Vom Ende der Einsamkeit

Buchseite und Rezensionen zu 'Vom Ende der Einsamkeit' von Benedict Wells
5
5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vom Ende der Einsamkeit"

»Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind: Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.« Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:368
Verlag: Diogenes
EAN:9783257069587

Rezensionen zu "Vom Ende der Einsamkeit"

  1. Einfach eine Geschichte

    Autor
    Benedict Wells

    Der Roman ist kein packender Thriller oder eine aufregende Liebesgeschichte, sondern einfach nur eine Geschichte, die einerseits von Hoffnung und andererseits von Schwermut erzählt.
    Benedict Wells beschreibt in einer beeindruckenden und tiefgründigen Art und Weise wie drei Geschwister, Liz, Marty und Jules, mit dem Verlust der Eltern in ihrer frühen Jugend umgehen, wie sich entfremden und wieder zueinander finden.

    Rück mit dem Stuhl heran
    Bis an den Rand des Abgrunds
    Dann erzähl ich Dir meine Geschichte.
    (F. Scott Fitzgerald)

    Dieses Zitat ist dem Roman vorangestellt und ist gewissermaßen auch als Aufforderung an den Leser zu verstehen. Denn man muss bereit sein, sich ganz dicht an den Rand des Abgrunds zu begeben, um der Geschichte zu folgen. Manchmal sogar noch ein wenig über den Rand sich hinaus trauen.

    Inhalt
    Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet – und was sie ihm immer verschwiegen hat. Als Erwachsener begegnet er Alva wieder. Es sieht so aus, als könnten sie die verlorene Zeit zurückgewinnen. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein.

    Stil und Sprache
    Das Geschehen wird von Jules rückblickend und chronologisch auf zwei Zeitachsen erzählt: Die Gegenwart 2014 und die Vergangenheit 1980–2014. Schauplätze sind das fiktive südfranzösische Dorf Berdillac, München, Berlin und das Dorf Eigenthal in der Schweiz.

    „Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“

    Die Erzählung beginnt am Ende, in der Gegenwart im September 2014. „In diesem Roman steht nicht die Geschichte in dem Vordergrund, sondern die Figuren und zwischen den Zeilen das Gefühl.“ (Zitat Benedict Wells)

    Wells lässt das Entscheidende zwischen den Zeilen stattfinden, wodurch eine eigentümliche Spannung entsteht. Genau dadurch gelingt es ihm, eine Geschichte mit einer Zeitspanne über vierunddreißig Jahre entstehen zu lassen. Ohne Hektik wird die Handlung vorangetrieben. Es bleibt Platz für die Beschreibung der Charaktere in ihrer Entwicklung. Wells nimmt sich Zeit ihre Eigenheiten, ihre Entwicklung und auch die Veränderung zueinander zu aufzuzeigen.
    Er nutzt dafür eine schlichte Sprache, um die Handlung in den Vordergrund zu rücken.

    Alle wichtigen Personen sind durch traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit belastet: Jules, Marty und Liz leiden unter dem Tod der Eltern. Ihr Vater Stéphane Moreau hat mit Gewalterfahrungen und dem Tod des Bruders Eric zu tun. Alva kann das ungeklärte Verschwinden ihrer Schwester Josephine nicht verwinden. Diese Leidenserfahrung setzt sich für die Zwillinge von Jules und Alva, Luise und Vincent, fort, da auch sie die Mutter früh verlieren.
    Ebenso wie die Erwachsenen nach lebensverändernden Einschnitten verändern die Zwillinge Luise und Vincent ihr Verhalten, als ihre Mutter Alva krank wird.

    Es gibt Analogien und Ähnlichkeiten: Vater Stéphane, Jules und Vincent müssen Angst und Unsicherheit überwinden. Es scheint in dieser Hinsicht eine charakterliche Ähnlichkeit zwischen Vater, Sohn und Enkelsohn zu bestehen. Liz und ihre Mutter Magdalena zeichnen der gleiche Lebenshunger und das Verlangen nach Männern aus.
    Elena ist durch die Kinderlosigkeit beeinträchtigt. Sie überwindet durch die ‚Ersatzkinder‘ Luise und Vincent ihr Leid.

    Die Grundstimmung des Romans erscheint immer als sehr traurig, melancholisch.

    „Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast."

    Fazit
    Benedict Wells schreibt über die Liebe, über eine verlorene Kindheit und das Erwachsenwerden. Seine Themen handeln von Schicksalsschlägen, die auf traurige Weise zeigen, dass das Leben kein "Nullsummenspiel" ist. Garantie für Gerechtigkeit und Anspruch auf Glück gibt es nicht.

    „Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt.“

    Teilen
  1. »Nur gemeinsam können wir die Einsamkeit besiegen.«

    Nach dem Zuklappen des Buches bleibt ein überwältigendes Gefühl zurück ... Ich bin überwältigt von all den tiefsinnigen Gedanken darin, von der Sprache, die von einer zarten Melancholie geprägt ist und von den bewegenden Schicksalsschlägen der Protagonisten.
    »Vom Ende der Einsamkeit« ist nach »Fast genial« mein zweites Buch von Benedict Wells, aber das erste von ihm, das von mir den Lieblingsbuch-Status erhält.

    ~ Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird? ~
    (S. 11)

    Jules Moreau erzählt hierin die Geschichte seines Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen und den Erkenntnissen, die er daraus zieht. Angefangen bei seiner Kindheit, seinen Eltern und dem schrecklichen Unfall, bei dem sie zu Tode kommen. Jules erzählt, was dieser Schicksalsschlag mit ihm und seinen beiden Geschwistern Marty und Liz angerichtet hat ...

    Jules ist ein Träumer, leidenschaftlicher Koch und fotografiert gerne. Aber vor allem - und das ist seine größte Leidenschaft - schreibt er unheimlich gerne (und gut). Die Einsamkeit und das Alleinsein spielt in seinem Leben seit dem Tod der Eltern eine sehr große Rolle. Auch Alva, ein Mädchen mit roten Haaren, das er ›danach‹ in der Schule kennenlernt, nimmt Raum in Jules Leben und Gedankenwelt ein. Mit Alva entwickelt sich eine der schönsten, aber auch tragischsten Liebesgeschichten, die ich jemals gelesen habe ...

    ~ Zu Hause erwartete mich Stille, ein mir seit Jahren vertrautes Geräusch. Doch wie sehr war mir diese Einsiedlerexistenz inzwischen zuwider, diese Unfähigkeit, am Leben teilzunehmen. Immer nur geträumt, nie wirklich wach gewesen. Sieh dich an, dachte ich, was sehnst du dich in Gesellschaft so oft danach, allein zu sein, wenn du das Alleinsein kaum noch aushältst? ~
    (S. 162/163)

    Sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinandersetzen, das ist es, was Jules in seinem Leben tun muss. Erkenntnisse, wie dass im Leben nicht immer alles gerecht abläuft oder dass man sein eigenes Dasein/seine Gedanken und Handlungen selbst in der Hand hat, sprich, dass man selber dafür verantwortlich ist, was für ein Leben man führen möchte, sind ebenfalls Dinge, die Jules im Laufe der Zeit zu verstehen beginnt und annimmt.
    Jules hat wirklich kein leichtes Leben gehabt, umso interessanter fand ich seine Entwicklung, die durch seine Erzählungen der Vergangenheit gut zu verfolgen war. Er macht sich oft Gedanken über die Zeit, Erinnerungen und die Vergangenheit - das Buch hat für mich also sehr viele zum philosophieren einladende Fragen bereitgehalten, die das Ganze zu einem Lesegenuss der besonderen Art gemacht haben.

    ~ Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. ~
    (S. 299)

    Ich mochte an dieser Geschichte einfach alles: die Sprache, die Protagonisten, den Verlauf, die Tiefgründigkeit, die Tragik und vor allem wie all das enorm bewegende Gefühle in mir hervorrufen konnte.
    Wer Bücher mit Tiefgang mag und einer flüssig-fesselnden Geschichte mit viel Liebe und Tragik nicht widerstehen kann, sollte UNBEDINGT zu »Vom Ende der Einsamkeit« greifen. Ich war und bin nach wie vor ziemlich ergriffen davon!

    Teilen
  1. Wie finde ich zum richtigen Leben zurück?

    Inhalt:

    "Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich." (S.9)

    So beginnt der Roman, der aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Jules erzählt wird, der gerade aus dem Koma aufwacht, nachdem er einen Motorradunfall gehabt hat. Seine Familie ist informiert, er scheint Frau und 2 Kinder zu haben. In der Nacht reflektiert er über sein bisheriges Leben:

    "Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?" (S.11)

    Dann springt der Roman ins Jahr 1980, Jules erinnert sich und erzählt im Präteritum seinen Familienurlaub als 7-Jähriger. Gemeinsam mit seinen älteren Geschwistern Marty, den er nicht leiden kann, und Liz, die er sehr liebt, besucht er mit seinen Eltern seine Großmutter in Frankreich, im Languedoc. Sein Vater stammt aus dieser Gegend und die Beziehung des Vaters zu seiner Mutter scheint überschattet. Es ist kein fröhlicher Urlaub und ein schreckliches Ereignis überschattet ihn. Während einer Wanderung auf der Jules zunächst unerschrocken über einen Ast balanciert, beobachten die Kinder, wie der kleine Hund einer Familie in einen reißenden Fluss fällt und ertrinkt.
    Jules frag sich nachts:

    "Denn es schien Familien zu geben, die vom Schicksal verschont blieben, und andere, die das Unglück auf sich zogen, und in dieser Nacht fragte ich mich, ob meine Familie auch so eine war."(S.27-28)

    Die Vorausdeutung weist auf das kommende Unglück hin, denn ein halbes Jahr nach dem Urlaub verunglücken die Eltern von Jules, Marty und Liz. Die Kinder kommen in ein Heim, ein Internat mit Schule, nur die Ferien verbringen sie bei ihrer Tante in München. Jede der drei geht unterschiedlich mit der furchtbaren Situation um. Marty wird zu einer Art Nerd, der sich verschließt und sich dem Computer verschreibt, Liz dagegen überspielt ihre Ängste und erscheint als Draufgängerin, die Drogen nimmt und im Internat als "Schlampe" bezeichnet wird. Jules zieht sich ebenfalls zurück, aus dem aufgeweckten, mutigen Jungen ist ein trauriger, ängstlicher geworden, der kaum Vertrauen zu den anderen Kindern fassen kann. Außer zu Alva, mit der er sich anfreundet, denn ein unsichtbares Band führt die beiden zusammen.

    "Für einen kurzen Moment sah ich den Schmerz, der sich hinter ihren Worten und Gesten verbarg, und sie erahnte im Gegenzug, was ich tief in mir bewahrte. Doch wir gingen nicht weiter. Wir blieben jeweils an der Schwelle des anderen stehen und stellten einander keine Fragen. " (S.59)

    Die Zeit in der Schule wird nur in einzelnen Episoden erzählt, es sind Momentaufnahmen von Jules Leben, wie er von seinem Bruder im Stich gelassen wird, wie seine Schwester verschwindet, wie er sich in Alva verliebt, die ihn jedoch zurückstößt, weil auch sie ein tragisches Ereignis in sich trägt, das sie belastet. Jules und Alvas Wege trennen sich auf unbestimmte Zeit.

    Nach der Schulzeit versucht sich Jules als Fotograf, da sein Vater ihm am letzten Weihnachtsfest eine Kamera geschenkt hat und er es als eine Art Vermächtnis sieht, für seinen Vater zu fotografieren, obwohl er lieber schreiben würde. Marty hingegen wird ein erfolgreicher Geschäftsmann, der auf das Internet setzt, das gerade boomt, während Liz den Drogen verfällt.

    "Liz hat diese abgründigen, schwarzen Augen bekommen. Die Augen von jemandem, der fällt und fällt und fällt. Und sie liebt den Fall." (S.111)

    Marty, der zunächst sehr unsympathisch wirkt, entwickelt sich zum guten Hirten seiner Geschwister und bemüht sich, ihnen mit seiner Frau Elena zusammen zu helfen. Nach einem gemeinsamen Frankreich-Urlaub und einem gemeinsamen LSD-Trip mit seinen Geschwistern, wird Jules bewusst, dass er sein Leben nicht annimmt.

    "Ich stoße ins Innere vor und sehe ein Bild klar vor mir: wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen. ein nicht korrigierbarer Fehler im System." (S.133)

    Er beschließt wieder Kontakt zu Alva, seiner einzigen Liebe aufzunehmen und trifft sie, die inzwischen verheiratet ist, wieder. Die Episoden, die dem zweiten Wiedersehen folgen und seine Beziehung zu dem Ehemann Alvas, einem bekannten Romanautoren, sind aus moralischer Hinsicht diskussionswürdig. Vor allem die Szene im Keller, die ich hier aber nicht vorwegnehmen will.

    Es zeigt sich im Folgenden, dass das Leben nicht immer ein "Nullsummenspiel" ist, wie Alva es ausdrückt, trotz all der traurigen Ereignisse, die letztlich zum Motorradunfall geführt haben, entlässt der Roman die Leser/innen in positiver Stimmung und Jules erkennt, dass er in seinem Leben angekommen ist.

    "Dieses andere leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins." (S.337)

    Bewertung

    "Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird." (S.136)

    Der Roman erzählt die Geschichte dreier sehr unterschiedlicher Geschwister, die mit dem Tod ihrer Eltern zurecht kommen müssen. Im Mittelpunkt der sensible Jules, der lange braucht, um zu erkennen, dass seine Jugendfreundin Alva die einzige ist, die ihn aus seiner Einsamkeit befreien kann.
    Die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Kinder macht deutlich, wie verschieden Menschen auf ein tragisches Ereignis reagieren können. Marty, der letztlich Kraft schöpft nach einer langen Phase des Rückzugs und zum Rückhalt für seine Geschwister wird. Liz, die an der ihr auferlegten Verantwortung als Älteste zugrunde geht, die nicht erwachsen werden will und fast daran zerbricht. Und Jules, der vom mutigen Jungen zum zurückgezogenen, ängstlichen, jungen Mann wird, der jedoch im Laufe seines Lebens wieder zu dem zurückfindet, was in ihm unveränderlich ist. Marty führt ihm vor Augen, dass er über den Verlust hinwegkommen muss, um sein Leben auf seine Art zu leben.

    "Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast." (S.185)

    Ein Roman, der Licht auf einzelne Episoden der Protagonisten wirft und in dem vieles ungesagt bleibt, so dass wir als Leser/innen gefordert sind, die Leerstellen zu füllen und darüber nachzudenken, warum die Figuren so und nicht anders handeln. Der aber sehr gefällig geschrieben ist und den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.

    Der Roman ist auch eine großartige Liebesgeschichte, die zu Herzen geht, und man wünscht sich sehnlichst, das Leben wäre ein Nullsummenspiel für Jules und Alva, die so viel Trauriges erlebt haben.

    Ein wunderschöner, berührender Roman, der hoffentlich noch viele Leser/innen findet.

    Teilen
  1. 5
    19. Jun 2016 

    Ein wundervolles Buch ...

    Dieses Buch hat mich tief berührt. An einigen Stellen kamen mir sogar die Tränen, obwohl der Inhalt nicht übertrieben gefühlvoll ist. Eigentlich ist es recht ausgewogen zwischen Gefühl und Intellektualität.

    Wer kennt das noch: Wenn die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt, fühlen sich diese besonders zueinander hingezogen. Man könnte auch sagen, ich verwende hierzu den Goethebegriff, sie stehen seelenverwandt zueinander. Ich habe diesmal wieder die Erfahrung gemacht, dass die Chemie sogar zwischen einem Buch und einer Leserin identisch sein kann. Benedict Wells gibt mir gerade das Gefühl hierfür. Noch dazu ist er ein so junger Autor, der eine wahnsinnig reife Seele haben muss, der sich in vielen Themen, die die Menschheit schon immer beschäftigt hat, auskennt. Sehr beeindruckend, wie er schreibt. Die ganze Geschichte habe ich von der ersten bis zur letzten Seite mit Spannung verfolgt. Ich bin tief beeindruckt ...

    Mich hat der Protagonist und Ich-Erzähler Jules sehr beschäftigt, der Jüngste unter seinen beiden Geschwistern, obwohl Liz, die Schwester und Marty, der Bruder, nicht weniger interessant sind. Sie alle sind Persönlichkeiten, die nicht mit der Masse gehen. Und jede Figur hat ihre ureigenste Art, belastende Ereignisse zu verarbeiten.

    Carson McCullers zählt zu meinen Favoriten und ich habe mich riesig gefreut, als die amerikanische Buchautorin auch in diesem Roman eine sehr wichtige Rolle spielt, so haben sich meine Eindrücke, sich zu dem Buch Wells hingezogen zu fühlen, recht bald bestätigt. Ich verfolgte gespannt die Gedanken von Jules und Alva, als sie sich über mein Lieblingsbuch Das Herz ist ein einsamer Jäger ausgelassen haben. Alva ist Jules Jugendfreundin und beide machen ebenso recht früh schon die Bekanntschaft mit der schwererträglichen Einsamkeit, die ganz besonders Jules zu überwinden versucht, da er diese Einsamkeit eigentlich satt hat, während Alva das Positive in ihr sieht:

    Zitat

    Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit. (2016, 171)

    Schon Jules Vater war ein sehr weiser Mann, der immer bemüht war, seinen Kindern untypische Lebenshilfen mit auf den Weg zu geben. Kurz vor seinem Tod sprach er zu seinem Jüngsten:

    Zitat

    Am wichtigsten ist, dass du deinen wahren Freund findest, Jules. (…) Ein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen. (33)

    Dies ist eine so weise Sichtweise, die ich unbedingt festhalten möchte.

    Jules ist anders als andere Kinder, auch ist er anders als seine Geschwister. Er ist ein Träumer. Macht sich viele Gedanken über Bücher und selbst schreibt er auch Kurzgeschichten. Eine seiner Geschichten handelt von Bibliotheken, in der die Bücher nachts, wenn alle BesucherInnen längst schlafen, miteinander kommunizieren. Manche Bücher beschweren sich über die schlechten Plätze in ihren Regalen hinterster Reihe. Ich musste dabei so an Walter Moers Bücher denken.

    Nach dem Tod der Eltern werden die drei Kinder in ein Internat gesteckt. Eine so ziemlich kalte Atmosphäre, in der sie mit ihrer Trauer alleine fertig werden mussten. Es gibt nur eine jüngere Verwandte, eine Tante, mütterlicherseits, die aber nicht in der Lage war, die Kinder bei sich aufzunehmen. Sie hält aber den Kontakt zu ihnen aufrecht.
    Liz, die Älteste zwischen den drei Geschwistern, passte sich dem System im Internat nicht an, und ging recht schnell eigene Wege und gerät zeitweilig auf die schiefe Bahn ... Marty war eher der angepasste Typ, aber auch ein Einzelgänger, der sich ausschließlich mit Büchern und Computerspielen beschäftigt, und der sich wenig um die Nöte seines jüngeren Bruders Jules kümmert, der von den Kameraden im Internat ein wenig gemobbt wird ...

    Als Alva, elf Jahre alt, neu ins Internat und in Jules Klasse kommt, fühlen sich die beiden recht bald nahe. Alva stammt aus einer Familie, die sehr problembehaftet ist. Auch in ihrem Leben hat das Schicksal mehrfach kräftig zugeschlagen, doch die Kinder reden nicht darüber. Alva und Jules gehen kurz eine Schulbeziehung ein, die aber auseinanderbricht. Für Jules ist das schwer zu verkraften. Doch später kommen beide wieder zusammen …

    Zitat

    Seit ich aufs Internat gekommen war, hatten wir uns fast jeden Tag gesehen. Alva war meine Ersatzfamilie geworden und mir in vielerlei Hinsicht vertrauter als meine Geschwister oder meine Tante. Doch in den letzten Jahren hatte sie sich verändert. Noch immer gab es Momente, in dem ich ihr ein seltenes, unbeschwertes Lachen entlocken konnte oder in denen wir uns beim Musikhören ansahen und einfach wussten, was der andere gerade dachte. (79)

    Marty schafft das Abitur, geht auf die Universität und lernt dort seine zukünftige Frau namens Elena kennen. Marty ist eher ein trockener Typ, der sich wenig aus Gefühlen macht. Jules konfrontiert ihn mit der Frage, ob er Elena lieben würde, Marty weicht der Frage ein wenig aus, da er an keine Liebe glauben würde. Liebe sei „nur ein dummer literarischer Begriff, nur chemische Reaktionen“.

    Die Kinder mussten sich schon recht früh mit ernsten Themen befassen. Durch den tödlichen Unfall ihrer Eltern wurde ihnen recht bald der Tod bewusst, der auf einen Schlag Menschen, die sie lieben, hinwegraffen kann. Jules spricht von einigen Leuten, die gar nicht mal wissen würden, dass sie sterbliche Wesen seien, so selbstverständlich würden sie das Leben hinnehmen.

    Mich stimmte dies sehr nachdenklich, da auch mir solche Gedanken seit frühster Jugend recht vertraut sind.

    Die Jugend hatte Jules noch nicht überwunden, als er ein weiteres emotional schweres Ereignis, was seine Jugendliebe Alva betrifft, bei ihr zu Hause hinnehmen musste.

    Zitat

    Während ich die Treppen hinunterlief, verspürte ich einen unglaublichen Zorn. Ich hatte keine Lust mehr, nur ein Junge zu sein, ich wollte alles Jugendliche loswerden, ich hätte es aus mir herausgeprügelt, wenn ich gekonnt hätte. (103)

    Während Jules öfters mit seinem Schicksal hadert, geht Marty recht verstandesbetont mit seinem Leben um. Nicht nur einmal fühlten sich Liz und Jules vom Schicksal betrogen oder gar verraten. Marty dagegen:

    Zitat
    >>Nun ja. Es gibt kein Schicksal, genauso wenig wie es einen Gott gibt. Es gibt gar nicht oder nur uns Menschen, was in etwa dasselbe ist. Es ist also völlig absurd zu hadern. Tod ist Statistik, und die scheint momentan gegen uns zu sein, aber irgendwann, wenn alle Menschen um uns herum einschließlich mir selbst gestorben sind, wird sie sich wieder ausgeglichen haben, so einfach.<<

    Jules´ Leben nimmt immer wieder eine Wende ein, gut und weniger gut, gewollt oder vom Schicksal gelenkt. Manche schweren Themen scheinen sich aus der Kindheit zu wiederholen …

    Wie der Roman weitergeht, möchte ich nicht verraten. Aber er ist sehr vielversprechend. Zeigt, wie sich das Leben dieser Kinder im erwachsenen Alter weiter entwickeln wird. Der Autor lässt uns LeserInnen lange an dieser Familiengeschichte teilhaben, selbst noch Jahrzehnte später. Ich kann nur noch sagen, dass weiterhin jede Menge passieren wird ...

    Mein Fazit?

    Die ganze zeitlose und romanhafte Erzählung hatte etwas Tiefgründiges, in der man recht häufig mit Weisheit gesegnet wird. Viele traurige Szenen bekommt man, wie im richtigen Leben, zu lesen, die aber nicht alle hoffnungslos stimmen lassen ... Und der Buchtitel hält, was er verspricht ...

    Auch wenn Marty z. B. einen wirklich trockenen Menschentyp darstellt, nimmt sein Wesen in den reiferen Jahren mehr Empathie und Verständnis für das außergewöhnliche Leben seiner beiden Geschwister Jules und Liz ein. Das zeigt mir, dass der Mensch nicht festgelegt ist auf angeborene Charakterzüge und Erziehung. Das fand ich wunderbar.

    Teilen
  1. 5
    20. Apr 2016 

    It's wonderful, it's wonderful, it's wonderful

    Ja, ich habe es auch gelesen. "Vom Ende der Einsamkeit" von Benedict Wells. Es gibt kaum ein Buch, das mir momentan häufiger begegnet als dieses. Facebook und Co., Bloggerkollegen, Presse ... überall trifft man auf dieses Buch. Was soll ich also darüber schreiben, was nicht andere schon Dutzendmale geschrieben haben? Erschwerend kommt hinzu, dass ich mir keine einzige Notiz zu diesem Roman gemacht habe - nicht, weil es nichts dazu anzumerken gibt, sondern weil mich diese Geschichte komplett in ihren Bann gezogen hat. Da blieb keine Zeit und Lust für Notizen.

    Worum geht es in diesem Roman?
    Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte. (Quelle: Diogenes)

    Jules, Marty und Liz - drei Kinder, denen von einem Moment auf den anderen die Unbeschwertheit ihrer Kindheit geraubt wird. Der tödliche Unfall ihrer Eltern lässt das Leben der Kinder "an einer Weiche ankommen, falsch abbiegen". Seitdem "führen sie ein anderes, falsches Leben. Ein nicht korrigierbarer Fehler im System."
    Was wäre aus den Kindern geworden, wenn sie nicht diesen Schicksalsschlag erlitten hätten? Wären sie die Personen, die sie heute sind? Jules - still, in sich gekehrt, ziellos, fängt alles an - bringt nichts zu Ende, ein Träumer; Marty - der Erfolgstyp, übervernünftig, neurotisch, mit einer Höllenangst vor den Unwegbarkeiten, die das Leben mit sich bringt; Liz - sprunghaft, einzelgängerisch, fast schon selbstzerstörerisch, strebt ein Leben der Extreme an, mit Mittelmaß gibt sie sich nicht zufrieden.

    Die Geschichte wird aus der Sicht von Jules erzählt. Er vermittelt einen tiefen Einblick in sein Seelenleben. Über mehrere Jahrzehnte begleitet der Leser Jules und durchlebt dabei sämtliche Glücksmomente und Schicksalsschläge, die das Leben für Jules bereithält.
    Das Glück in seinem Leben ist trügerisch. Sobald Jules auf der Sonnenseite des Lebens steht, ziehen die ersten Regenwolken auf. Sein Glück ist nie von Dauer. Und einmal mehr wird einem bewusst, dass sich das Glück nicht festhalten lässt. Zum Leben gehören beide Facetten, sowohl Glück als auch Unglück.

    "Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall." (S. 299)

    Die Geschichte wird in leisen melancholischen Tönen erzählt. Diese Melancholie wirkt ansteckend. Sie stimmt nachdenklich, und bringt den Leser dazu, zwischendurch innezuhalten und das Gelesene zu reflektieren. Benedict Wells macht es dem Leser einfach, in diese Geschichte abzutauchen. Sein Sprachstil wirkt wunderschön mühelos. Durch ihre unaufdringliche Leichtigkeit rückt die Sprache in den Hintergrund und lässt der melancholischen Stimmung viel Raum zur Entfaltung. Nichtsdestotrotz stößt man immer wieder auf Beweise der hohen Sprachkunst von Benedict Wells, die dem Leser einige Zaubermomente bescheren.

    "Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgetellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu verweilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts." (S. 306)

    Ich habe dieses Buch gestern beendet und bekomme seitdem den Kopf nicht frei. Viel zu sehr beschäftigen mich die Gedanken, die dieser Roman bei mir hervorgerufen hat. Das Buch hat viele philosophische Ansätze. Folgende Fragen haben eine große Bedeutung für diesen Roman: Wäre man heute derselbe Mensch, wenn die eigene Kindheit anders verlaufen wäre? Gibt es etwas im Menschen, dass unveränderlich ist, egal, was einem im Leben widerfährt?
    Fragen, die sich nicht beantworten lassen, aber diesen Roman nachwirken lassen.

    "' ... Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast.'" (S. 185)

    "'Es ist ... Wir sind von Geburt an auf der Titanic. ... Was ich sagen will: Wir gehen unter, wir werden das hier nicht überleben, das ist bereits entschieden. Nichts kann das ändern. Aber wir können wählen, ob wir schreiend und panisch umherlaufen oder ob wir wie die Musiker sind, die tapfer und in Würde weiterspielen, obwohl das Schiff versinkt. ...'" (S. 339)

    Fazit:
    Ein berührendes und melancholisches Buch, erzählt mit einer Leichtigkeit, die dem Leser viel Raum zum Nachdenken lässt. Und das Schöne ist: Trotz aller Nachdenklichkeit und Melancholie hat dieses Buch einen hoffnungsvollen Schluss, so dass man als Leser mit einem positiven Gefühl und einem Lächeln wieder in den Alltag entlassen wird.
    Klare Leseempfehlung!

    © Renie

    Teilen
  1. Wundervoll geschilderte Lebensgeschichte

    Jules Moreau ist 11 Jahre alt, als seine Eltern tödlich verunglücken. Zusammen mit seinen beiden Geschwistern lebt er zukünftig in einem Internat, seiner Einsamkeit allein überlassen. Jules Lebensgeschichte zeigt, wie er versucht, das Schicksal zu überwinden und sich im Leben zurechtzufinden. Die Freundschaft mit Alva gibt ihm dabei Halt und zieht ihn gleichzeitig in ein Gefühlschaos.

    Benedict Wells zeichnet gefühlvoll und unaufdringlich die Lebensgeschichte von Jules über einen Zeitraum von 35 Jahren. Jules ist der Erzähler seiner eigenen Geschichte. Anhand von Jahreszahlen, die den Kapiteln vorangestellt werden, kann man sich gut orientieren. Zeitsprünge im Buch lassen dem Leser Zeit, eigene Gedanken zur Handlung zu entwickeln. Metaphern, wie ein immer wiederkehrender Baum mit abgesägten Ästen, sind ein besonderes Stilmittel. Man spürt beim Lesen, dass es sich um echte Gefühle handelt und möchte sich ganze Passagen herausstreichen, weil sie so wirklich sind.

    "Es war, als müsste ich für jdes Wort einen Spaten in einen gefrorenen Acker rammen."

    Der Zusammenhalt der Geschwister ist ganz deutlich zu spüren. Obwohl Liz, Marty und Jules im gleichen Internat leben, haben sie keinerlei Berührungspunkte, leben in unterschiedlichen Welten, gehen getrennte Wege. Ihr Schicksal verbindet sie trotzdem über all die Jahre und auch im Erwachsenenalter treffen sie sich immer wieder, um einander beizustehen.

    Ein zentrales Thema ist die Beziehung zwischen Jules und Alva. Eine leise Jugendfreundschaft, die geprägt durch Ängste und unausgesprochene Worte, sich nicht entfalten kann. Jules Verlustängste werden sehr deutlich herausgearbeitet. Er hat nie den Mut gehabt, sie für sich zu gewinnen, sondern nur Angst sie zu verlieren.

    "Einmal musste sie beim Lesen lachen, und da fühlte ich mich wie auf einer nächtlichen Straße, auf der schlagartig alle Laternen angegangen waren."

    "Ihre Bemerkung versank in mir wie ein Stein, den man in einen See fallen ließ".

    Schicksalschläge, Abschiede, Begegnungen und bewegende Szenen, die teilweise fast schon poetisch geschildert werden, skizzieren das Leben von Jules.

    Diese Geschichte benötigt Zeit, um Gedanken reflektieren zu können, begeistert mit einer wundervollen Stimmung und authentischen Schilderungen. Obwohl die Melancholie überwiegt, ist es ein sehr lebensbejahender Roman, der mich begeistert hat.

    Teilen
  1. 5
    06. Mär 2016 

    Das Leben ist kein Nullsummenspiel...

    Rück mit dem Stuhl heran
    Bis an den Rand des Abgrunds
    Dann erzähl ich Dir meine Geschichte.
    (F. Scott Fitzgerald)

    Dieses Zitat ist dem Roman vorangestellt - und ist gewissermaßen auch als Aufforderung an den Leser zu verstehen. Denn man muss bereit sein, sich ganz dicht an den Rand des Abgrunds zu begeben, um der Geschichte lauschen zu können - manchmal sogar noch ein wenig über den Rand hinaus.

    Jules Moreau ist es, den der Leser durch die Geschichte über einige Dekaden hinweg begleitet - ihn und die Menschen, die in seinem Leben von Bedeutung sind. Der Roman handelt von Jules und seinen beiden Geschwistern, die ihre Eltern früh durch einen Unfall verlieren, und wie dieses Ereignis sie für ihr weiteres Leben prägt und verändert. Mit elf Jahren bereits kommt Jules mit seinem Bruder und seiner Schwester in ein Internat, wo sich ihre Wege sogleich trennen - jedes der drei Kinder geht auf seine ganz eigene Weise mit dem Verlust der Eltern um. Und für Jules beginnt so ein Weg der Einsamkeit, ständig mit dem Gefühl verhaftet, dass dies nicht sein wahres Leben ist.

    "...und tief in mir spürte ich, dass das alles ohnehin nicht mein wahres Leben war. Dass ich es noch immer mit jenem, in dem meine Eltern noch lebten, tauschen würde. Dieser Gedanke kam mir immer wieder, er war wie ein in meine Seele gewebter Fluch." (S. 151)

    Einzig in seiner Schulkameradin Alva entdeckt Jules während seiner Internatszeit eine Art Seelenverwandtschaft, einen Spiegel von Verlust, Einsamkeit und Trauer, dem Wissen hinter dem Sein. Eine unverbrüchlich scheinende Freundschaft, die mit dem Abitur jedoch jäh ein Ende findet. Etliche Jahre später erst ein vorsichtiger erneuter Kontakt, brüchig und unsicher, schließlich ein langer Besuch, der eine Entscheidung bringen wird, ob sie an die alte Freundschaft anknüpfen werden können. Und dazwischen immer wieder Begegnungen zwischen Jules und seinen beiden Geschwistern, die nach dem Auseinanderdriften der Wege in der Zeit nach dem Tod der Eltern inzwischen zu sicheren Polen im Leben von Jules geworden sind. Jeder scheint seinen festen Platz im Leben gefunden zu haben, allen Schicksalsschlägen zum Trotz - und doch: nichts ist sicher und von Dauer.

    "Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldt einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall." (S. 299)

    Eine leise Erzählung ist es, die Benedict Wells hier präsentiert - und gleichzeitig eine Geschichte wie ein reißender Fluss. Denn man wird hier unweigerlich hineingezogen in die Strudel der Gefühle, die der gerade mal 31 Jahre alte Schrifsteller so anschaulich und verdichtet schildert, dass die Grenzen zwischen Gelesenem und Erlebtem verschwimmen und verschwinden. Derart berührt hat mich lange kein Buch, und allein das Wissen, dass es wie hier gelingen kann, Gefühle in einer solchen Intensität zu Papier zu bringen, treibt mir gleich wieder die Tränen in die Augen.

    Dabei ist der Roman zu keiner Zeit gefühlsduselig oder kitschig, ganz im Gegenteil. Der Leser hat Teil an Jules Gedankengängen und Gefühlen und stellt sich mit ihm den so elementaren Fragen des Lebens. Das Geschilderte wirkt unglaublich authentisch und nachvollziehbar, und natürlich ist es nicht allein die Geschichte, die den Leser derart berührt, sondern es sind die eigenen Erfahrungen im Leben, die eigenen Erinnerungen an Schmerz, Verlust und Trauer, die durch das, was der Autor Jules widerfahren lässt, an die Oberfläche kommen. Dadurch wird der Leser zum Teil der Geschichte, auch über den Rand des Abgrunds hinaus.

    "Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden." (S. 351)

    Trotz der melancholischen und poetischen Nuance der Erzählung bringt Benedict Wells durch seinen unverkrampften und flüssigen Schreibstil, der so selbstverständlich und nahezu mühelos wirkt, gleichzeitig eine fast leichte Note in die Geschichte. Von anfangs über 800 Seiten immer wieder reduziert, umfasst der Roman jetzt gerade einmal gut 350 Seiten. Mehrere Jahre lang hat Wells daran geschrieben und präsentiert hier nun die überaus eloquente Essenz.

    Wie er selbst in einem Interview schilderte, hat der 31Jährige kaum etwas von dem Beschriebenen selbst erlebt - aber die Gefühle hinter den Szenen sind echt: 'Ich nehme dieses Gefühl und schreibe dann eine Szene, in der etwas ganz anderes passiert.' Ohne Studium, ohne Ausbildung, hat Benedict Wells sich das Schreiben selbst beigebracht. 'Vom Ende der Einsamkeit' ist bereits der vierte Roman des Autors - und seinen Worten zufolge sein wichtigster. Im Laufe des jahrelangen Schreibens an diesem Roman ist Wells daran gewachsen: 'Ich musste der Schriftsteller werden, der dieses Buch schreiben kann.'

    "...und erst spät habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin. Ich bin es, wenn ich zulasse, dass meine Vergangenheit mich beeinflusst, und ich bin es umgekehrt genauso, wenn ich mich ihr widersetze. Und ich muss (...) begreifen: Dieses andere Leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins." (S. 337)

    Lange nicht mehr habe ich für ein Buch so lange zum Lesen gebraucht. Einerseits gab es immer wieder Szenen, die so eindrücklich waren, dass sie sich erst einmal setzen mussten, die eigene Gedankengänge anschoben und persönliche Erinnerungen an die Oberfläche geraten ließen. Das alles braucht seine Zeit. Andererseits aber ist dies auch einer der Romane, die mich wünschen ließen, dass er kein Ende finden möge. Selbst für die letzten sechs Seiten habe ich das Buch noch einmal zur Seite gelegt - einfach, um den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern.

    Eine fesselnde, berührende, traurige Geschichte, melancholisch und philosophisch, doch dabei ausgesprochen hoffnungsvoll und lebensbejahend. Und ich für meinen Teil habe einen neuen Lieblings-Schriftsteller - wie schön, dass ich ihn entdecken durfte!

    © Parden

    Teilen