Vati: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Vati: Roman' von Monika Helfer
4.5
4.5 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vati: Roman"

Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. „Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.“

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783446269170

Rezensionen zu "Vati: Roman"

  1. Die Abwesenheit des Vaters

    Nachdem sich Monika Helfer im letzten Jahr in "Die Bagage" vornehmlich mit ihrer Großmutter Maria befasste, widmet sie den zweiten Teil ihres autobiografischen Projekts vor allem Vater Josef. Der wollte von seinen Kindern "Vati" genannt werden, weil es so modern klinge, erfahren wir gleich zu Beginn des Romans. Alles andere als modern ist das Buch selbst - muss es aber auch nicht, denn erneut trifft Monika Helfer in ihrer unsentimentalen und dennoch sehr berührenden Geschichte die richtigen Töne.

    Der Sprachstil unterscheidet sich erwartungsgemäß dabei nicht von der "Bagage", fast meinte man, die beiden Romane hätten aufgrund ihrer Kürze durchaus auch in ein Buch gepasst. Die Sätze sind meist kurz, manchmal lakonisch, immer wieder angereichert mit Anekdoten aus der Kindheit und der Gegenwart der Autorin. Zusammen fügen sich diese Anekdoten zu einem stimmigen Bild und einem überzeugenden Roman.

    Die größte Überraschung für mich war, dass die Figuren in "Vati" den Leser:innen nicht so nahe kommen wie in der "Bagage", und das obwohl Monika Helfer diesmal eigentlich viel näher dran sein sollte an der Nachkriegs-Generation ihres Vaters und ihrer Mutter. Vielleicht ist es auch eine bewusst gesetzte Grenze, denn den Schmerz über die lange andauernde Abwesenheit des Vaters ist dem Roman trotzdem fast in jeder Zeile anzumerken. Mal fehlt er nach einem missglückten Suizidversuch, mal wegen der Trauer um die verstorbene Ehefrau. Und selbst wenn er anwesend ist, wirkt er nicht immer präsent und spricht nicht besonders viel mit seinen Kindern. Dennoch ist die besondere Verbindung Monika Helfers zu ihrem Vater zu spüren, die sich nicht allein durch die gemeinsame Liebe für die Bücher und Literatur definiert.

    Unweigerlich vergleicht man "Vati" und "Die Bagage" miteinander, weil sich die Bücher so ähneln, auch wenn es vielleicht nicht ganz gerecht ist. Und während ich mich in der "Bagage" vor allem mit Monika Helfers Onkel Lorenz, in dem Buch noch als Kind auftretend, identifizieren konnte und in ihm eine unglaublich schillernde und spannende Figur erkannte, fehlte mir diese Figur in "Vati" ein wenig. Lorenz selbst darf auch nochmal auftreten, trägt aber erstaunlich wenig zur Handlung bei.

    So komme ich zu dem Schluss, dass mich "Die Bagage" insgesamt noch ein Stückchen mehr berührt und mitgerissen hat, obwohl dies sicherlich Klagen auf hohem Niveau sind. Unbestritten ist jedoch, dass auch "Vati" äußerst lesenswert ist und mit seinem recht unerwarteten, fast schon abrupten Ende die Türen für den dritten Teil, der sich wohl um Bruder Richard drehen soll, weit aufstößt.

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  1. 4
    02. Jul 2021 

    Familiengeschichte...

    Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. „Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.“

    Erster Satz: "Wir sagten Vati - er wollte es so."

    Erneut widmet sich Monika Helfer mit diesem Roman ihrer eigenen Familiengeschichte. Während "Die Bagage" sich mit den Großeltern mütterlicherseits beschäftigte, wendet sie sich hier ihren Eltern zu und dabei, wie schon der Titel verrät, v.a. ihrem Vater.

    Diesmal kann die Autorin auch auf eigene Erinnerungen zurückgreifen, ergänzt diese aber durch Anmerkungen ihrer Schwestern sowie der zahlreichen Geschwister ihrer Mutter und deren Kinder. Ein Puzzle breitet Monika Helfer hier aus, wobei nach und nach ein Bild entsteht, bei dem die verschiedenen Versionen abgeglichen und eingefügt werden. Und man erhält hier ein sprödes, unprätentiöses Bild von einem Leben in Armut, von einer Wortkargheit, aber auch von einer großen Liebe zwischen dem Vater und der Mutter - bis diese stirbt.

    Dieser Roman stellt einen Versuch dar, sich einer Person zu nähern, die zeitlebens unnahbar blieb - trotz kleiner Gesten der Zuneigung und des Wohlwollens. Wohlwollend ist auch die Annäherung der Autorin, die Betrachtung der Eltern, der Versuch des Verstehens - auch wenn eigene Verletzungen dabei offenkundig werden.

    Der Ton der Erzählung gerät oft leicht melancholisch - weniger aufgrund der nicht immer einfachen Lebensumstände, sondern eher deshalb, weil deutlich wird, dass auch innerhalb einer Familie jeder Einzelne in einer Einsamkeit gefangen ist. Wie gut kennt man einen anderen wirklich? Bleibt das Gegenüber nicht immer ein pixeliges Bild aus einzelnen Mosaiksteinen?

    Für Monika Helfer ist das Bild ihres Vaters sicher deutlicher als es das für den Leser / die Leserin sein kann. Bei mir hat sich der Eindruck eines kleine, zarten, dunkelhaarigen, fast asiatisch anmutenden Mannes festgesetzt, der wenig Worte verloren hat, seine eigenen Wurzeln verleugnete, kriegsversehrt durch die Liebe zur Mutter der Autorin neuen Lebensmut gewann und diesen erneut verlor, als die Mutter starb. Eine große Liebe zu den Büchern kennzeichnete ihn, ebenso wie der ungelebte Traum vom Beruf eines Chemikers.

    Ich mag die langsame Erzählweise der Autorin, den eingängigen und einfachen Schreibstil, der vieles zwischen den Zeilen mitschwingen lässt. Der große Wunsch Monika Helfers, eines Tages ihren eigenen Namen auf einem Buchdeckel zu lesen, ist jedenfalls ein weiteres Mal in Erfüllung gegangen. Und berührend der Stolz, den der Vater empfunden hat, als sie ihm ihr erstes eigenes Buch mitbrachte, das sogleich in die Regalreihe bedeutender Autoren einsortiert wurde.

    Eine Annäherung an die eigene Familiengeschichte, die ich erneut gern gelesen habe...

    © Parden

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  1. Tief berührende Familiengeschichte

    Nach dem vielgelobten Roman „Bagage", in dem die österreichische Autorin Monika Helfer die bewegende Familiengeschichte ihrer aus einem ärmlichen Vorarlberger Bergdorf stammenden Mutter und Großeltern zu Zeiten des 1. Weltkriegs erzählt, hat sie mit „Vati“ nun einen weiteren Erinnerungsroman geschrieben, der eine gelungene Fortführung von „Bagage“ darstellt, aber auch ohne Vorkenntnisse problemlos zu lesen ist.
    In ihrer bemerkenswerten autofiktionalen Geschichte widmet sich Monika Helfer der Lebensgeschichte ihres Vaters Josef Helfer und den Erinnerungen an ihre eigenen Familiengeschichte.
    In sehr einfühlsam und eindringlich erzählten Episoden fügt sie die unterschiedlichsten Erinnerungsfragmente zu einem berührenden Portrait ihres Vaters zusammen, das jedoch eine faszinierende und glaubwürdige Annäherung an seine vielschichte Persönlichkeit mit vielen Unschärfen und Leerstellen bleibt. Allmählich lernen wir einen sehr eigenwilligen und doch faszinierenden Menschen kennen, voller Rätsel und Widersprüche, wortkarg und unnahbar. Als Kriegsversehrter ist er aus dem 2. Weltkrieg mit nur einem Bein zurückgekehrt, heiratet die ihn pflegende, resolute Krankenschwester Grete und statt seinen ehrgeizigen Traum von einem naturwissenschaftlichen Studium zu realisieren, lebt er mit seiner kleinen Familie in den Nachkriegsjahren als Verwalter eines Kriegsversehrtenerholungsheims in den Bergen. Ein idyllischer Zufluchtsort wird dies für die Familie und den Vater, der hier ungestört seiner großen Liebe für schöne Bücher nachgehen kann, und doch durch eine fatale Fehlentscheidung alles zerstört.
    Gekonnt greift die Autorin in Rückblenden immer wieder in „Bagage“ erzählte Begebenheiten auf, lässt die vermeintlich unbeschwerte Nachkriegszeit lebendig werden und lässt zudem einige Anekdoten aus der jüngeren Vergangenheit mit einfließen.
    Mit faszinierender Leichtigkeit und voller Herzenswärme trägt die Autorin die verschiedenen Facetten dieses Mannes zusammen, erzählt über seine Herkunft, Verletzlichkeiten, Passionen, kleinen Fluchten und Unzulänglichkeiten.
    „Vati“ lässt er sich von seinen Kindern nennen, da es modern klinge und doch vermittelt uns die Autorin von ihm ein eher traditionelles Vaterbild, das doch recht typisch für jene Zeit ist – traumatisiert von Kriegserlebnissen, geprägt durch seiner Erziehung und Herkunft, gefangen in unüberwindbaren Umständen, die keine Träume zulassen, und hineingepresst in eine Rolle, aus der er sich bisweilen zu befreien versteht. Schonungslos und doch ohne jede Anklage schildert sie schließlich das schmerzvolle Abwenden des Vaters nach dem frühen Krebstod der geliebten Mutter, den unaufhaltsamen Verfall der Familie und konfrontiert uns mit seiner unverständlichen Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern.
    FAZIT
    Ein tief berührender, wundervoll warmherzig erzählter Erinnerungsroman, der tiefe Einblicke in Helfers persönliche Familiengeschichte gewährt. Ein feines, ganz besonderes Leseerlebnis!

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  1. Mehr wahr als erfunden

    Der Vater war ein kleiner Mann mit einer großen Liebe zu Büchern. Aus dem Krieg kehrte er verletzt zurück, ein Bein wurde ihm angenommen Fortan lebte er mit einer Beinprothese. Im Lazarett lernte er Grete kenne. Mit ihr gründete er eine Familie, leitete ein Kriegsversehrtenheim. Gretes Tod warf ihn aus der Bahn, die Kinder wurden in der Verwandtschaft verteilt.
    Eines dieser Kinder ist die Vorarlberger Schriftstellerin Monika Helfer. „Vati“ ist ein Erinnerungsbuch, eine Annäherung an den Vater, eine Entfernung von der kindlichen Sicht.

    „Alles kriegt seinen Namen erst hinterher – was Kindheit ist, was Kompliziertheit, Blödsinn, Ruhe, Undurchsichtigkeit…“

    Einige Jahre nach dem Tod des Vaters befragte die Autorin die Stiefmutter, lässt sich von den vielen Geschwistern der früh verstorbenen Mutter erzählen. Monika Helfer hat sich Zeit gelassen, mit ihren Erinnerungen, gewartet mit dem Buch, dass niemand mehr da ist, den sie verärgern könnte.

    „Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt man, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen.“

    Monika Helfer beschreibt ihre Kindheit, in der es einen mächtigen Einschnitt gibt. Aufgewachsen ist sie auf der Tschengla, einem Hochplateau in Vorarlberg, dem „Paradies“, in dem Kriegsversehrtenheim, das der Vater leitete. Nach dem Tod der Mutter ist auch der Vater fort, unfähig sich um seine Kinder zu kümmern.

    Bei allem was die Autorin erzählt, wertet sie nicht, beschreibt, liefert Bruchstücke eines Lebens in sehr einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen. Immer wieder kommt sie auf die große Liebe des Vaters zu Büchern zu sprechen. Bücher waren ein Heiligtum. Um eine Bibliothek zu retten, setzt der Vater einiges aufs Spiel. Die junge Monika verspürte damals den heftigen Wunsch, einmal ihren Namen auf einem Buchrücken zu sehen. Sogar der zukünftige Schwiegersohn musste beim Vater den richtigen Eindruck machen, wie er denn ein Buch zur Hand nimmt.

    Auf wenigen Seiten schafft die Autorin ein feinfühliges Portrait der Nachkriegszeit. Wie es so ist mit dem Erinnern kommt sie auch vom damals ins heute. Auch die eigene Trauer um ihre viel zu früh verstorbene Tochter lässt sie spüren. Sie wiegt behutsam autobiografische Nähe und erzählerische Distanz ab. Ein ständiges Bemühen, nichts verloren gehen zu lassen. Ein Roman, mehr wahr als erfunden.

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  1. Mein Vater, der Leser...

    Auf ein Wiedersehen mit der Bagage hatte ich mich schon sehr gefreut, weshalb ich direkt mit der Lektüre startete und wieder kurzweilig und gut unterhalten wurde.

    In der Geschichte geht es dieses Mal um die Eltern der Autorin, vorzugsweise um ihren Vater, der während des Krieges ein Bein verlor und vernarrt in Bücher ist.

    Monika Helfer ist als Ich- Erzählerin unterwegs und beschreibt wie sie die Zeit in der Familie erlebt hat und lässt auch ihre Schwestern zu Wort kommen.

    Schön war zu lesen, dass sich das Leben der Nachfolgegeneration der Bagage etwas verbessert hat und dennoch werden schnell große Unterschiede zu heute klar. Da erscheint trotz der Verletzten das Kriegsversehrtenheim wirklich der schönste Ort gewesen zu sein, mitten in der Idylle und viel Platz.

    Sympathisch war mir der Vater in jedem Fall, teile ich doch seine enorme Leidenschaft für Bücher. Das ist kein Gebrauchsgegenstand, sondern das Zuhause von Figuren, die wir lieb gewinnen.

    Die Paarbeziehung der Eltern empfand ich als tragisch und gleichzeitig so echt. Einfach gut, dass hier nichts geschönt wurde seitens der Autorin, denn genauso ist nun mal die Liebe und das Leben.

    Schön fand ich auch das Wiedersehen mit den Kindern aus "Die Bagage", nur das jetzt alle erwachsen sind und ihren eigenen Weg gehen, sofern sie dies denn umgesetzt bekommen.

    Der nüchterne Schreibstil Helfers trägt dazu bei, dass allein die Familie im Fokus steht, fast so als würde man mittels Zielfernrohr drauf schauen, um ja nichts zu verpassen.

    Fazit: Steht seinem Vorgänger in nichts nach. Ich habe mich wieder gut unterhalten gefühlt. Gern spreche ich eine Empfehlung aus.

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  1. Die Familiengeschichte geht weiter

    In hohem Alter erzählte Tante Kathe der Nichte Monika Helfer die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits mit der Auflage, sie erst nach ihrem Tod für einen Roman zu verwenden. Unter dem Titel Die Bagage war er eines meiner Lese-Highlights 2020. Die bitterarmen Lebensverhältnisse, in denen die Familie Moosburger als verachtete „Bagage“ im hintersten Bregenzerwald lebte, und das Schicksal ihrer Mutter Grete als vermeintliches Kuckuckskind erzählte Monika Helfer äußerst knapp, mit Unschärfen, ohne Dramatisierung oder Pathos und ebenso lebendig wie elegant.

    In ihrem neuen Roman, Vati, steht nun ihr Vater Josef im Mittelpunkt. Man muss den Vorgängerband nicht kennen, da alle notwendigen Informationen kurz zusammengefasst werden, trotzdem macht es mit Vorkenntnissen noch mehr Spaß. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, so viele „alte Bekannte“ wiederzutreffen.

    Anders ist bei diesem neuen Buch das Schöpfen aus eigenen Erinnerungen. Darüber hinaus hat Monika Helfer ihre Stiefmutter befragt – und auf deren Wunsch bis nach ihrem Tod mit dem Schreiben gewartet – und eigene Erinnerungen mit denen ihrer beiden Schwestern verglichen.

    Auf und ab
    Die Lebensumstände ihres Vaters als unehelich geborener Sohn einer Magd im Lungau waren ähnlich prekär wie die der Mutter. Allerdings nahm sich ein Pfarrer des begabten Jungen an und sorgte dafür, dass er in Salzburg Aufnahme ins Gymnasium und Schülerwohnheim fand. Schon damals fiel seine ungewöhnliche Liebe zu Büchern auf, die ihn ein Leben lang begleitete.

    Ein halbes Jahr vor der Matura erhielt er die Einberufung und verlor in Russland ein halbes Bein und viele Hoffnungen. Weder über seine Kindheit noch über den Krieg sprach der Vater, eher schon, wie er im Lazarett die Mutter kennenlernte. Völlig mittellos lebten die beiden zunächst bei der „Bagage“.

    Ab 1955 leitete der Vater das Kriegsversehrtenheim auf der Tschengla, rückblickend ein Paradies für die 1947 geborene zweite Tochter Monika Helfer. Fast wäre ihm seine rücksichtslose Büchersucht dort zum Verhängnis geworden. Als das Unglück abgewendet war, starb die zeitlebens zurückgezogene, den Alltagsanforderungen nicht gewachsene Mutter und Monika Helfer kam mit ihrer älteren Schwester Gretel und der jüngeren Renate zur Tante Kathe:

    "Ohne Mutti ist ohne Würde. Sie konnte nicht kochen, aber sie war unsere Würde. Natürlich wusste ich damals nicht, was dieses Wort bedeutete, aber heute weiß ich es. Alle wissen: Die Gretel und ich sind noch dazu nur untergestellt bei den Armen, wir sind sogar noch ärmer als die Armen, die Ärmsten der Armen sind unsere Wohltäter." (S. 109)

    Immer wieder greift die „Bagage“ ohne viele Worte bei größter Not ein:

    "Tante Kathe sagte: „Es geht niemand verloren.“ Diesen Satz habe ich später sehr oft von ihr gehört." (S. 111)

    Zuletzt vermitteln sie dem Vater sogar eine neue Frau und eine Stelle. Die vier Kinder bekommen wieder ein Zuhause:

    "Das waren trotz allem schöne Abende. Das Paradies waren sie nicht, das war oben, 1220 Meter über dem Meer, für uns nicht mehr erreichbar." (S. 117)

    Große Literatur auf nur 172 Seiten
    Es ist bei weitem nicht nur die anrührende Lebensgeschichte des Vaters, die Monika Helfer „mehr wahr als unwahr“ (S. 9) in puzzleartigen Versatzstücken erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte bis zur Gegenwart und eine Reflexion über das Schreiben und Erinnern, letzteres am greifbarsten in der Übergangsphase zwischen Wachsein und Schlaf. Vor allem aber ist es wieder ein großes Stück Literatur.

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  1. 5
    26. Jan 2021 

    Leise Annäherung an den Vater

    Monika Helfers Roman „ Die Bagage“ war im vergangenen Jahr sehr erfolgreich, hochgelobt von der Kritik, geliebt von den Lesern. Darin erzählt sie die Geschichte der Großeltern mütterlicherseits. Nun hat sie mit „ Vati“ ihre Familiengeschichte weitergeschrieben.
    Zehn Jahre nach dem Tod des Vaters nähert sie sich ihm auf literarische Weise an. Dabei soll „ mehr wahr als erfunden sein“. Sie greift hier auf die eigenen Erinnerungen zurück und befragt noch lebende Verwandte, so z.B. ihre Schwester und ihre Stiefmutter.
    „ Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.“ Wohl wollte er damit auch seine eigene Vergangenheit hinter sich lassen.
    Wie die „ Bagage“ stammt er ebenfalls aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Er war das ledige Kind einer Magd, von dem jeder wusste - aber darüber schwieg- dass der Bauer sein Vater war. Josef war ein sehr kluges, wissbegieriges Kind; er konnte bei Schuleintritt schon lesen und schreiben. Die Honoratioren im Ort ermöglichten ihm den Besuch des Gymnasiums. Doch kurz vor der Matura kam der Einberufungsbefehl. Josef kam nach Russland und holte sich dort solche Erfrierungen, dass ein Bein amputiert werden musste.
    Im Lazarett lernte er eine resolute, junge Frau kennen, die ihm , dem Schüchternen, einen Heiratsantrag machte. Die beiden heiraten und bekamen vier Kinder; Monika ist die zweitälteste Tochter.
    Bald begannen glückliche Jahre für die junge Familie. Zwar kann Josef seinen Traum, Chemiker zu werden, nicht verwirklichen, doch er bekam eine Stelle als Verwalter eines Kriegsopfer- Erholungsheims auf der Tschengla, in Vorarlberg. Das Leben hier oben, auf 1225 Metern Höhe , inmitten der wunderbaren Berglandschaft, war für Monika und ihre Geschwister das Paradies.
    Doch sollten sie bald wieder daraus vertrieben werden. Einige Schicksalsschläge trafen die Familie, der schlimmste davon war der frühe Krebstod der Mutter.
    Den Vater warf das völlig aus der Bahn, „ er verliert den Tritt“.
    Die Kinder wurden auseinandergerissen und bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Die hatten zwar wenig Platz und Geld, aber „ die Bagage lässt die Ihren nicht im Stich“.
    Doch es war keine leichte Zeit für die Kinder, ohne Mutter, ohne Vater, nirgends zugehörig. Und niemand sprach mit ihnen über das Geschehene.
    Trotzdem heißt es am Ende : „ Wir alle haben uns sehr bemüht.“
    Monika Helfer nähert sich behutsam ihrem Vater. Alle seine Geheimnisse kennt sie nicht, will sie auch nicht kennen. „ Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt man, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen.“
    Über seine Kriegstraumata hat der Vater nie gesprochen, doch was er mit seiner Tochter geteilt hat, was sie sicher auch geprägt hat, war die große Liebe ihres Vaters zu Büchern. „ Er wollte alle Bücher lesen.“ „Aber lesen war ihm nicht genug. Lesen war ihm sein Leben lang nicht genug.“ „ Heilig war ihm das Buch.“ „ Er wollte ein Buch nicht nur lesen, er wollte es besitzen.“
    In schöner Erinnerung sind der Autorin die „ berühmten Vorlesestunden“ des Vaters, der Inbegriff von Gemütlichkeit.
    Als Monika Helfer 18 Jahre alt war, antwortet sie auf seine Frage, was sie sich vom Leben wünsche: „ Ich wünsche mir, dass irgendwann auf einem Buchrücken mein Name steht.“
    Und heute noch sitzt ihr der Vater beim Schreiben als Korrektor im Nacken; seine Stimme zwingt sie, die Dinge präzise und klar auszudrücken.
    Monika Helfer schreibt auch hier wieder in ihrem ganz besonderen Stil: reduziert, verdichtet, manches kommt ganz einfach daher. So läuft sie nie Gefahr, sentimental oder pathetisch zu werden. Gerade dadurch berührt und fesselt sie den Leser. Sie versteht es, mit ganz wenigen Worten Wesentliches auszudrücken.
    Monika Helfer erzählt nicht chronologisch, sondern fügt Ereignisse und Episoden kunstvoll zusammen, schlägt den Bogen in die Gegenwart und reflektiert immer wieder über das Schreiben und das Erinnern.
    Neben der zentralen Vaterfigur wird auch die große Verwandtschaft lebendig, die vielen Onkels und Tanten mit ihren Besonderheiten.
    Einzig die Mutter, eine stille Frau, die mehr mit den Tieren spricht als mit den Menschen, bleibt etwas blass. „ Sie ist wie ein flüchtiger Vogel. Kaum ist sie da, schon ist sie wieder weg.“
    Monika Helfers „ Vati“ hat die gleiche literarische Qualität wie das Vorgängerbuch. Und man muss „ Die Bagage“ nicht kennen, um „ Vati“ zu lesen und zu verstehen. Aber man wird sie kennenlernen wollen nach der Lektüre von „ Vati“.

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  1. Beeindruckende Familiengeschichte aus der Nachkriegszeit

    Monika Helfer legt mit „Vati“ ihren zweiten biografischen Roman vor. Während im Zentrum des ersten Romans „Die Bagage“ die Herkunftsfamilie ihrer Mutter steht, nähert sie sich in „Vati“ ihrem Vater an. Sie greift dabei nicht nur auf eigene (Kindheits-)Erinnerungen zurück, sondern ergänzt sie um die Perspektiven der Schwestern, der Stiefmutter oder anderer Verwandter, wodurch sich am Ende ein stimmige Annäherung an das Leben des Vater ergibt, das naturgemäß eng mit dem Leben der Tochter verbunden ist.

    Die Autorin erzählt nicht chronologisch. Die Haupthandlung wird immer wieder von kleinen Erinnerungssplittern, Episoden, Gesprächen und Reflexionen unterbrochen. Trotzdem verliert Helfer nie den roten Faden, sondern kehrt zu ihrer Kerngeschichte zurück. Wunderbar, dass sie den Anschluss an die Figuren aus der Bagage findet, so dass der Leser beider Romane schnell die Verwandtschaftsverhältnisse wieder im Blick hat. „Vati“ ist aber auch ohne Kenntnis des Vorgängerromans gut lesbar und verständlich.

    Der Vater war das ledige Kind einer Bauernmagd. „Die Familie des Ärmsten war besser dran als mein Vater und seine Mutter“ (S. 11) Der Junge wurde mit einem überdurchschnittlichen Verstand gesegnet, konnte schon vor Schulbeginn lesen und schreiben. Mit ein bisschen Glück und Protektion gelingt der Schritt aufs Gymnasium, doch kurz vor der Matura muss Josef in den Krieg, wo er ein Bein verliert. Im Spital lernt er Krankenschwester Gretel kennen. Beide gründen eine Familie, Monika wird eines von insgesamt vier Kindern und deren zweite Tochter sein.

    Was sich nun anschließt, ist die Nachkriegsgeschichte einer Familie, die einiges an Schicksalsschlägen zu verwinden hat. Monika Helfer beschreibt ihre eigene Kindheit. Es gab glückliche Zeiten, als ihr Vater Leiter eines Kriegsopfererholungsheims in den Bergen auf der Tschengla war. Der Vater liebte den Wald, verehrte Bücher: „Ihm war sein ganzes Leben hindurch der Gegenstand ebenso wichtig wie der Inhalt. Das ist untertrieben. Heilig war ihm das Buch.“ (S. 21) Eine Liebe, die er an die Tochter weitergibt und deren Ziel es sein wird, ihren eigenen Namen einst auf einem Buchrücken lesen zu können. Es geht im Roman aber auch um Monikas Mutter, die wenig mit Menschen spricht, sondern häufiger mit den Tieren. Eine Mutter, die sich nicht um das Notwendige kümmert (das macht Tante Irma), die zwar präsent und doch irgendwie flüchtig erscheint.

    Die Familie wird von Krankheit und Tod heimgesucht, die unbeschwerte Zeit auf der Tschengla findet ein jähes Ende und die Verhältnisse ändern sich vollkommen. Die vier Geschwister werden vor große Herausforderungen gestellt… Es ist große schriftstellerische Kunst, wie sich Monika Helfer als Erwachsene dem selbst Erlebten annähert, wie sie versucht, für die Eltern und besonders für den Vater Verständnis aufzubringen, warum er so gehandelt hat, wie er es tat.

    Monika Helfer schreibt in kurzen, verdichteten Sätzen, die relativ nüchtern wirken, oftmals aber gerade durch ihre vermeintliche Schlichtheit große Resonanz beim Leser erzeugen: „Ich kann mich an die Vorlesestunden erinnern, nicht deutlich, aber hätte ich Worte gehabt, auch ich hätte gesagt: Das ist Glück. Dieses Wort, so will mir scheinen, kommt erst vor, wenn bereits das Gegenteil eingetreten ist. Dann erinnert man sich daran, wie es vorher gewesen war.“ (S. 55)

    Die Autorin erzeugt Gefühl und Empathie, ohne große Emotionalität oder Sentimentalität zuzulassen. Das gelingt ihr auch durch eine Position aus der Distanz heraus: Sie schildert, aber sie (be)wertet nicht. Manch einen Satz muss man erst einmal wirken lassen, vieles bleibt ungesagt und steht zwischen den Zeilen: „Schon fast am Ende des Krieges war er (Ferdinand) eingezogen worden. Und wurde gleich zusammengeschossen und lag im Dreck, und ein Kriegsfahrzeug fuhr ihm über das Bein und ein nächstes über den Arm. Als er zurückkam, konnte er mit nichts mehr etwas anfangen…“ (S. 50) So wenige Worte für ein ganzes Schicksal!

    Bildhaft werden Umgebungen, Gegenstände und Menschen beschrieben, wie sie sie als Kind wahrgenommen hat. Dabei werden alle Sinne angesprochen. Auch die verschiedenen Mitglieder der Großfamilie haben ihre Schwächen und sind völlig heterogene Typen. Wenn es aber hart auf hart kommt, wird Rat gehalten und man hält felsenfest zusammen. Das hat schon etwas sehr Imponierendes. Die Bagage hilft einander in der Not, ist füreinander da. Bei aller Tragik, die der kleine Roman verströmt, hat diese Erkenntnis etwas ungemein Tröstliches: Familie muss zusammenhalten, in guten wie in schlechten Zeiten.

    „Vati“ ist ein überaus lesenswerter Roman, der mich von den ersten Seiten gefesselt hat. Der Sprachstil Helfers ist wunderbar. Das Buch lädt gewiss zu einer zweiten Lektüre ein und eignet sich bestens für Diskussionsrunden und Lesekreise. Große Empfehlung!

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  1. Wo ist Vati?

    Nachdem sie in "Die Bagage" bereits die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits aufgearbeitet hat, widmet sich Monika Helfer nun ihrem Vater. Dieser, vom Krieg versehrt, leitet ein Kriegserholungsheim in den Bergen, in welchem er auch mit seiner Familie lebt. Nach und nach erzählt Helfer vom Zusammenleben mit ihrem "Vati", wie er stets genannt werden will, und seinen Eigenheiten. Er ist ein stiller Mann, sehr in sich zurückgezogen, seine Bücher und die kleine Bibliothek des Erholungsheimes bedeuten ihm viel.

    Darüber hinaus fällt es mir schwer, etwas über ihn zu sagen, denn während der ganzen Kindheit Helfers bleibt "Vati" vor allem eines - merkwürdig abwesend, stets irgendwie woanders. Die nüchterne Erzählweise und die betonte Neutralität darin, die anfangs noch mein Interesse weckten, bewirkten auf Dauer, dass mir alle Figuren seltsam fremd blieben, ich habe mich beim Lesen wie ein unbeteiligter Aussenstehender gefühlt, der zufällig kurze Episoden aus dem Leben Helfers und ihres Vaters beobachtet hat.

    Keine der Figuren hat wirklich meine Sympathie geweckt, zu groß war die Distanz, die hier über die sprachliche Ebene aufgebaut wurde. Auch die junge Monika erscheint eher als stumme Beobachterin anstatt als Tochter dessen, von dem das Buch handeln soll. Sie enthält sich nahezu jeglicher Wertung über das Verhalten ihrer Eltern und deren Geschwister, bis auf einige Ausnahmen erfährt man als Leser kaum etwas darüber, wie sie empfindet; ein wenig fühlt es sich an, als würde man einen Stummfilm schauen. Besonders aber "Vati" selbst ist eher passiv, obwohl im Mittelpunkt stehend, irgendwie abwesend - gerade die zweite Hälfte des Buches handelt weniger von ihm als vielmehr von seiner Abwesenheit. Und wie schreibt man ein Buch über jemanden, der nicht da ist?

    Die Geschichte tröpfelt von Seite zu Seite, ohne einen wirklichen Sog zu entwickeln, obwohl das Potential dahinter spürbar ist. Es gibt einige schöne Beschreibungen, einige Figuren wurden in groben Zügen durchaus interessant skizziert - mich störten die stets aufrechterhaltene Distanz und Sachlichkeit aber zu sehr.

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  1. Annäherung an den Vater

    Monika Helfer hat in ihrem autobiografischen Roman ihren Vater zum Mittelpunkt gemacht. Josef ist ein stiller Mann, der Krieg hat ihm viele Pläne zunichte gemacht und ein Bein genommen. Aber sein Streben „etwas zu werden“ glimmt immer weiter. Schließlich war er der erste seiner Familie der aufs Gymnasium konnte, doch kurz vor dem Abitur wurde er noch eingezogen. Geheiratet hat er die Krankenschwester, die ihn nach der Kriegsverletzung pflegte, eine stille, aber wohl glückliche Ehe aus der sechs Kinder hervorgingen.

    Vati und Mutti sollten die Kinder sagen, denn das klingt modern und die neue, moderne Zeit gilt etwas für Josef. Bücher liebte er, den Geruch, das Haptische, das Sinnliche daran. Das brachte ihn sogar einmal fast an den Rand der Legalität.

    Monika Helfer teilt ihre Erinnerungen mit uns, in kleinen Episoden und Anekdoten, in Rückblenden und Deutungsversuchen lässt sie die Nachkriegszeit, den beginnenden Wohlstand lebendig werden. Wo ihre Erinnerungen nicht reichen, teilen die Geschwister, die Stiefmutter ihre Gedanken mit.
    Daraus wurde ein schönes Buch, das mir richtig nahe ging, weil ganz unvermutet immer das Bild meines eigenen Vaters aufblitzte.

    Eine Hommage an den Vater und eine gelungene Fortsetzung zu Monika Helfers erstem autobiografischen Roman „Bagage“.

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