Von den Nazis trennt mich eine Welt

Buchseite und Rezensionen zu 'Von den Nazis trennt mich eine Welt' von Peter Graf
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Inhaltsangabe zu "Von den Nazis trennt mich eine Welt"

Hermann Stresau arbeitet als Bibliothekar in Berlin, als 1933 die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erfolgt. In seinen Tagebüchern, die der in Amerika geborene Intellektuelle mit der Machtergreifung wieder aufnimmt, entfaltet sich ein intimes Bild der Vorkriegszeit. Ausnehmend klarsichtig schildert er, wie die neuen Machthaber mit der ihnen eigenen Mischung aus geschickt eingesetzter Propaganda, inszenierten Machtdemonstrationen, der skrupellosen Ausübung von Gewalt und einer gut organisierten Bürokratie die Herrschaft absicherten und Stück für Stück ausweiteten. Doch genauso sehr interessiert sich Stresau für sein Umfeld. Reflektiert beschreibt er das Verhalten derjenigen, die sich aus Überzeugung oder Karrieregründen dem System andienen, schildert das Mitläufertum ebenso wie die Gedanken der ihm Gleichgesinnten, die sich den neuen Verhältnissen verweigern. So entsteht ein unvergleichliches Zeitpanorama und Psychogramm der Deutschen. Die Tagebücher wurden von den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure wiederentdeckt und reichen von 1933–1945. Ein zweiter Band, der die Kriegsjahre umfasst, erscheint im Herbst 2021.

Diskussionen zu "Von den Nazis trennt mich eine Welt"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:448
EAN:9783608983296

Rezensionen zu "Von den Nazis trennt mich eine Welt"

  1. Der Blick von Innen als wertvoller Zugang zur Geschichte

    1948 erschien das Tagebuch Hermann Stresaus unter dem Titel „Von Jahr zu Jahr“, gekürzt vom Autor selbst. Über 70 Jahre später bringt der Klett-Cotta-Verlag die Tagbücher neu heraus, versehen mit einem umfangreichen Kommentarteil und ergänzt um die komplett gestrichenen Tage oder Passagen, nur die stilistischen Änderungen Stresaus wurden beibehalten. Der erste Band umfasst die Jahre bis zum Kriegsbeginn, im Herbst 2021 wird dann der zweite Band mit den Jahren 1939 – 1945 erscheinen.

    Hermann Stresau wurde 1894 in den USA geboren und kam mit seinen deutschen Eltern bereits 1900 nach Frankfurt zurück. Er kämpfte als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, arbeitete nach abgebrochenem Studium als Bibliothekar in Spandau und wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen. Danach schrieb er Artikel für Zeitungen, Übersetzungen, arbeitete als Lektor und veröffentlichte Sachbücher und Romane.
    Der Verlust seiner Stelle, der Kampf um Wiedereinstellung, die Auseinandersetzungen mit denen, die dafür verantwortlich waren, sowie die ständigen juristischen Konflikte rund um einen Hauskauf und -umbau, die Stresau fast alle verlor, weil seine Kontrahenten zwischenzeitlich Mitglieder der NSDAP waren, und der oft auch finanziell schwierige Aufbau einer neuen Existenz – das alles prägt neben den großen politischen Ereignissen die Aufzeichnungen Stresaus. Hellsichtig und hochintellektuell berichtet hier jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt und dem schlimmste Konsequenzen gedroht hätten, wenn diese Aufzeichnungen in falsche Hände gekommen wären.

    Aber hier schreibt kein Widerstandskämpfer, Stresaus Ansichten sind teilweise selbst rechts-konservativ. Über Tucholsky schrieb er, dass dieser „wie sein geistiger Vorfahr Heine in politischer Hinsicht nichts taugt“ und ein „Mann wie Stefan Zweig hat freilich verheerend gewirkt“. Man findet bei ihm, gerade in den frühen Jahren, auch Begriffe wie „Wucherjuden“ oder „Entartung“. Aber er erkannte zumindest sehr schnell beim Vorgehen der Nazis gegen Juden, „daß wir dafür noch einmal teuer zu bezahlen haben würden.“

    Wie so oft bei der Beschäftigung mit Menschen, die sich gegen den Nationalsozialismus aussprachen, passen das heute vorherrschende bequeme Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien, das Bedürfnis nach Schubladen-Ordnung überhaupt nicht. Hermann Stresau zeigt vielmehr, wie Menschen sich vom Nationalsozialismus abwandten, ohne dessen Ideen immer komplett abzulehnen. Und gerade hier sind Tagebücher hervorragende Zeugnisse, da sie Veränderungen, Entwicklungen und Wandlungen zeigen.
    So schrieb Stresau noch im November 1933, als seine Abneigung noch mehr auf Äußerlichkeiten, weniger auf Inhaltlichem beruhten:
    „Das Verwirrende in dem ganzen Vorgang ist dies: manches ist zu bejahen, selbst im Grundsätzlichen. Wer wollte leugnen, daß Gemeinnutz vor Eigennutz geht? (…) Kein Mensch kann im Augenblick ermessen, was längeren Atem hat: Schaden oder Nutzen eines Systems, das seine Leistungen ja erst vor sich hat. Es bleibt nur ein Gefühl des inneren Widerstandes, moralischen, ästhetischen Widerstandes, die Ablehnung der gemeinen Methoden, der Ruhmredigkeit, der Dummheit…“ S. 153f)

    Zwei Jahre später aber hatte er erkannt, dass nichts die Art und Weise dieses Regimes entschuldigen kann, dass die aus seiner Sicht eventuell guten Seiten der nationalsozialistischen Revolution nicht ins Gewicht fallen beim Rückschritt in eine „massenhaft gezüchtete Gesinnungslosigkeit.“:

    „Aber wenn die Ignoranz, die mit keinerlei Erfahrung oder Wissen belastete Skrupellosigkeit das Ruder ergreift, dann hilft auch ein subjektiv guter Wille nichts, und die Herrschaft ist keine Herrschaft, sondern eine bloße Diktatur.“ (S. 217)

    Und so zeigt sich mit fortschreitender Dauer der Aufzeichnungen immer mehr, wie hellsichtig, wie unglaublich vorausschauend Stresau die Umstände analysierte. Seine Ablehnung der Person Hitlers und anderer Nazigrößen bezieht sich nicht nur auf tagesaktuelle Erkenntnisse, sondern basiert auf grundlegenderen Überlegungen, so z.B. auf historischen Parallelen, die der Autor mit hoher Intellektualität sieht:

    „Was die sogenannten Großen Männer hinterließen, war immer Stückwerk, das binnen kurzem zerfiel. Und doch erscheint immer wieder einer, der glaubt tun zu können, was seine Vorgänger nicht fertig brachten, der meint, mit ihm beginne die Geschichte erst eigentlich…“ (S. 238) Oder: „Mir geht für die Ideologie der heutigen Machthaber jedes Verständnis ab, außer dem einzigen: daß sie eben Machthaber sind und ihre Macht mit allen Mitteln, ob erlaubt oder unerlaubt, erhalten.“ (S. 341)

    Bereits 1938 erkannte er ganz klar die Gefahren eines Krieges für Deutschland und seine Überlegungen zu den Folgen der massiven Aufrüstung, zu dem angeblich abschreckenden Effekt könnten genauso aus der Abrüstungsdebatte der 70er und 80er-Jahre stammen.

    Stresau machte bei aller Kritik aber auch klar, dass für ihn eine Emigration ins Ausland nicht in Frage kam. Er sah keinen Weg, sein „Selbstvertrauen im Ausland zu festigen, er brauchte die „Verbindung mit dem deutschen Geschick“. Außerdem fühlte er sich mit seiner Frau schlicht zu alt für einen so gravierenden Schritt und wusste auch um die große finanziellen Probleme einer solchen Entscheidung.

    Die Tagebücher von Hermann Stresau bieten wie z.B. auch die von Friedrich Percyval Reck-Malleczewen, Friedrich Kellner oder Victor Klemperer einen direkten, unmittelbaren Blick ohne nachschauende Reflexion. Das führte selbstverständlich auch zu Fehleinschätzungen, da dem Autor zu vielem keine oder falsche Informationen vorlagen, aber solche Aufzeichnungen sind unentbehrlich für eine gesamtheitliche Beurteilung der Auswirkungen des Nationalsozialismus. Denn hier zeigen sich nicht nur die Vorgänge auf politischer Ebene im „Dritten Reich“, sondern auch der zunehmende Eingriff und Einfluss des Regimes in das berufliche und private Leben jedes einzelnen in dieser Zeit.

    Und noch ein Hinweis: Dieses Buch war ein kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag, aber selbstverständlich bekomme ich für eine Rezension keinerlei Geld.

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