Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre
„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)
Inhalt
Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)
Themen und Genre
In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.
Erzählform und Sprache
Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.
Fazit
„Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)
Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.
Kurzmeinung: Wenig Roman und viel Vorlesung!
In der Nähe von Nürnberg ist die großbürgerliche Schulmöbelfabrikantenfamilie Finck zuhause (Schul- und Büromöbel). Auch Faber-Castell hat dort seinen Sitz.
Irgendwann einmal, um 1935 haben sich die Fincks die mit ihnen konkurrierende Steinsche Firma, die die modernere Sparte an Sitzmöbeln fabrizierte, nämlich die fürs Büro und nicht für die Schule, unter den Nagel gerissen. Günstig erworben, einfach fusioniert, behaupten sie, indem sie mit dem preiswerten Firmenkauf der jüdischen Familie Stein sogar noch einen Gefallen taten, die emigrierten und die Firma ja nicht mitnehmen konnten. Ins Konzentrationslager etwa? fragt Nick, der rebellierende, erwachsene Sohn des Hauses, spöttisch. Nick Fink war immer schon etwas anders, hochbegabt und als Kind und Jugendlicher misstrauisch seinen Eltern gegenüber, (zunächst) kritiklos ergeben jedoch dem Großvater.
Nick ist die erzählende Kraft im Roman; dazu haben es auch andere Enkel-Großvaterpaare der Finckschen Dynastie der Autorin Monika Zeiner angetan. Anhand dieser Paarungen erzählt sie, chronologisch verzwickt, von den Fincks über die Jahrhunderte.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Mein Leseerlebnis war nach den ersten 100 Seiten schon extrem frustrierend und ist es bis Ende geblieben und das, obwohl die Autorin extrem gekonnt komponiert. Und formulieren kann sie natürlich auch sehr gut. Es gibt keine Phrasen in diesem Buch. Monika Zeiner ist schon eine geniale Schriftstellerin!
Doch. Monika Zeiner schreibt einen belehrenden Roman mit zahlreichen Bildungselementen, in welchem sich Nürnberger Reiseführersentenzen mit Monologen und Dialogen, die jedoch ebenfalls verkappte Monologe sind, über alles Deutsche und Deutschtümelndes abwechseln. Abhandlungen über Musik und Kunst, vor allem aber über Philosophie und Religion alterieren, wobei Christentumbashing viel mehr Wucht gegönnt wird als dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Es geht doch nichts über reine Theorie! Die Gesprächspartner von Nick und Nick selbst sind extrem entsetzt über die Abraham-Isaak-Fastopfergeschichte im Alten Testament und das viel mehr als über den Holocaust selbst. Schließlich kulminiert der Roman in einem zynischen Aufschrei über den Zeitgeist und dem Familienmotto: Tempora mutantur et nos mutamur illis.
"Als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu haben, haben wir Zwangsarbeiter gehabt, als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu entschädigen, haben wir Zwangsarbeiter entschädigt, als es Zeitgeist war, Juden zu enteignen, haben wir Juden enteignet, und jetzt, wo es Zeitgeist ist, die Enteignung von Juden von einer Historikerkommission wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, werden wir natürlich eine Historikerkommission einsetzen, die wir sogar von der Steuer absetzen können."
Monika Zeiner arbeitet sich am Christentum ab wie viele Schriftsteller, obwohl wir alle vom Grundgesetz der Republik Deutschland profitieren, das bekanntlich auf den Zehn Geboten gründet. Das Christentum, obwohl über die Jahrhunderte von vielen oft in sein krasses Gegenteil verzerrt wie alle Religionen und/oder Ideologien, das ist wahr - ist es jedoch nicht, das die Weltordnung momentan gefährdet! An zeitgemäße Islamkritik aber trauen sich die Schriftsteller nicht heran!
Was an deutscher Hochliteratur und -Kultur Rang und Namen, hat wird von Zeiner in ihren Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ eingepflegt, zitiert und stilistisch imitiert: insofern ist Villa Sternbald ein großer Roman, weil er einen großen Bogen schlägt und tatsächlich viel Bildung intus hat: Mit Eichendorff geht man durch die Natur, man erwandert die Nürnberger Umgebung, immerzu den Moritzberg im Blick, der Faustsche Osterspaziergang wird nachgestellt, man musiziert ähnlich wie die (Thomas)Mannschen Frauen inniglich, preußisches Pflichtgefühl hat Kants Imperativ im Blick, vaterländischer Gehorsam wird durch Erziehung und die Schulmöbel kolportiert, deutsches Liedgut verkörpert sich durch Franz Schubert, auch das gemeine Volkslied hat seinen Auftritt und stellt das natürliche deutsche arische Volk. Der versponnene Hölderlin und mit ihm die ganze Romantik, das Todesmotiv und das Nachtdunkel, der vergeistigte Heidegger, deutsche Sagen und heilige Legenden taumeln durch die Köpfe davon verängstigter Kinder und dienen den Abendgesellschaften als höhere Konversation. Luther darf auch nicht fehlen beziehungsweise seine Verteufelung und das in Abrede stellen der Errungenschaften der Reformation. Dass wir Luther die einheitliche deutsche Sprache zu verdanken haben, wird unter den Tisch fallen gelassen. Noch darf Schillern fehlen mit seinem Gegensatzpaar Pflicht versus Neigung. Der Wald. Der Werther. Man kann sie gar nicht alle aufzählen. Gedanken über die Nationen. Und überall ist der Antisemitismus zuhause im guten deutschen Reich, manchmal offen zutage tretend und oft verborgen - den man zu Recht und für wahr anprangern muss und niemals damit aufhören bitte. Aber.
„Villa Sternbald oder die Unschärfe der Jahre“ ist vor allem und in erster Linie ein dozierender Bildungsbürgertumroman per se, wie ich lange keinen mehr gelesen habe bis hin zur Läuterung des Protagonisten – aber das zieht sich!
Monika Zeiner lässt ihre Figuren über Descartes, Horkheimer und Adorno reflektieren, wann begann die Erziehung, wurde Gott wirklich abgeschafft, wie hängen Unterwerfung, Autorität, Ordnung und Freiheit zusammen und sind die Menschenrechte nicht auch nur eine Definition, eigentlich eine rein koloniale Erfindung der Weißen? Humanismus, Absolutismus, Weltgeist – so geht es Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Die Protagonisten sind bloße Plattform fürs Zeiners Vorlesungen beziehungsweise derer Interpretationen. Todlangweilig ist das. Und widersprechen kann man auch nicht, wenn man anderer Meinung ist und ich bin oft anderer Meinung!
Eine Figuren-Entwicklung dagegen gibt es kaum und bei aller gelehrten Theorie und Reflexion ist die Handlungsebene armselig. Daran ändern weder ein Silvestermaskenball etwas noch ein paar amouröse Verfehlungen noch die Rückgriffe und Erinnerungen in die jeweilige Jugend der männlichen Linie, noch eine schlussendliche Umkehr bzw. ganz klassische Läuterung. Das Dozieren, Reflektieren und monologisierende Einarbeiten (hauptsächlich) deutscher Literatur und Philosophie nimmt viel zu viel Raum ein. Ein bisschen Dramatik gibt es in den Schlusskapiteln, verpufft jedoch alsbald. Schade.
Fazit: Hauptsächlich dozierend und belehrend! Gestelzte Gespräche sind regelrechte Miniabhandlungen mit vielen Kulturelementen, von Wagner über Goethe und die Bibel bis Kant. Dazu Christentumbashing aufs Feinste und Nürnberger Sightseeing plus Abrechnung bezüglich der Nichtaufarbeitung der NS-Zeit: Dies durchaus berechtigt – aber so? Es ist ein Roman fürs Bildungsbürgertum und fürs Feuilleton – ziemlich abgehoben, an einer Familiendynastie entlanggearbeitet. Überhaupt nicht mein Fall, obwohl ich die Kunstfertigkeit der Autorin nicht in Abrede stelle! Bestimmt gewinnt dieser Roman Preise. Und trotzdem: ich mag ihn nicht.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman
Verlag, Dtv, 2024
Aufarbeitung einer bewegten Familienvergangenheit mit Längen
Auf einer Anhöhe in Gründlach steht die Villa Sternbald, der Sitz der Unternehmerfamilie Finck. Erbaut hatte die stattliche Villa der Gründer der „Schulmöbelfabriken Finck“ Ferry Finck, der mit seiner Columba Schulbank 1897 auf der Erfindermesse in Paris die große Goldmedaille erhalten hat.
Zum 103. Geburtstag des Großvaters Henry kehrt Nikolas Fink in sein Elternhaus zurück. Aus einem Wochenende wird ein Jahr, in dem Nikolaus seine Familiengeschichte neu aufrollt. Eine Gelegenheit, die bewegte Vergangenheit der Familie, besonders die Fincksche Rolle während des Nationalsozialismus, zu erzählen ergibt sich, als Dr. Achaz beauftragt wird, für das bevorstehende 125jährigen Firmenjubiläum die Ausstellung zur Unternehmensgeschichte zu planen.
Meine persönlichen Leseeindrücke
„Villa Sternbald“ ist eine voluminöse Geschichte über die aus Franken stammende Kaufmannfamilie Finck, die seit der Wilhelminischen Kaiserzeit Schulmöbel herstellt. Zeitlich umfasst der Roman weit gefasste Jahrzehnte und reicht bis 2014, in dem das 125jährige Bestehen gefeiert werden soll.
Im Zentrum der Familiensaga steht der phantasiebegabte Erzähler Nikolas Finck mit seinen verschwimmenden, keinesfalls chronologisch, sondern anekdotisch springenden Erinnerungen an seine Kindheit und Jugendzeit. Der heute 42jährige, mäßig erfolgreiche Drehbuchautor, gibt sich philosophisch, fast schon prüde elitär, und ist doch unfähig, die öffentliche und einem Unternehmersproß würdige Form zu waren. Hinter ihm liegt eine jahrzehntelange Abarbeitung an der eigenen Familie, die in seinem Suizidversuch endete. Schuld daran sucht er in der Rolle der Finckschen Familie während des Nationalsozialismus, die kein gutes Licht auf die nach außen hin gut bürgerliche Erfolgsfamilie wirft.
Anfangs finde ich den etwas verrückten Nikolas sympathisch und kann seiner Familiengeschichte einiges abgewinnen. Ich finde sie niveauvoll geschrieben. Wenngleich die philosophische-theologischen Dialoge, Abhandlungen und Traktate durchaus interessant sind, empfinde ich sie mit der Zeit sehr belehrend. Sie verlangsamen meinen Lesefluss, ziehen die eigentliche Romanhandlung, die Sicht auf die Unternehmerdynastie Finck, unnötig in die Länge. Eine um etliche Seiten kürzere Fassung hätten dem Roman besser gestanden.
Nach 2/3 des Romans, der an die 650 Seiten füllt, fehlt mir der Kick, der meinen Lesewillen bei Laune hält. Nikolas Finck verlangt mir immer mehr ab. Dieser Zyniker, ewige Nörgler und Kritiker, für den ich am Anfang Verständnis aufbringen kann, verspielt sich mit seinem flegelhaften Auftreten meine Sympathie. Die einzelnen Erinnerungsbilder sind weiterhin wirklich schön und gut, doch nun zieht Langeweile ein und ich möchte auch endlich bei Nikolas Finck eine Wendung erleben.
Schlussendlich flüchtet er in seiner Lebensunfähigkeit in die Phantasiewelt des Spielens. Einzig sein liebevoller Neffe Johannes hat sich in meinem Herzen mit seiner kindlich reinen Seele einen Platz erobert.
Interessant ist Zeiners Entscheidung, vor allem männliche Romanfiguren in den Handlungen hervorzuheben, sie als tragende Säulen der Familiengeschichte einzubauen und bewusst die Unternehmensfrauen im Hintergrund zu halten und ihnen nur oberflächliche Rollen zuzuweisen.
Fazit
„Villa Sternbald“ erzählt eine Familiengeschichte über 5 Generationen, voller Unglück und Zweifel, wirtschaftlichem Erfolg, schwerer Vergangenheit und angepasster Wahrheit. 650 Seiten wollen gefüllt werden. Zeiner versucht mit einem gepflegten Schreibstil eine geschichtliche Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte zu bieten, doch ziehen ihre philosophisch-theologischen Ausführungen, deren Zusammenhang mit der Familiengeschichte mir nicht immer begreiflich sind, das Buch unnütz in die Länge.
3,5 Sterne abgerundet