Vox: Roman

Christina Dalcher hat mich mit diesem Buch tief berührt. Es ist zwar keine hohe Literatur oder besitzt einen besonderen Sprachklang, ist eher einfach in der Sprache gehalten. Es hat aber einen unglaublichen Sog. Gestern Nacht musste dieses Buch beendet werden, egal was die Uhr sagte. Nun ja, gerade dieser entstehende Sog ist etwas, was ich an Büchern sehr schätze. Natürlich hat eine Frau Atwood dieses Thema deutlich gehaltvoller umgesetzt. Trotzdem hat auch dieses Buch seine Stärken. Vielleicht auf einer anderen Ebene/einer anderen Klasse, aber es hat sie, schon durch diesen sehr starken Sog und anfänglich auch in der Geschichte. Erst gegen Ende, etwa im letzten Viertel des Buches, verliert die Geschichte einen Teil ihrer Intensität und deutlich an Glaubwürdigkeit, wirkt wie ein hastig herbeigeführtes Ende. Schade.
Zum Inhalt/Thema: In "Vox" wird eine Welt gezeichnet, in der in Amerika christliche reaktionäre Fundamentalisten an die Macht kommen und in einem schreckensgleichen Szenario der weiblichen Bevölkerung ihre berufliche Identität nehmen und sie als Heimchen an den häuslichen Herd schicken. Als ob das nicht schon reichen würde, werden ihnen die Pässe eingezogen, Bücher, Computer, Telefone und Schreibwaren aus dem Leben der Frauen entfernt, das Schreiben verboten und die verbale Kommunikation eingeschränkt, erlaubt sind 100 Worte am Tag, wer darüber hinaus kommt, erhält über ein Armband Stromstöße. Den schulpflichtigen Mädchen wird die Schulbildung minimiert, es ist nur noch eine Art Hauswirtschaft wichtig, sonst nichts mehr. Doch, und eine schnelle Heirat ist noch wichtig, wer hätte das gedacht, das Weib sei dem Manne Untertan. Eine Horrorvorstellung ! Aber durchaus auch in der heutigen Zeit gar nicht so abwegig, wenn man sich das Frauenbild bestimmter Parteien ansieht, in unserem Land wie auch weltweit. Das Ganze wird aus der Sicht von Jean McClellan geschildert, ehemalige Linguistin, jetzt in ihrer Situation gezwungen zuzusehen, wie sich ihre Familie verändert, ihre Kinder beeinflusst werden. Ihre eigene Untätigkeit damals lässt sie mit sich selbst hadern. Ihre damalige Freundin Jackie hat versucht, sie auf die sich anbahnenden Geschehnisse aufmerksam zu machen und sie zu Protesten zu bewegen, aber Jean war mehr mit sich selbst beschäftigt und als sie dann protestierte war es bereits zu spät. Auch dieses finde ich sehr gut in diesem Buche, wie viele gehen heutzutage nicht wählen aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen. Tja, alles was man tut oder eben nicht tut hat Folgen.
Am Ende des Buches vermehren sich leider recht viele unglaubwürdige Sequenzen, was dem Buche einen großen Teil seiner Kraft nimmt. Schade. Frau Dalcher hätte am Ende deutlich mehr Wert auf die Glaubwürdigkeit der Geschichte und auch der Charaktere legen müssen. Bis zu diesem Ende war es für mich ein Vier Punkte Buch, danach hat es für mich leider einen Punkt verloren. Schade, weil die Geschichte allein hätte vier Punkte verdient. Nur der Sog bleibt die ganze Geschichte weiterhin sehr intensiv. Aber das allein reicht nicht.
In einem Amerika der nicht allzu fernen Zukunft lebt Jean mit ihrem Mann und ihren vier Kindern. Obwohl Jean einen Doktortitel besitzt ist ihr Platz daheim am Herd. Die neue Regierung der Reinen hat es so beschlossen. Die Frauen brauchen nicht zu arbeiten, ihre Aufgabe ist es, Haus und Kinder zu hüten. Und still zu sein. Besonders um Letzteres durchzusetzen, hat die Regierung den Frauen Armbänder umgelegt, Armbänder, die die Worte zählen. Nur noch hundert Worte pro Tag sind den Frauen erlaubt. Schlimmer noch, schon die kleinen Mädchen werden am Sprechen gehindert. Wobei das Sprechen in der Entwicklung doch so viel ausmacht.
Es scheint so als solle die Hälfte der Bevölkerung verdummt werden, zu gleichgeschalteten Dienerinnen erzogen werden. Drakonische Strafen drohen, wenn das Kontingent überschritten wird. Kein Abweichen ist erlaubt. Doch plötzlich bietet sich Jean eine Chance, ihren Beruf wieder aufzunehmen. Ihre Forschungsarbeit wird von den Regierenden gebraucht. Wofür bleibt für Jean zunächst unklar. Und große Forderungen kann sie nicht stellen. Doch zumindest für die Dauer ihrer Forschungstätigkeit dürfen Jean und ihre Tochter wieder reden.
Wir lassen uns den Mund nicht verbieten. Das hätte Jean vielleicht sagen müssen als sich abzeichnete, wie die Regierung agiert. Heute bereut sie, dass sie die Mahnungen ihrer besten Freundin abgetan hat. So schlimm kann es doch nicht werden, sie werden es nicht tun. Die Geschichte lehrt: es wird so schlimm und sie tun es. Wehret den Anfängen, so schnell ist es zu spät. So schnell sind Menschen ausgegrenzt. Warum fragt sich so selten jemand, wie es wäre, wenn er der Ausgegrenzte wäre. Würde nicht häufiger Schlimmeres verhindert werden, wenn man sich in die Lage des anderen hinein versetzte, bevor man etwas verurteilt oder jemanden zum Außenseiter macht. In diesem ausgesprochen packenden Thriller trifft es die Frauen, die klein gehalten und verdummt werden sollen. Doch es kann jeden treffen. Es ist die Aufgabe einer Gesellschaft sich gegen solche Umtriebe zu wehren.
Jedes Wort der Güte, jedes Wort gegen die Ausgrenzung, jedes Wort für ein friedliches Miteinander zählt. Klar zeigt die Autorin, die Gefahren auf, wenn man negative Entwicklungen einer Gesellschaft unterschätzt. Die Aufgabe ist es, dagegen zu halten. Auch wenn der Showdown nicht so ganz zum hervorragenden Rest des Buches passen mag, sollte dieser aufrüttelnde Roman unbedingt gelesen werden.
4,5 Sterne
Brutales Schweigegebot
Vox" ist die literarische Stimme zum "Women´s March", zur #MeToo-Debatte, zu Pussy
Riot und dem Unbehagen, dass längst überwunden geglaubte Geschlechterbilder und
Gender-Identifikationen plötzlich zurückführen könnten in eine Gesellschaft, wie wir sie
seit, sagen wir mal, den 50-er Jahren überwunden glaubten. In eine Gesellschaft, in der
Frauen vor allem Ehefrauen und Mütter sein sollen, eine Gesellschaft, in der Mädchen
buchstäblich mit der Gewisseheit aufwachsen, dass sie nichts zu sagen haben.
Jean McClellan, die Hauptfigur dieses Romans in einer womöglich nicht zu fernen
Zukunft, war einmal Linguistin, arbeitete in einem bedeutenden wissenschaftlichen
Projekt. Doch all das zählt nicht mehr, seit die "Reinen" das Sagen in Amerika übernahmen,
gesteuert von einem fundamentalistischem Geistlichen, der einen unheilvollen Einfluss auf
den US-Präsidenten ausübt. Jetzt ist Jean nur noch die Ehefrau von Patrick, Mutter von vier
Kindern, darunter einer sechsjährigen Tochter, die zu verstummen droht.
Denn Frauen und Mädchen in dieser gar nicht schönen neuen Welt dürfen nur noch bis zu
100 'Wörter täglich über die Lippen bringen. In der neuen Geschlechter-Apartheid besuchen
Jungen und Mädchen unterschiedliche Schulen - denn wozu sollen Mädchen lesen, wozu
ihren Intellekt schulen, wenn sie sowieso nur Ehefrau und Mutter sein sollen? Ein
"Wortzähler", am Handgelenk achtet darauf, dass Frauen sich nicht zu oft zu Wort melden -
wird das tägliche 100 Worte-Limit überschritten, sind schmerzhafte Stromschläge die
Konsequenz.
Zugleich ist die neue Welt ein perfekter Überwachungsstaat, der alle Fluchtmöglichkeiten
wie etwa den Gebrauch von Zeichensprache ausschließt. Für vorehelichen Sex, für
Homosexualität gibt es Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager. Jean hatte die Zeichen der
Zeit verkannt, als ihre lesbische Freundin Jacko Protestmärsche organisierte. Nun muss sie
hilflos beobachten, wie die Spaltung der Gesellschaft in der eigenen Familie Einzug hält.
Doch dann tut sich plötzliche eine Chance auf, zumindest vorübergehend die Sprache
wieder zu gewinnen...
Ich habe "Vox" innerhalb von 24 Stunden verschlungen - das Thema war einfach packend,
und scheint mittlerweile längst nicht mehr überzeichnet. Ein Roman, der eine Welt schlildert,
die es zum Glück noch nicht gibt. Aber nicht erst seit #MeToo, nicht erst seit den Berichten
über die Entgleisungen eines Donald Trump ("Grab them by the pussy") ist das Thema, wie
Frauen von Männern gesehen und behandelt werden, wo die "gläsernen Decken" sind und
wo trotz aller emanzipatorischer Erfolge noch immer Abgründe zwischen den Möglichkeiten
für Männer und Frauen stehen. Die Charaktere sind glaubwürdig - Jean ist beileibe keine
Kämpferin für Frauenrechte, sondern hat sich lange eingerichtet in der Haltung, dass doch
alles nicht so schlimm sei. Es ist spannend zu lesen, wie sie plötzlich ihre bisherigen
Entscheidungen überdenkt und die Möglichkeiten zum Widerstand nutzt - und lernt, sie
steht nicht allein.
Zu viel sollte hier nicht verraten werden, aber ich finde: Ein wichtiges Thema, gar nicht so
weit hergeholt mit Identifikationsfiguren, denen der Leser einen Ausweg aus dem Dilemma
wünscht - und gleichzeitig fürchtet, dass ein happy end für alle ausgeschlossen ist.