Vor der Flut

Buchseite und Rezensionen zu 'Vor der Flut' von Corinna T. Sievers
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Inhaltsangabe zu "Vor der Flut"

"Ein mutiger Text, der explizit das Begehren einer Frau in einer so radikalen Perspektive benennt, wie man es eigentlich nur von Männern kennt, ein Text, der von Überschreitung handelt, einem Abweichen von der Norm, und der eine enorme Spannung erzeugt." Hubert Winkels beim Bachmann-Bewerb 2018

Judith ist Zahnärztin und lebt auf einer norddeutschen Insel mit ihrem Ehemann, einem Psychiater. Sie führen eine eher lieblose Ehe, was ihn aber nicht davon abhält, ihre wechselnden außerehelichen Liebschaften zu analysieren. Das Städtchen ist klein, nicht einmal zweitausend Einwohner. Neun Zwölftel des Jahres ist Nebensaison. Doch zweimal im Jahr fallen die Reichen ein, zweimal im Jahr ist Hochsaison, dann kommt Judith auch privat auf ihre Kosten: Sie ist Erotomanin, auf der Suche nach einer freien Sexualität, sie ist frei von den Grenzen des allgemein Konformen, Männer warten bei ihr vergeblich auf Erlösung oder gar Liebe. Jetzt sind die Weihnachtsgäste abgereist, und ein vom Wintersturm angeschwemmter Eisblock treibt auf das kleine, direkt an der Wattseite der Insel gelegene Warfthaus der Eheleute zu. In dem Maße, wie sich die Eismasse Meter für Meter nähert und mit der nächsten Springflut das Haus unter sich zu begraben droht, nimmt die Erzählung eine immer dramatischere Wendung, entwickelt sich ein von Judith so präzis im Voraus geplantes erotisches Rendezvous immer mehr gegen ihre Erwartungen.

Ebenso konkret wie ironisch beschreibt Corinna T. Sievers eine Frau, die sich offen ihrem Begehren hingibt. "Vor der Flut" verhandelt das traditionelle Konzept von Liebe und weiblicher Sexualität auf ungewohnte Weise und treibt ein Spiel mit gesellschaftlichen und geschlechtlichen Machtverhältnissen - originell und spannend bis zum Schluss.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783627002619

Rezensionen zu "Vor der Flut"

  1. Eiszeit der Gefühle

    Judith ist Anfang 50, Zahnärztin und lebt auf einer Insel in der Nordsee. Sie ist mit Hovard verheiratet, einem pensionierten Psychoanalytiker. Zweimal im Jahr ist Hauptsaison auf der Insel, dann kommen reiche Touristen. Von deren Zahnpflege lebt sie mehr schlecht als recht.
    „Ich bin einundfünfzig Jahre, Zahnärztin und Nymphomanin.“ Dieser Satz fasst so ziemlich alles zusammen was Judith ausmacht. Mir unzähligen Männern hat sie, muss sie, sexuell verkehren. Ganz egal, ob Zufallsbekanntschaft, Patient, verheiratet oder nicht. Nur nicht mit ihrem Mann Hovard, diese Ehe ist so schlaff wie Hovards Geschlecht. Hovard weiß von ihren Affären, billigt sie, analysiert sogar Judiths Verhalten sowie das des jeweiligen Sexkandidaten. Judiths Name ist Programm, Holofernes hat viele Köpfe.
    Die Autorin Corinna T. Sivers ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Fachärztin für Kieferorthopädie, die mit der „Prognostizierbarkeit von Schönheit“ promoviert hat. Ob Judith nun das alter ego der Autorin ist sei dahin gestellt. Sie lässt Judith jedenfalls erzählen. Wie sie mit dem Altern hadert und dem Zerfließen von Brüsten und Hintern. Wie sie es mit Hovard aushält, dem platonischen „Ehemann, Arzt und Gefängniswärter“. Finanzielle Gründe lassen Judith bleiben. Dennoch behauptet sie: „Ich bin Feministin, ich bin stolz, aber was nützt das, wenn ich Lust habe, einen Schwanz zu lutschen.“ Da ist sie diese Sprache, explizit, vulgär, pornographisch. Judith lässt nichts aus, die Beschaffenheit ihres Geschlechtsorgans, das ihrer Partner, den Geruch, die Technik beim Akt und der Selbstbefriedigung.
    Ziel dieses Romans ist weniger zu erregen, als aufzuregen. Oft spricht Judith die Leserin direkt an, das macht betroffen, unbehaglich.
    „Sollten Sie die Schilderung für entbehrlich halten oder sich gar abgestoßen fühlen, lesen Sie weiter auf Seite zweiundvierzig.“ Jein! Die endlose Aneinanderreihung Judiths manischer Triebbefriedigung langweilt bisweilen. Aber dieser ungewöhnliche Text beschreibt auch eine Frau, die sich bis zur Erniedrigung entblößt. Nicht die ausführliche Beschreibung des Geschlechtsaktes ist das Wesentliche. Nicht das Treiben, sondern die Getriebenheit ist es, die komplexe, schwierige und zerrissene Persönlichkeit der Protagonistin. Judith ist ein sehr fragiler Charakter. Die Dramatik ihres Lebens spiegelt sich wieder in dem Eisblock, der unaufhörlich vom Meer auf ihr Haus zutreibt und dieses zu vernichten droht. Die Eiszeit der Gefühle endet symbolträchtig.

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