Verlassene Nester: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Verlassene Nester: Roman' von Patricia Hempel
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3 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Verlassene Nester: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
Verlag: Tropen
EAN:9783608502237

Rezensionen zu "Verlassene Nester: Roman"

  1. Nach dem Verschwinden der Schlechtwetterfrau

    Es ist Sommer 1992 im Planort an der Elbe im Gebiet der ehemaligen DDR, wo Pilly Jäckel mit ihrem Vater Martin lebt. Die Mutter der 13-Jährigen ist schon vor der Wende verschwunden, der Vater flüchtet sich in den Alkohol. Die Teenagerin versucht, die Zuneigung der älteren Schulkameradin Katja zu gewinnen, die jedoch lieber mit einem Jungen anbändelt. Doch das soll nicht Pillys einziges Problem bleiben…

    „Verlassene Nester“ ist ein Roman von Patricia Hempel.

    Untergliedert in drei Teile und insgesamt 27 Kapitel, umspannt die Geschichte mehrere Monate. Erzählt wird nicht nur in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Pilly, sondern auch aus weiteren Perspektiven, von denen die eine oder andere entbehrlich gewesen wäre.

    In sprachlicher Hinsicht hat der Roman seine Stärken. Die anschaulichen Naturbeschreibungen sind besonders gelungen. Kreative Wortschöpfungen stechen hervor. Zudem fallen immer wieder starke Bilder auf. Andererseits haben sich mir spezifisch ostdeutsche Begriffe teilweise nicht aus dem Kontext erschlossen.

    Das Personal ist ein wenig zu umfangreich. Zu Beginn fiel es mir nicht leicht, die verschiedenen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander zu sortieren. Im Fokus steht Pilly, eine durchaus realitätsnahe und interessante Figur, die mir allerdings bis zum Schluss ein bisschen fremd blieb.

    Was die Themen angeht, wirkt der Roman ebenfalls überfrachtet. Es geht um Rassismus, Aspekte des Erwachsenwerdens, wirtschaftlichen Niedergang, Suchterkrankungen, Flucht, Stasi, Gentrifizierung und vieles mehr. Einiges wird bloß angerissen, sodass der Eindruck entsteht, dass die Autorin möglichst viele Themen unterbringen wollte.

    Auf den knapp 300 Seiten nimmt die Geschichte nur sehr langsam Fahrt auf. Später wird die Handlung deutlich unterhaltsamer und turbulenter. Sie bietet sogar Überraschungen. Der Schluss hat mich dennoch etwas enttäuscht, da einige Fragen offen bleiben und manche lose Fäden nicht wieder aufgegriffen werden.

    Sowohl das Cover als auch der mehrdeutige Titel sind auf positive Weise ungewöhnlich. Sie passen sehr gut zur Geschichte.

    Mein Fazit:
    Mit „Verlassene Nester“ hat mich Patricia Hempel leider nicht komplett überzeugt. Die Geschichte hält interessante Themen und Ideen bereit, lässt aber zu viele Leerstellen.

  1. Empfehlung nur für Menschen mit Vorwissen über die DDR

    Ich habe mich sehr darauf gefreut, das Buch "Verlassene Nester" von Patricia Hempel zu lesen und gemeinsam mit anderen in einer Leserunde zu diskutieren. Über die Leserunde bin ich sehr froh, denn sonst wäre mir das Weiterlesen noch schwerer gefallen, als das eh schon der Fall ist.

    Mein Hintergrund: ich sehe mich durchaus als sehr gebildet und vielfältig interessiert an, bin allerdings aus Österreich und habe kein umfangreiches Vorwissen über die DDR und die Wendezeit. Gerne hätte ich mehr darüber gelernt. Andere Bücher zu diesem Thema haben es schon geschafft, mein Wissen und Verständnis für diese spezielle Zeit zu vertiefen. Von "Verlassene Nester" habe ich mich aber tatsächlich beim Lesen oft verlassen gefühlt. Das Buch ist voll mit Andeutungen in Bezug auf die DDR-Zeit, die aber meistens so unklar bleiben, dass sie sich allein durch das Lesen, ohne zusätzliche Gespräche oder Nachgoogeln, nicht erschließen. Das hat mich immer wieder aus dem Lesefluss herausgerissen, weil ich einfach verwirrt war und nicht verstanden habe, worum es geht. Dazu möchte ich sagen, dass ich seit vielen Jahren unzählige Bücher aus den verschiedensten Kulturkreisen und Zeitepochen lese, und den meisten gelingt es, neuartige Konzepte wesentlich besser bzw. überhaupt zu erklären, entweder eingebettet in die jeweilige Geschichte oder mit Fußnoten oder einem Glossar. Das ist bei diesem Buch nicht der Fall, hier habe ich das Gefühl, ich hätte Brücken zwischen meinem Vorwissen und der Geschichte gebraucht, die mir von diesem Buch aber leider nicht gebaut wurden. Deshalb kann ich es nur Lesenden mit umfangreicherem DDR-Vorwissen, als ich das habe, empfehlen, und das auch nur unter Vorbehalt.

    Das Buch verspricht, die Atmosphäre in der Zeit nach der Wende spürbar werden zu lassen. Das gelingt teilweise, aber eben eher, wie oben beschrieben, für Lesende, die schon einiges darüber wissen. Die Charaktere, die im Buch vorkommen, sind überwiegend unsympathisch und nicht empathisch bis richtig manipulativ und gemein gegenüber unterlegenen und schwächeren (jüngeren Kindern, Tieren, schüchterneren Kindern,..), das gilt insbesondere für die beschriebenen drei jugendlichen Mädchen. Wenn ich aus diesem Buch also etwas über die Jugendlichen, die die DDR hervorgebracht hat, herauslesen möchte, dann zeichnet das kein positives Bild. Es kommen also nur relativ wenige Menschen vor, mit denen man sich beim Lesen einigermaßen identifizieren und mitfühlen kann. Ein "schönes" Buch war es zum Lesen also nicht, und aufgrund oben erwähnter Unzulänglichkeiten auch keines, das mich auf emotionaler oder historischer Ebene weitergebracht und gebildet hätte.

    2,5 Sterne, die ich hier auf 3 aufrunde, aufgrund der durchaus interessanten Sprache mit guten Metaphern und vereinzelten Einblicken in eine grundsätzlich sehr interessante Zeit. Dadurch, dass ich das Buch gemeinsam mit anderen hier gelesen habe, habe ich durchaus etwas für mich daraus mitnehmen können. Ich bin aber insgesamt froh, es nun hinter mir lassen zu können. Schade darum.

  1. Von fehlenden Müttern und einem untergegangenen Staat

    Die 13-jährige Pilly wächst Anfang der 1990er-Jahre irgendwo in der Nähe von Magdeburg im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet auf. Die DDR spukt den Menschen noch in den Köpfen herum, während Industriebauten brach liegen und Investoren aus dem Westen schon bereitstehen. Wie soll man da erwachsen werden, wenn die Mutter verschwunden ist und der Vater ein passionierter Trinker? Als Pilly Anschluss an die etwas älteren Freundinnen Katja und Bine findet, spürt sie endlich so etwas wie Nähe. Gerade bei Katja fühlt sie sich geborgen. Aber wird das Mädchen die Gefühle erwidern?

    Über zarte queere Liebe, die Probleme des Erwachsenwerdens und einen untergegangenen Staat schreibt Patricia Hempel in ihrem zweiten Roman „Verlassene Nester“, der bei Tropen erschienen ist. Er beginnt wie ein typischer Coming-of-Age-Roman mit jugendlich-sexualisierten Machtspielchen, Tierquälereien und ähnlichen Dingen, die man wohl schon hundertfach gelesen hat. Das Besondere an „Verlassene Nester“ ist eher das Setting. Und tatsächlich ist dieses Setting mit seinen Beschreibungen auch die Stärke des Romans.

    Denn Patricia Hempel gelingt es immer wieder, die verlassenen Nester des Ortes atmosphärisch in Szene zu setzen. In einem besonders bemerkenswerten Moment blickt Pilly beispielsweise an einem verregneten Tag auf ihre Umgebung, die von einer gewissen Trostlosigkeit, aber auch Melancholie überzogen wird. Industrieromantik at its best. Dazu passt dann auch der sachliche, bisweilen etwas nüchterne Ton der Sprache.

    Schnell klar wird auch die Mehrdeutigkeit des gelungenen Buchtitels. Nicht nur die Menschen verlassen ihren Ort, auch die Mädchen werden langsam erwachsen. Zudem gibt es zahlreiche Anspielungen auf Vögel, da eine zentrale Figur – die von fast allen als Stasispitzel geächtete Frau Klinge – eine große Naturliebhaberin und Kennerin der Verhaltensweisen der Vögel ist. Doch diese Frau Klinge ist vor allem für Pilly und ihren Vater Martin mehr, springt sie doch an den Nachmittagen als eine Art Ersatzmutter ein, da Pillys Mutter selbst das Nest schon vor langer Zeit verlassen hat.

    Die Schwäche des Buches ist letztlich die Erzählstruktur. Hempel verheddert sich in ihren zahlreichen Perspektiv- und Erzählstimmenwechseln und der Unmenge an Einzelthemen, die sie in die knapp 300 Seiten packen möchte. Da sind Pillys queere Gefühle, da ist ihr lesbisches Tantenpaar, das kurz vor dem Verkauf ihres einst so beliebten Hexengartens steht, da ist ein Brandanschlag in einer Datscha, in der Vietnames:innen leben, da sind Verdächtigungen und Spitzeleien, da sind die Alkoholprobleme Martins und das Rätsel um das Verschwinden von Pillys Mutter, da ist generell das zentrale Thema der Mutterschaft und den überall fehlenden Mutterfiguren, das dem Roman letztlich seine Struktur geben könnte. Macht es aber nicht, weil Hempel keinen der Erzählstränge auserzählt, plötzlich Figuren einführt, die der Leserschaft unbekannt bis völlig egal sind und am Ende auf eine dem Roman unangemessen hohe Prise Dramatik setzt.

    Und auch die Figuren bleiben eher blass, selbst Protagonistin Pilly, die sich im gesamten Roman eigentlich kaum entwickelt. Am interessantesten ist da noch die Figur ihres Vaters Martin, der trotz seiner Alkoholprobleme und seiner Zweifel an der Vaterschaft immer wieder sein Bestes versucht, um Pilly ein guter Vater zu sein – und doch gnadenlos scheitert.

    So bleibt „Verlassene Nester“ insgesamt ein eher unbefriedigender Versuch, die gesellschaftliche Relevanz eines untergegangenen Staates mit der Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens zu vereinen, wie es beispielsweise Anne Rabe in „Die Möglichkeit von Glück“ deutlich besser gelang. Schade, denn gerade im Mittelteil blitzt das Potenzial des Romans immer wieder auf.