Unser Teil der Nacht: Roman

Rezensionen zu "Unser Teil der Nacht: Roman"

  1. Mann, Gott oder Teufel?

    Nun ist das dicke Buch fertiggelesen und es gibt keine Fragen mehr. Die letzten Seiten habe ich mehrmals gelesen, um zu verstehen, was passiert ist. Es bleibt wenig offen und dieses Wenige muss auch offen bleiben, denn die Geschichte entwickelt sich weiter. Ohne uns! Denn der Mensch darin entwickelt sich, er braucht Zeit und er lernt.

    Juan Peterson, das ist der Mann, um den sich hier alles dreht. Das Medium, das der geheime Orden haben wollte und brauchte, um sich für alle Ewigkeit die Unsterblichkeit zu sichern. Die Hüter des Geheimbundes kauften Juan bereits als Kind seinen Eltern ab. Der Vater war froh, die Verantwortung für den schwer herzkranken Jungen los zu sein. Die Mutter nicht.

    Ich habe mir den erwachsenen Juan immer ein wenig wie David Bowie vorgestellt, wie von einem anderen Stern, Frauen und Männer liebend und in jeder Beziehung außergewöhnlich talentiert. Und tatsächlich taucht ja der junge DB im Buch später leibhaftig auf und begegnet in London den Protagonisten.

    Juan hat noch einen etwas älteren Bruder: Luis, über den wir später mehr erfahren. Juan heiratet Rosario und geht damit eine unfreiwillige, aber bewusste Verbindung zu der schlimmsten Schwiegermutter ein, die man sich nur vorstellen kann. Mercedes ist das pure Böse, die selbst ernannte Chefin des weit verzweigten und unendlich reichen Geheimbundes.

    Ist Juan nun ein Gott, ist er begabt oder verflucht? „Die Götter verhalten sich immer wie die Menschen, die sie machen.“ (Seite 429) Auf jeden Fall ist Juan das stärkste Medium, dass der Orden jemals hatte. Er versucht oft, sich abzugrenzen und teilweise gelingt es ihm auch. Mit all seiner gewaltigen Macht versucht Juan seinen Sohn Gaspar zu schützen, damit ihn der Orden nicht in seine Fänge bekommt.

    Oft klingt die Schwermut einer Violeta Parra durch die Zeilen, die am Ende ihres Lebens „Gracias a la Vida“ komponiert und sich im Anschluss daran umgebracht hat.

    Bei der verstörenden Coverabbildung fehlen die Flügel, der Körper und die Umgebung des gefallenen Engels. Ein wenig vom Rest des Gemäldes lässt die Rückseite erkennen und das ist mir vorher – ehrlich gesagt – gar nicht aufgefallen, erst jetzt, wo ich mich mit dem Gemälde beschäftige.

    Dieses Buch hält überhaupt so viele Überraschungen bereit, dass man nicht in der Lage wäre, sie alle aufzuzählen, selbst wenn man Spoiler in Kauf nähme. Und es ist ja keineswegs ausgeschlossen, dass viele der Vorkommnisse im realen Leben auch so passieren (Woher weiß die Autorin das alles?), denn momentan ist ja das Satanische auf dem Vormarsch in unserer Welt und das Gegengewicht scheint zu fehlen oder nicht stark genug zu sein. (Ich hoffe, ich irre mich!)

    „Jedes Vermögen wird auf dem Leid anderer aufgebaut, und das unsere, auch wenn es auf einzigartige und ungewöhnliche Weise zustande kam, ist keine Ausnahme.“ (Zitat Rosario, Seite 438)

    Mein Fazit: Schreib noch ein paar Bücher, Mariana Enriquez, ich werde sie alle lesen, sogar auf Spanisch, wenn's sein muss. Und noch was, gibt's auch 10 Sterne?

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  1. Ein düsteres, gewaltiges literarisches Werk

    Schon lange habe ich mich nicht mehr in einer so düsteren, unheimlichen Geschichte regelrecht verfangen. Mit Ausnahme weniger Abschnitte im Mittelteil hat mich das Buch derart in seinen Bann gezogen, dass ich es nur schwer zur Seite legen konnte. Juan ist Mitglied in einem Geheimorden, der in okkultistischen Riten die dunklen Mächte anruft. Zum Orden gehören zwei der reichsten und dadurch einflussreichsten Familien in Argentinien. Besessen von der Suche nach dem ewigen Leben schrecken diese weder vor Folter noch vor Mord zurück. Juan, der als Kind aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten vom Geheimorden entdeckt wurde, möchte unter allen Umständen verhindern, dass sein Sohn das selbe Schicksal erleidet. Verzweifelt sucht er nach einem Ausweg und nach einer Möglichkeit, ihn zu schützen. Doch nicht nur vom Orden geht eine permanente Bedrohung aus: Kinder und Erwachsene verschwinden spurlos während der Zeit der Militärjunta. Mariana Enriquez verwebt die in ihrem mehr als 800 Seiten umfassenden Roman die Verbrechen während der Militärdikatatur mit denen des geheimen Ordens. Die Geschichte wird über insgesamt fast 40 Jahre (1960-1997) aus der Perspektive unterschiedlicher Protagonist:innen erzählt, wobei die Kernfamilie um Juan mit seiner Ehefrau Rosario und dem gemeinsamen Sohn Gaspar im Mittelpunkt steht. Vieles bleibt zu Beginn rätselhaft. Doch immer wieder fügen sich Einzelheiten zu einem großen Ganzen und Situationen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Selbst über den unbeschwerten Passagen lauert das Grauen und die Gefahr. Einige Szenen sind abscheulich und brutal - sie stechen durch den sehr bildlichen Schreibstil mitten ins Herz und sind schwer erträglich. Geschickt flicht die Autorin auch den Volksglauben, die Riten und die Mythologien der indigenen Bevölkerung in ihre Geschichte mit ein. Auch der menschenverachtende Umgang mit ihnen, ihre systhematische Ermordung und ihre Versklavung auf den Plantagen der Reichen werden thematisiert. Enriquez erzählt viele unterschiedliche Geschichten in einem von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen gezeichneten Land - doch immer gibt es Verbindungen, die mal deutlich mal vage zu Tage treten. Beim Lesen hatte ich das Gefühl im Kino zu sitzen und eingefangen von den Geschehnissen gebannt auf die Leinwand zu schauen. Diese sehr bedrohliche, dunkle aber auch atmosphärische Geschichte voller menschlicher Abgründe werde ich mit Sicherheit nicht mehr vergessen.

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