbindende ist noch das sonntägliche Fußballspiel. Doch ansonsten herrscht Sprachlosigkeit in der Familie. Dann muss der Vater erfahren, dass sein Ältester Umgang mit den Rechtsextremen hat. „ Was trieb mein Sohn mit den Faschos?“ das fragt sich der Vater, selbst langjähriger Genosse. Er kann es nicht fassen. „ Glaub mir, meine Kumpels sind auf der Seite der Arbeiter…vor zwanzig Jahren hättet ihr zusammen gekämpft. Sie pfeifen auf das, was die in Paris von sich geben, sie setzen sich für unsere Gegend ein, wollen nicht, dass wir hier vor die Hunde gehen.“ Diesen Argumenten hat der Vater nichts entgegenzusetzen als seine Scham. Beide halten nun Abstand zueinander, leben sprachlos nebeneinander her. Bis es zu einer Katastrophe kommt.
    Das Buch lässt sich auf zwei Ebenen betrachten, die sich nicht ganz trennen lassen..
    Zum einen ist es ein sehr aktueller politischer Roman. Er beschreibt eindringlich, wie sich ein ehemals hilfsbereiter und verantwortungsbewusster Jugendlicher radikalisiert; wie einer, der aus einer linken Arbeiterfamilie stammt, sich den Rechtsextremen anschließt. Es sind die fehlenden Perspektiven, das Gefühl, von den etablierten Parteien vergessen worden zu sein. Gleichzeitig vermitteln die neuen Freunde Anerkennung und Zusammengehörigkeit.
    Doch noch stärker im Zentrum steht der Vater - Sohn- Konflikt. Beide waren einst eng verbunden, verstärkt durch das langsame Sterben der Mutter. ( Bezeichnend dafür ist die Szene am Friedhof. Fus hält die ganze Zeit die Hand seines Vaters, auch noch nach der Beerdigung, als Gillou schon mit dem Nachbar nach Hause gegangen ist. ) Wann hat die Entfremdung begonnen? Wäre sie aufzuhalten gewesen? Was kann man tun, wenn Kinder die falsche Richtung einschlagen? Diese Fragen stellt sich auch der Ich - Erzähler im Roman. Er macht sich Vorwürfe, nicht gehandelt zu haben und weiß gleichzeitig nicht, was zu tun gewesen wäre.
    Der Autor lässt uns teilhaben an den widersprüchlichen Gefühlen des Vaters : Unverständnis, Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und Schuld. Am Ende erst findet so etwas wie Versöhnung statt.
    Laurent Petitmangin verurteilt keine seiner Figuren, er bietet keine allgemein gültigen Antworten, sondern erzählt eine Geschichte, die nachdenklich macht.
    Schnörkellos und trotzdem berührend, entwickelt die Geschichte einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Wendungsreich und spannend bis zum überraschenden Ende.
    Das Buch erschüttert und wühlt auf. Gleichzeitig stellt man sich als Leser immer wieder die Frage, wie man selbst gehandelt hätte.
    „ Was es braucht in der Nacht“ ist ein Roman, der viel Diskussionsstoff birgt. Ein ideales Buch für Lesekreise.

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  1. Tiefe Gräben

    Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2017 gingen weit über 40 Prozent der Stimmen an extreme und populistische Parteien. Im zweiten erzielte Marine Le Pen vom Front Nationale, heute Rassemblement Nationale, immerhin 34 Prozent. Das Versprechen des Wahlsiegers Emmanuel Macron, bis zur nächsten Wahl im April 2022 alle Gründe für eine Wahl von Extremisten zu entkräften, erfüllte sich nicht. Die Demoskopen prophezeien erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

    Doppelter Abgrund
    Der Ich-Erzähler und Vater im Debüt-Roman "Was es braucht in der Nacht" des Franzosen Laurent Petitmangin hat 2017 bei der Stichwohl zwischen Le Pen und Macron auf die Stimmabgabe verzichtet, zu sehr lehnt er faschistisches wie neoliberales Gedankengut ab. Als Lothringer, täglich konfrontiert mit der Arbeitslosigkeit in dieser ehemaligen Bergbau- und Stahlregion und den Niedergang der dörflichen Strukturen vor Augen, fühlt er sich traditionell den Sozialisten verbunden, die allerdings immer weniger werden.

    Nach dem Tod seiner Frau, "der Mutti“, die ihn nach drei Jahren Siechtum mit dem 13-jährigen Frédéric, genannt Fus, und dem jüngeren Gillou allein zurückließ, fand er nur schwer Halt und in den Alltag mit der Erziehung der Söhne, der Hausarbeit und dem Job als Monteur bei der SNCF, aber dann klappt es doch. Der weit über sein Alter verantwortungsbewusste und vernünftige Fus kümmert sich hingebungsvoll um den kleinen Bruder, hilft im Haushalt und fasst wieder Fuß in der Schule. Die Männergemeinschaft verbindet mehr als nur die Leidenschaft für Fußball.

    Als sich Fus verändert, sich zurückzieht und neue Freunde hat, schaut der Vater weg, bis es nicht mehr anders geht:

    "In knapp zehn Minuten rechtfertigte er so, dass er mit Rechtsextremen rumzog. […] Den Freunden der Holocaust-Leugner, den Dreckskerlen. Fus blieb ruhig, schien fast froh, dass jetzt alles auf dem Tisch war. Er bekannte Farbe, wie ein Zeuge Jehovas durchdrungen von seinem Stuss, voller neuer Gewissheiten und immer sehr freundlich." (S. 49)

    Auch wenn Fus hofft, es würde sich nichts ändern: Der Familienfrieden ist dahin. Eine abgrundtiefe Scham erfasst den überforderten Ich-Erzähler. Dabei steht ihnen das Schlimmste noch bevor: Gewalt und Gegengewalt eskalieren in einem Ausmaß, dass der Vater zunächst nicht mehr zu seinem Sohn stehen kann und will…

    Aktuell und bewegend
    Ähnlich wie der 2021 erschienene Roman "Über Menschen" von Juli Zeh über rechtsradikale Dorfbewohner in Brandenburg ist "Was es braucht in der Nacht" ein topaktueller Beitrag zur politischen Spaltung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr persönliche Geschichte über die Spaltung einer Familie und einen berührenden Vater-Sohn-Konflikt. Die Frage, wie ein freundlicher, friedfertiger junger Mann sich derart radikalisieren kann und welche Schuld den Vater trifft, ist hochinteressant und geht mir als Mutter nah. Auch wenn ich die Beweggründe, das Verhalten und vor allem die Wendung des Ich-Erzählers, der in der unspektakulären Sprache eines Vertreters der Arbeiterklasse berichtet, nicht immer nachvollziehen kann, bewegt mich der kaum 160 Seiten umfassende Roman auch Tage nach der Lektüre noch, nicht nur wegen des diskussionswürdigen Endes. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Lesen gelohnt hat.

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  1. Regt zum nachdenken an

    Als die kleine glücklichen Familie sich mit der Krebsdiagnose der Mutter auseinander setzen muss, zerbricht der Vater fast an der Belastung. Als sie nach drei Jahren stirbt, ist es fast eine Erleichterung, da die langen Sonntage in der Klinik für ihn und seine beiden Söhne, Fus und Gillou, entfallen. Fus, der ältere der beiden Brüder unterstützt den Vater wo er nun kann, ist ein Vorbild für seinen kleinen Bruder. Eine relativ unbeschwerte Zeit beginnt, die aber von den Gedanken des Vaters ein wenig überschattet werden, aus dessen Sicht der Roman verfasst ist. Er hat arg daran zu knabbern nun für alles alleine verantwortlich zu sein. Wer könnte ihm dies verdenken?

    Als Fus in der Schule absackt, sich Freunde aus der rechtsextremen Szene sucht, kommuniziert der Vater nicht mehr mit seinem Sohn. Er straft ihn mit Missachtung. Beim lesen schweiften meine Gedanken oft zu der Frage ab, wie ich mich in dieser Situation verhalten würde. Auf der Couch sitzend ist es immer leicht sich etwas überzeugendes zurechtzulegen, in der Realität sieht es oft anders aus.
    Als dann eine folgenschwere Tat begangen wird, befindet der Vater sich in einem enormen Gefühlstaumel. Ich möchte hier nicht vorweg nehmen, worum es sich dabei handelt, das sollte man sich meiner Meinung nach selbst erlesen. Doch ich verrate nicht zuviel, wenn ich deutlich mache, dass auch diese Entwicklung viel Potential zum nachdenken und auch urteilen, bewusst oder unbewusst, bereit hält.

    Dieser Roman ist ein Bauch, dass meinen Respekt verdient, wenn ich auch mit dem Ende hadere und oft verständnislos auf die Handlungen des Vaters reagiert habe. Es zeigt aber, dass der Autor sich intensiv mit diesen Problemen auseinandergesetzt hat und versucht hat ein realistisches Szenario zu erschaffen. Als ich das Buch zugeklappt habe, war ich dankbar, dass ich so etwas nicht erleben musste und habe tiefes Mitleid mit Eltern die Ähnliches durchleben mussten.

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  1. Großes Drama kurz erzählt

    Das Titelfoto zeigt einen erschöpft wirkenden Mann, und Erschöpfung ist denn auch eines der Themen dieses Buchs. Es geht um Verlust, Überforderung in der Familie, Selbstzweifel, Verdrängen von Problemen.

    Der Ich-Erzähler ist ein solcher überforderter Familienvater. Seine Frau ist an einer langwierigen Krankheit gestorben, als seine Söhne "Fus" (ein Spitzname, der sich von Fußball herschreibt) und Gillou zehn und sieben Jahre alt waren. Nach ihrem Tod versucht die verwaiste Familie, allein zurechtzukommen. Der Vater - ein einfacher Mann, Monteur bei der Bahn - gibt sich alle Mühe. Man fährt gemeinsam zum Fußballtraining, geht zelten, hat den Alltag einigermaßen im Griff. Die Söhne lernen früh Verantwortung zu übernehmen. Gillou, der Kleine, wird in der ersten Zeit von Fus mitversorgt. Dass Fus' eigene schulische Leistungen nachlassen, nimmt der Erzähler als notwendige Phase hin; er will den schwer belasteten Jungen nicht zusätzlich plagen. Aber den Einsatz des Jungen für die Familie anzuerkennen, bringt er auch nicht über sich: "Unter anderen Umständen hätte ich (...) ihn zwanzigfach, hundertfach, tausendfach belohnt. Damals, bei allem, was passierte, kam es mir nie in den Sinn, mich bei ihm zu bedanken." (S.15) Das Schweigen zwischen Vater und Sohn ist eines der zentralen Probleme des Geschehens.

    An eine "Phase" möchte der Erzähler zunächst auch noch glauben, als Fus anfängt, mit einer Gruppe Jungnazis herumzuziehen. Es seien freundliche Leute, versichert Fus, als der Vater (der sich selbst in der sozialistischen Partei engagiert) ihn ausschimpfen will. Der Papa solle sich keine Gedanken machen. Ein wirkliches Gespräch über das Thema kommt nie zustande: Der Erzähler, der die neuen "Freunde" seines Sohnes zutiefst verachtet, bildet sich ein, ihn durch Schweigen zu bestrafen. Der inzwischen erwachsene Fus kümmert sich weiterhin liebevoll um den jüngeren Bruder und legt dabei eine Fürsorge an den Tag, die den besorgten Papa immer wieder entwaffnet. Bis es dann plötzlich zu einer Wendung kommt, die zu einer ganzen Reihe Katastrophen führt und den Vater zwingt, seine Rolle in der Familie und die Gefühle für seinen Sohn gründlich zu überdenken.

    Bei einer streng subjektiven Ich-Erzählung, wie hier, müssen wir immer mit den erzählerischen Eigenarten der Hauptperson leben. Ist der Erzähler gewohnt, sparsam mit Worten umzugehen, haben wir einen kurzen Roman (nur 160 Seiten), obwohl genug Dramatisches darin passiert, dass man ein doppelt so dickes Buch füllen könnte. Unser Erzähler spricht mit der authentischen Stimme eines Menschen aus dem Arbeitermilieu, der sich zwischen den Anforderungen des Alltags aufreibt und nicht zum Nachdenken kommt. Auch eine Person, mit der er sich richtig aussprechen könnte, fehlt - oder die Scham über den Weg, den der Sohn eingeschlagen hat, hält ihn davon ab, Hilfe zu suchen. Die Frage, was zu welchem Zeitpunkt "richtig" gewesen wäre, beherrscht die Gedanken des Erzählers wie des Lesers. Die ganze Darstellung ist sehr verknappt, so dass man das Gefühl hat, die Deutung zwischen den Zeilen suchen zu müssen. Wenn der Vater einen Fehler gemacht hat, dann den, nicht rechtzeitig mit seinem Sohn eine Aussprache herbeigeführt zu haben, bevor es zu spät war. Aber wann war die richtige Zeit dafür? Und was genau hätte er sagen oder tun sollen? Was ist angemessen, wenn das eigene Kind auf die schiefe Bahn gerät; wie weit sollte die elterliche Unterstützung gehen? Wo wäre Hilfe zu suchen und wie? Das Buch gibt eine treffliche Unterlage für Diskussionsrunden ab - vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass wir es mit einfachen Menschen zu tun haben, die weit weg sind von Selbsthilfegruppen oder modernem Stuhlkreisaktionismus.

    Gegen Ende (nach der erwähnten Reihe von Katastrophen, die man hier nicht andeuten kann, ohne zu spoilern) tritt allerdings - auch in der Person des Erzählers - eine Wendung bzw. Wandlung ein, die nicht mehr ganz zum Übrigen passt. Hier ist der Roman erkennbar auf ein bestimmtes Ende hingeschrieben, das mir nach allem Vorhergehenden überstürzt und nicht ausreichend motiviert erscheint. Und, so diskussionswürdig und aktuell das Buch ist, es ist kein Lesevergnügen. "Was es braucht in der Nacht" zählt zu den Romanen, in denen das Ungesagte oft wichtiger ist als das Gesagte. Das Lesen erfordert eine gewisse Anstrengung und Deutungsarbeit. Trotzdem oder auch gerade deshalb klare Leseempfehlung.

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  1. 5
    06. Apr 2022 

    Das große Desaster im Kleinen erzählt

    Laurent Petitmangin, selbst in Lothringen in eine Bahnarbeiterfamilie hineingeboren, schafft in seinem gesellschaftskritischen Roman „Was es braucht in der Nacht“ den Spagat zwischen einer ganz persönlichen Familiengeschichte und den großen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit.

    Mit dem Vater von Fus und Gillou, setzt er einen abgearbeiteten Ich-Erzähler auf die Spitze dieses massiven, problembelasteten Eisbergs von Familie, die nur noch aus den genannten drei Männern und einigen Wahlverwandten besteht. Denn „die Mutti“ ist an Krebs verstorben, als die Jungs noch Kinder waren, und dies hat einen Riss in der Familie hinterlassen, den der Vater nicht mehr fähig ist, aus eigener Kraft zu kitten. Fus rutscht in die rechte Szene im Dunstkreis des Front National ab, welcher gerade in ländlichen, früheren Arbeiterregionen, immer mehr Aufschwung bekommt. Es entsteht eine Abwärtsspirale, die die Familie in den Abgrund zu reißen droht.

    Bereits auf den ersten Seiten dieses großartig entworfenen und feinfühlig erzählten Romans wird klar, dass Petitmangin nicht nur eine rein schicksalhafte Familiengeschichte mit den groben Worten eines Bahnarbeiters erzählen möchte, sondern in seinen Sätze auch tonnenschwere Aussagen über den Zustand des immer hoffnungsloser werdenden Arbeitermilieus einbringt. Er benötigt für tiefgründige Überlegungen nur wenige Pinselstriche, um diese glaubwürdig und nachvollziehbar zu zeichnen. Mit seinen 160 Seiten ist dieser Roman auf das Allernötigste aber eben auch das Allerwichtigste reduziert. Fast jeder Satz kann herausgenommen und auf seine Deutungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Die Erzählung, welche noch relativ ruhig beginnt, nimmt gerade im letzten Drittel des Buches stark an Fahrt auf und spannend mündet alles in gleich mehreren Katastrophen, mich erst einmal auf der letzten Seite sprachlos zurückgelassen haben.

    Was braucht es, um einen Menschen und die Menschen, die ihn lieben, in den Abgrund zu reißen? Welche Verwicklungen des Schicksals, aber auch welche politischen Fehlentscheidungen und wirtschaftliche Folgen bringen die Menschen ganzer Landstriche ins Wanken und führen sie in die Arme von extremistischen Gruppierungen? Was hätte es gebraucht, um einen Menschen von seinen unumkehrbaren Taten abzuhalten, ihn in eine andere Richtung zu lenken? Wie geht eine Familie und im Speziellen ein Vater damit um, wenn ein geliebter Mensch abdriftet und was wäre eigentlich die „richtige“ Art damit umzugehen? All diese und noch viele weitere Fragen wirft der vorliegende Roman von Laurent Petitmangin auf. Beantwortet bekommen wird sie kaum oder gar nicht, doch allein für die Beschäftigung mit ihnen, das Durchdeklinieren der Möglichkeiten, lohnt sich die Lektüre dieses Romans doppelt und dreifach.

    Meines Erachtens äußerst authentisch beschreibt der Autor den Kampf oder auch eben nicht vorhandenen Kampf des Vaters um seine Söhne; mit Worten und Gedankengängen des Ich-Erzählers, die einem Mann aus dem Arbeitermilieu angepasst sind. Allein ein Kritikpunkt meinerseits steckt in genau diesen Worten: die Wahl der beiden Übersetzer den Begriff „la moman“ (siehe Original) mit „die Mutti“ zu übersetzen. Meinetwegen hätten sie die französische Formulierung gänzlich im Text belassen können, aber diese sehr spezielle Verniedlichung des Begriffs, den der Vater durchgängig für seine verstorbene Ehefrau verwendet, schmerzt bei jedem Lesen und reißt aus dem ansonsten intensiven Lesefluss dieser düster-gedrückten Atmosphäre heraus.

    Da dies jedoch mein einziger, kleiner Kritikpunkt an dieser ansonsten wirklich mitreißenden wie auch vieldeutigen Geschichte ist, kann ich eine Lektüre nur aus ganzem Herzen empfehlen, denn diese Geschichte einer Radikalisierung und die Auswirkungen auf die Familienmitglieder ist etwas Universelles, was nicht nur in Lothringen in Frankreich, sondern genauso auch in Deutschland, den USA, Italien oder Brasilien so stattfinden kann und derzeit weltweit auch stattfindet.

    Somit komme ich auf 4,5 Sterne, die ich gern auf 5 Sterne zugunsten dieses grandios entworfenen Romans aufrunde.

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  1. Der abtrünnige Sohn

    Auf dem Schutzumschlag sieht man einen Mann in den besten Jahren, der sich bei geschlossenen Augen entnervt die Schläfe reibt. Da möchte man spontan auf den Titel "Was es braucht in der Nacht" antworten, hauptsächlich Schlaf. Aber das wäre für diesen Roman etwas zu flapsig und kurz gegriffen.

    Auf nur 160 Seiten berichtet ein Vater vom Tod seiner Frau, die mit 44 Jahren an Krebs verstirbt, und dem Alleinsein mit seinen beiden Söhnen, Fus 10 Jahre und Gillou 7 Jahre.
    Zunächst scheint sich das Trio in dieser neuen Siuation gut zurechtzufinden. Stolz schaut der Vater auf seinen ältesten Sohn, der sich fürsorglich um den jüngeren Bruder kümmert, der wiederum zu seinen Bruder aufblickt. Der erste Zeltausflug der drei nach dem Tod der Mutter, wird dann leider auch die letzte gemeinsame Unternehmumg, denn Arbeit, Schule und das ganz normale Leben fordern ihren Tribut.
    Gillout hat gute Noten und ergattert einen Studienplatz in Paris, fernab dem kleinbürgerlichen Lothringen, während Fus' schulische Leistungen zu wünschen übrig lassen und ihn in der Heimat halten. Er driftet in die Rechte Szene ab, sehr zur Verwunderung und Verärgerung des sozialistisch engagierten Vaters. Dieser straft Fus mit Missachtung und wendet sich lieber dem Sohn eines Parteikollegen zu, dessen Strebsamkeit ihn beeindruckt. Vater und Sohn sprechen sich nicht aus, bis eines Tages das Unglück geschieht und er seinen Sohn halb totgeschlagen auffindet.
    Dieses dünne Büchlein erzählt vom Leben und Streben einer einfachen Arbeiterfamilie in der französichen Provinz und von den politischen Brüchen, dessen Abbruchkanten Familien entzweien und mit jedem wirtschaftlichen Rückschritt die Fronten in ihren Ideologien vermischt.

    Die Geschichte ist schnell gelesen, die Sprache des Vaters einfach und sein Bericht, durch seine individuelle Sicht, vielleicht hier und da lückenhaft. Auch kann man als Außenstehender den Sinnungswandel des Vaters im weiteren Verlauf der dramtischen Geschehnisse bezweifeln, die Handlungen der Nebenpersonen nicht unbedingt nachvollziehen und vor allem dem Schlussaccord eine Menge Fragen nachrufen, doch sich dem Gelesenen entziehen, das fällt schwer. Mag es daran liegen, dass niemand moralisiert, die elterliche Seite des Vaters in seiner ganzen Zerissenheit und Sorge zumindest denkbar ist.

    Die ganze Tragweite und Tiefe erschließt sich mit dem Prozess des Nachdenkens und liegt wahrscheinlich auch zum Gutteil im Ungesagten. Denn eigentlich ist es eine simple Geschichte, die sich tausendfach auf der ganzen Welt ereignen könnte, die aber gerade dadurch ihre besondere Sprengkraft für die Gesellschaft erhält. Von keinem Psychologen analysiert und keinem Moderator zerpflückt, fängt der eigene Kopf an zu arbeiten und wenn er das tut, ergänzt er die fehlenden tausend Seiten im Buch von ganz allein.

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  1. Diese entsetzliche Lücke

    Fus und sein kleiner Bruder Gillou werden seit dem Tod der Mutter von ihrem Vater, einem Monteur bei der französischen SNCF, allein großgezogen. Während sich Fus zuhause liebevoll um den drei Jahre jüngeren Gillou kümmert, lassen seine schulischen Leistungen immer stärker nach. Spätestens als er in die Kreise rechter "Front National"-Freunde gerät, läuten beim sozialistischen Vater die Alarmglocken. Doch das familiäre Unheil scheint nicht aufzuhalten... Wie geht ein Vater damit um, wenn er nach und nach den Zugang zu seinem Sohn verliert und wie weit würde er gehen, um diesen verlorenen Sohn zu schützen und zurückzugewinnen? Davon erzählt Laurent Petitmangin in seinem bewegenden Debütroman "Was es braucht in der Nacht".

    Es ist ein kurzer Roman von gerade einmal knapp 160 Seiten, dem es dennoch gelingt, große und wichtige Fragen zu stellen. Der Vater ist der Ich-Erzähler, und Petitmangin schafft es, seinem Protagonisten eine schnörkellose und authentische Stimme zu geben. Die Sätze sind kurz und unsentimental, doch gerade deshalb umso berührender. Denn auch wenn der Vater vieles verschweigt und es ihm sichtlich schwerfällt, seine Gefühle den Kindern gegenüber offen zu formulieren, spürt man sie zwischen den Zeilen überdeutlich: den Stolz, die Liebe, aber auch die Wut, den Schmerz, die Scham.

    Das macht "Was es braucht in der Nacht" zu einer Besonderheit, denn in der Literatur gibt es trotz Édouard Louis noch immer recht wenige Romane, die sich mit den Emotionen und der Sprachlosigkeit von Menschen, insbesondere Männern, aus dem Arbeitermilieu beschäftigen und dabei von einem Autoren geschrieben wurden, der selbst aus diesem Milieu kommt. Denn Laurent Petitmangin, so erfahren wir im Klappentext, stammt aus einer Bahnarbeiterfamilie und aus Lothringen - genau wie die Protagonisten aus seinem Roman.

    Zentrales Element der Handlung ist die entsetzliche Lücke, die der Krebstod der Mutter in die Familie reißt. Fus, zum Zeitpunkt des Todes gerade einmal zehn Jahre alt, wird fortan versuchen, diese Lücke ansatzweise zu füllen und seinen berufstätigen Vater in allen Belangen zu unterstützen. Der Vater scheint auf den ersten Blick nicht viel falsch zu machen, aber seine Berichte aus dieser Zeit sind auch äußerst verknappt. So sagen in einer besonders bewegenden Szene die beiden Jungen das Endspiel ihres geliebten Ferien-Fußballcamps ohne jegliches Murren ab, nur um dem Vater eine gut bezahlte Zusatzarbeit zu ermöglichen. Und das bei einem Jungen, der seit dem dritten Lebensjahr nur "Fus" genannt wird, weil er den Fußball so sehr liebt. Diese Szene ist ein besonders eindringliches Zeichen dafür, dass die Jungen viel zu früh erwachsen werden müssen - und Fus diese Lücke letztlich nicht schließen kann, worunter auch seine schulischen Leistungen immer stärker leiden.

    Als Fus in die rechte Szene schlittert, findet der Vater, der seinen Söhnen zwar nicht emotional aber intellektuell unterlegen scheint, keinen Zugang mehr zu ihm und es findet eine beidseitige Abnabelung statt, die im letzten Drittel des Romans in eine Katastrophe mündet. Hier stellt der Roman die großen Fragen, ohne darauf Antworten zu geben. Er regt stattdessen zum Nachdenken an: Wie würdest du reagieren, wenn dein Kind dir entgleitet? Was bist du bereit für dein Kind zu opfern? Das Finale ist dabei so schmerzhaft wie intensiv und ließ mich bewegt und erschüttert zurück.

    "Was es braucht in der Nacht" von Laurent Petitmangin ist ein Roman, der gleichermaßen schroff wie zärtlich ist, der aufrüttelt, wütend macht und schockiert. Es ist ein Entwicklungsroman, ein Roman über die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern, ein Familien- und Gesellschaftsdrama, das nicht nur wegen der bevorstehenden Präsidentenwahl in Frankreich von großer Aktualität ist. Ein Roman, der lange nachwirkt. Eine Besonderheit.

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  1. 4
    04. Apr 2022 

    Guter Vater

    Seine Frau stirbt an Krebs als die Jungs Fus und Gillou zehn und sieben Jahre alt sind. Viel zu früh, um die Mutter zu verlieren. Der Vater versucht sein Bestes, die Mutti zu ersetzen. Im ersten Jahr fährt er mit den Kindern zelten. Ein schönes Erlebnis, das leider einmalig bleibt. In den folgenden Jahren lassen die schulischen Leistungen von Fus nach. Er beginnt sich herumzutreiben. Der Vater merkt, dass es ausgerechnet die Rechten sind, denen sich Fus zugewandt hat. Wenigstens schafft es Gilliou an eine gute Hochschule in Paris. Doch der Vater weiß nicht mehr, was er mit Fus anfangen soll.

    Welche Chance hat man als Elternteil, wenn der Nachwuchs sich in eine Richtung entwickelt, die man sich wirklich nicht wünscht? Hat man selbst Fehler gemacht? Kann man noch etwas unternehmen? Gibt es eine Möglichkeit wieder einen Zugang zu dem Sproß zu finden? Soll wenigstens der Bruder gerettet werden? Der Vater weiß sich nicht zu helfen. Der Versuch, schweigend auf das Beste zu hoffen, scheitert ebenso wie der Versuch, sich gänzlich von seinem Sohn abzuwenden. Kann sein Kind immer sein Kind bleiben, auch wenn er die Ansichten so überhaupt nicht teilt?

    Dieser eindringliche Roman über den Verlust des Halts in der Familie fordert die ganze Aufmerksamkeit. Aus Sicht des Vaters muss man miterleben, wie seine Welt zerbricht. Das beginnt schon mit dem Tod der geliebten Frau. Über seine Ehe denkt er, er sei einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen als er ihr begegnete. Der Vater scheitert darin, für ihren Verlust einen Ausgleich zu bieten. Natürlich muss das nicht dazu führen, dass ein Kind sich einer nationalistischen Partei zuwendet. Beim Lesen ist man ebenso ratlos wie der Vater. Wo hätte eingegriffen werden können? Irgendwann ist es einfach zu spät und nichts mehr zu retten. Und so ist man nach dem Ende der Lektüre schockiert, frustriert und sogar ein Hoffnungsschimmer hat einen bitteren Beigeschmack. Das Buch gibt keine Antworten. Man sollte sich ihm trotzdem aussetzen.

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  1. Blut ist dicker als Wasser

    Klappentext:

    „Mein Sohn, trotz allem

    Fus und Gillou, 10 und 7, sind sein ganzer Stolz. Doch als seine Frau stirbt, steht er allein da mit seinen Jungs. Die Arbeit als Monteur, Haushalt, Erziehung: Er gibt sein Bestes, bringt die Jungs zum Fußball, zeltet mit ihnen in den Ferien. Die ersten Jahre läuft alles glatt. Nur Fus wird in der Schule schlechter, sodass er danach nicht in Paris studieren kann. Der Vater tröstet sich damit, dass sein Ältester nicht wegzieht – bis er entdeckt, dass der 20-Jährige neuerdings mit einer rechtsextremen Clique rumhängt. Wie fühlt man sich, wenn der Sohn in falsche Kreise gerät? Was kann man tun? Er weiß sich nicht anders zu helfen, als mit erbittertem Schweigen seine Missbilligung kundzutun. Ein Drahtseilakt, der in einer Tragödie gipfelt.“

    „„Was es braucht in der Nacht“…ist jemanden, der über dich wacht.“

    So könnte man den Titel fortführen. Der Lothringer Autor Laurent Petitmangin hat hier ein verdammt intensives und vor allem politisch-aktuelles Werk verfasst. Dieses Buch, diese Geschichte gehört in meine Sparte „Muss ich mindestens zwei Mal lesen, weil sie so intensiv und aufwühlend ist“.

    Erzähler der Geschichte ist der Vater, der uns durch seine direkte Sprache immer wieder anspricht. Er erzählt uns seine ganz Welt um die sich sein Leben dreht. Ohne hier zu viel verraten zu wollen, denn dafür steht schon eine Menge im Klappentext, sind dennoch die ganzen Wendungen im Buch wie ein Lesesog. Ich konnte nicht aufhören zu lesen, war neugierig auf das was kommt und schockiert immer wieder auf‘s Neue was ich da las. Das Leid der Familie ist eigentlich schnell erzählt: die Mutter nach langer Krankheit gestorben, er hat einen guten und soliden Job bei der Bahn, der Jüngste geht so langsam seinen Karriere-Weg und der große Sohn driftet ab. Der Vater will die Familie zusammenhalten, gibt alles dafür. Die braune, französische Brühe nimmt seinen größten Sohn Fus ein. Beide, Vater (selbst Parteigenosse bei den Sozialen) und Sohn, werden sich gegenseitig unnahbar aber dennoch verbindet sie viel. Diese Mischung ist von Petitmangin unheimlich feinfühlig und tiefsinnig eingewoben worden. Als es dann zum Äußersten kommt, scheint die Familie komplett auseinander zu brechen. Zugegeben das schmerzt den Leser und man fragt sich selbst, wie man in dieser Situation als Eltern reagiert hätte. Genau das tut eben auch der Vater. Er droht in Selbstzweifel zu versinken, macht sich Vorwürfe, kommt aber immer zu dem Ergebnis nie einen Fehler gemacht zu haben. Das können wir Leser auch nur bestätigen. Was aber aussieht wie eine immer langsamer werdende vertrocknete Pflanze, hält sich aber dennoch immer mit geringsten Tropfen Flüssigkeit/Zuneigung am Leben. Es kommt zu Wendungen, die nicht vorhersehbar waren und den Lesefluss noch mehr necken. Es ist wirklich sehr außergewöhnlich wie Laurent Petitmangin den Leser hier wach-hält. Aber nicht nur das. Er geht auf die politischen Entwicklungen des Landes ein, zeigt den braunen Sumpf, der sich nicht nur in Frankreich ausdehnt bzw. bereits Platz genommen hat im politischen Geschehen und eine eiskalte Anführerin dort hat. Man könnte all dies auch mit jedem x-beliebigen Land vergleichen. Auch in Deutschland könnte Fus‘ Geschichte so stattfinden bzw. hat sie bereits immer wieder stattgefunden. Die Selbstzweifel die der Vater hier hat, gehen immer weiter auf die Beziehung zwischen seinem jüngeren Sohn Guillou über. Ein Prozess beschäftigt nicht nur die Familie sondern auch uns Leser. Alles scheint verloren, aber Blut ist dicker als Wasser. Als alles aber dennoch immer schwerer wird, obwohl die längste Zeit bereits vorbei ist (ich rede hier in Rätseln, ich weiß, aber lesen Sie dieses Buch, dann wissen Sie was ich meine!) wird eine Reißleine gezogen - die größte Wendung im Buch, mit der niemand gerechnet hätte, dass sie je wirklich passiert.

    Ich bin immer noch extrem begeistert von diesem Werk, auch nach mehrmaligen lesen. Es ist ein kleines Büchlein mit einer besonderen Geschichte, die schlussendlich alle Eltern treffen kann. Petitmangin hat einen wunderbaren Schreibstil und einen ganz besonderen Flow. Das er die Gegend rund um Lothringen so gut beschreiben kann rührt daher, das er selbst ein Kind dieser Gegend ist. Er weiß wo es brodelt in der Politik, er weiß wovor die Familien Angst haben und er weiß genau, wo sie enden können.

    Selten so einen ausdrucksstarken, bewegenden und aktuellen Roman gelesen, der so nachhallt - 5 von 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung!

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  1. Und er ist doch mein Sohn

    Die Frau stirbt und der Vater steht mit seinen Söhnen, dem zehnjährigen Fus und dem siebenjährigen Gillou alleine da. Er versucht alles zu regeln, seinen Job als Eisenbahner und den in der Familie. Doch er trauert und ist mit dem allen überfordert. Doch scheint es zunächst gut zu laufen, aber Fus‘ Leistungen in der Schule lassen nach. Er wird nicht studieren können. Der Vater sieht darüber hinweg und ist froh, dass Fus zu Hause bleibt. Doch er bemerkt nicht, dass sein Sohn in eine rechtsextreme Clique gerät. Was soll er tun, als er es realisiert? Er schweigt und dann läuft alles schief.
    Erzählt wird dieser Roman aus der Perspektive des Vaters. Die Geschichte ist gut aufgebaut und der Schreibstil einfühlsam und packend.
    Die Mutter war lange krank und hatte nie die Kraft, den Kampf gegen die Krankheit aufzunehmen. So musste die Familie zusehen, wie sie mehr und mehr entschwand. Trotzdem saßen sie immer wieder an ihrem Krankenbett und es war Erleichterung und ein brutaler Einschnitt, als sie dann starb. Der Vater liebt seine Söhne und will das Beste für sie. Er hofft, dass die Gemeinsamkeit beim Fußball und beim Camping helfen. Der Fußball gab Fus, der eigentlich Frédéric heißt, den Namen. Als Fus sich der rechtsextremen Gruppe anschließt, ist dass für den Vater, der Sozialist ist, eine Katastrophe. Doch wie will er seinen Sohn halten und beschützen? Er ist hin und hergerissen zwischen dem, was er für richtig hält und der Liebe zu seinem Sohn und verfällt in Schweigen. Sein Schweigen jedenfalls ist eine Gratwanderung. Es kommt zu einem tragischen Vorfall.
    Was kann man tun, wenn einem die Kinder entgleiten und wenn sie auf den falschen Weg geraten? Es gibt bestimmt nicht die eine Lösung, die alle Katastrophen verhindert. Aber ganze egal, was geschieht, es sind immer noch die Kinder.
    Es ist eine berührende Geschichte, die mich von Anfang an gefesselt hat.

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