Und dann verschwand die Zeit: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Und dann verschwand die Zeit: Roman' von Jessie Greengrass
4.85
4.9 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Und dann verschwand die Zeit: Roman"

Auf einer Anhöhe abseits einer kleinen Stadt am Meer liegt das High House. Dort leben Grandy und seine Enkeltochter Sally sowie Caro und ihr Halbbruder Pauly. Das Haus verfügt über ein Gezeitenbecken und eine Mühle, einen Gemüsegarten und eine Scheune voller Vorräte – die Vier sind vorerst sicher vor dem steigenden Wasser, das die Stadt zu zerstören droht. Aber wie lange noch? Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly kommen im High House an, nachdem ihr Vater und ihre Stiefmutter, zwei Umweltforscher*innen, sie aufgefordert haben, London zu verlassen, um im höher gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. In ihrem neuen Zuhause, einem umgebauten Sommerhaus, das von Grandy und seiner Enkelin Sally betreut wird, lernen die Vier, miteinander zu leben. Doch das Leben ist anstrengend, besonders im Winter, die Vorräte sind begrenzt. Wie lange bietet das Haus noch die erhoffte Sicherheit? Ein atemberaubender, emotional präziser Roman über Elternschaft, Aufopferung, Liebe und das Überleben unter der Bedrohung der Auslöschung, der unter die Haut geht und zeigt, was auf dem Spiel steht.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
EAN:9783462001969

Rezensionen zu "Und dann verschwand die Zeit: Roman"

  1. 5
    12. Mär 2024 

    schwermütige Klima-Dystopie, grandios geschrieben

    Die Welt im Klimawandel, die Menschheit steht am Rande des sog. Kipppunktes und vier Personen haben sich in ein Haus, gelegen auf einer Anhöhe nahe eines Dorfes an der englischen Küste, gerettet. Es sind Grandy und seine Enkelin Sally, die zuvor ein idyllisches Cottage im Dorf bewohnt haben und Caro und ihr kleiner Halbbruder Pauly, die das mit Garten, Mühle, Gezeitentümpel und Generator versehene "Highhouse" bewohnen.

    Als Caro und ihr sechsjähriger Halbbruder aus der Stadt ins Highhouse übersiedeln, sind Stürme, Feuer, Dürren, gefolgt von Dauerregen und Überschwemmungen, also Dinge, die bislang nur die "Anderen" betrafen, in greifbare Nähe gerückt. Vom Highhouse aus beobachten die vier wie erst die Schwalben und schließlich auch die Feriengäste nicht mehr zurück kommen. Am Ende steht das Dorf leer und verlassen da. Man ist im Highhouse nur noch zu dritt, Sally, Caro und der mittlerweile junge Mann Pauly.

    Bislang gelang das Überleben durch die Selbstversorgung aus Erträgen des Gartens, mit den Hühnern und mit Generator einigermaßen, bis auch der monatliche Lieferwagen, der Dinge wie Zucker und Milch lieferte, nicht mehr kam. Nach einer verheerenden Sturmflut verleibt sich das Meer große Teile der Küste ein, Highhouse und seine Bewohner bleiben verschont.

    Wie sich die Geschichte auf das Endzeitszenario im Highhouse nach der eingetretenen Klimakatastrophe zu bewegt, wird in schwermütigen, beklemmenden Bildern vermittelt. Auch wie die Protagonisten mit der unaufhaltsamen Entwicklung umgehen, wird eindrucksvoll jeweils aus der Perspektive der Ich-Erzähler Sally, Caro und Pauly erzählt. Die Naturverbundenheit der Figuren wird durch wiedergegebene Tierbeobachtungen und malerische Landschaftsbeschreibungen deutlich. Doch der Roman handelt auch von Liebe, zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Geschwistern, von Verzweiflung, von Trauer und von Güte und schließlich vom Willen, zu überleben. So sagt Caro nach der eingetretenen Katastrophe:"...und obwohl ich immer noch Alpträume hatte, kann ich nicht behaupten, lieber tot zu sein. Ich wäre nicht lieber tot."

    Ein toller, eindrucksvoller Roman ! Ich vergebe 5 Sterne und eine große Leseempfehlung.

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  1. Eine bedrückende Dystopie

    Die Autorin Jessie Greengrass führt uns mit ihrer Dystopie in eine Welt, in welcher der Klimawandel für Dürren und Überschwemmungen, für extreme Hitze und ebensolche Kälte sorgt. Die Situation ist besorgniserregend und die Menschen sorgen sich. Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly werden von ihren Eltern, die Umweltwissenschaftler sind, aufgefordert, London zu verlassen und ins High House zu ziehen. Dort an der englischen Küste haben sie vorsorglich einen Rückzugsort geschaffen, der von Grandy und seine Enkeltochter Sally betreut wird. Grandy hat ein Leben lang im Einklang mit der Natur gelebt und daher großes Wissen darüber. High House ist höher gelegen und bestens ausgestattet, um zu überleben, wenn das steigende Wasser die Stadt überflutet. Doch wie lange sind sie dort sicher?

    Man kann den Klimawandel nicht mehr wegdiskutieren, die Auswirkungen treffen uns heute schon. Dieser Roman ist also sehr nahe an der Realität und das macht die Geschichte besonders beklemmend, denn sie zeigt uns, was uns droht. Andererseits ist sie von Anfang an spannend und packend.

    Erzählt wird aus der Perspektive von Caro, Sally und Pauly. Sally ist bei ihrem Großvater aufgewachsen und er hat sein Wissen an sie weitergegeben. Sie ist sehr praktisch veranlagt. Caro hat sich immer viel um ihren kleinen Bruder Pauly gekümmert, da ihre Eltern beruflich viel unterwegs waren. Pauly ist noch sehr jung und entsprechend naiv. Er nimmt alles so hin, wie es kommt. Grady ist alt und krank. Es ist nicht leicht für die Vier, so abgeschieden und autark zu leben mit der drohenden Katastrophe vor Augen.

    Dieser Roman regt zum Nachdenken an, was der Einzelne tun kann, wenn er mit den Gefahren solcher Katastrophen konfrontiert wird. Könnte ein solcher Zufluchtsort wirklich über Jahre Sicherheit bieten? Kann man im Voraus wirklich alle Notwendigkeiten bedenken?

    Mir hat dieser bedrückende Roman sehr gut gefallen, aber auch nachdenklich gestimmt.

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  1. 5
    30. Jul 2023 

    Man denkt, man hat noch Zeit .....

    „Man denkt, man hat noch Zeit. Und dann hat man plötzlich keine mehr.“

    Der Roman „Und dann verschwand die Zeit" der britischen Autorin Jessie Greengras ist eine Dystopie, die so unfassbar nah an der Realität ist, dass die Lektüre dieses Romans zwar fesselnd, aber auch mit einer gehörigen Portion Unbehagen verbunden ist. Es geht um eine Umweltkatastrophe, welche die logische Konsequenz des Klimawandels ist und das Leben auf der Erde gravierend verändern wird.
    Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten Sally, Caro und Paul, die in einer Zeit auf die Welt kommen, als der Klimawandel sich in Dürren, Überschwemmungen, ungewöhnlichen Hitze-und Kälteperioden zeigt und von der Öffentlichkeit mit Sorge beobachtet wird – also einer Zeit wie der Unsrigen. Doch die Konsequenzen der zerstörerischen Auswirkungen auf die Erde erscheinen zu abstrakt und in weiter Ferne, stellen also eher ein Problem für nachrückende Generationen dar. Es gibt nur wenige Menschen, die damit rechnen, dass eher heute als morgen der Umwelt-Super Gau eintreten könnte und ein Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, nicht mehr möglich sein wird.
    Zu ihnen gehören Francesca und ihr Mann. Beide sind weltweit bekannte Umweltaktivisten und Wissenschaftler. Sie haben zwei Kinder, Paul, der zu Beginn des Romans noch ein Kleinkind ist, und Teenagerin Caro. Da Francesa mit dem Schlimmsten rechnet, schafft sie einen Zufluchtsort an der englischen Küste und sorgt dafür, dass die Kinder dort unabhängig von der Außenwelt überleben können.
    An diesem Ort trifft das Geschwisterpaar auf Grandy und seine Enkeltochter Sally, die nicht von ungefähr von Francesca in diese Zweckgemeinschaft eingeplant wurden. Denn gerade der alte Grandy ist ein Mensch, der von klein auf im Einklang mit der Natur gelebt hat und dadurch ein unschätzbares Wissen über Flora und Fauna besitzt, genauso wie er in der Lage ist, auf die Zeichen der Natur zu achten. Diese Zweckgemeinschaft lebt also zusammen unter einem Dach in einem Ferienhaus, das den bezeichnenden Namen „High House“ trägt. Gemeinsam warten sie über Monate und Jahre auf den fürchterlichen Moment, der alles verändern wird.

    Dieser Roman konzentriert sich dabei nicht auf diesen einen Moment, sondern erzählt die Geschichte des Zusammenlebens, anfangs geprägt von Zweifeln an den Prophezeiungen, was die Zukunft der Erde betrifft. Doch je mehr sich das direkte Umfeld verändert - High House liegt abseits eines Feriendorfes, das aufgrund der zunehmenden klimatischen Veränderungen von seinen Bewohnern verlassen wird - umso mehr akzeptiert die Gemeinschaft ihr Schicksal.

    Sally, Caro und Paul sind die Ich-Erzähler dieses Romans. In unregelmäßigen Zeitabständen berichten sie von ihrem erzwungenen Zusammenleben, den Konflikten gerade in der Anfangszeit sowie den Schwierigkeiten, die das Leben auf begrenztem Raum und unter diesen besonderen Bedingungen mit sich bringt. Dabei stellen sich unterschiedliche Sichtweisen dar, die sich teils überschneiden, aber auch voneinander abweichen.

    „Und dann verschwand die Zeit“ ist kein reißerischer Katastrophenroman, mit dem sich die Autorin Jessie Greengrass moralisch über die Gesellschaft erhebt. Stattdessen entfaltet dieser Roman mit seiner atmosphärischen Stimmung und seiner unmittelbaren Nähe zur Realität eine sehr beklemmende Wirkung. Die Autorin konzentriert sich dabei auf eine simple Fragestellung, die aus der Floskel „Es ist fünf vor zwölf“ resultiert, welche immer wieder in Verbindung mit dem Klimaschutz herhalten muss. Was geschieht, wenn die Katastrophe früher als zwölf Uhr stattfindet und uns daher weniger als fünf Minuten zum Handeln verbleiben? Sind wir darauf vorbereitet?
    Dieser Roman wird mich durch sein eindringliches Szenario und intensiven Gedankenspiele, die er anregt, noch lange beschäftigen. Und ich hoffe, dass es vielen Lesern ebenso ergehen wird. Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. 4
    25. Jun 2023 

    Überleben - und dann?

    Auf einer Anhöhe abseits einer kleinen Stadt am Meer liegt das High House. Dort leben Grandy und seine Enkeltochter Sally sowie Caro und ihr Halbbruder Pauly. Das Haus verfügt über ein Gezeitenbecken und eine Mühle, einen Gemüsegarten und eine Scheune voller Vorräte – die Vier sind vorerst sicher vor dem steigenden Wasser, das die Stadt zu zerstören droht. Aber wie lange noch? Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly kommen im High House an, nachdem ihr Vater und ihre Stiefmutter, zwei Umweltforscher*innen, sie aufgefordert haben, London zu verlassen, um im höher gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. In ihrem neuen Zuhause, einem umgebauten Sommerhaus, das von Grandy und seiner Enkelin Sally betreut wird, lernen die Vier, miteinander zu leben. Doch das Leben ist anstrengend, besonders im Winter, die Vorräte sind begrenzt. Wie lange bietet das Haus noch die erhoffte Sicherheit? (Klappentext)

    Wow, ich stehe noch völlig unter dem Bann des Gelesenen, das mich bedrückt und emotional zurücklässt. Obschon es sich um einen (noch) dystopischen Roman handelt, schafft die Autorin hier ein Szenario, das sich leider nicht weit von unserer gegenwärtigen Realität entfernt anfühlt. Insofern ist dies ein unbequemer Roman, der die Folgen unseres Nichthandelns unnachgiebig vor Augen führt - die Rede ist von der drohenden Klimakatastrophe aufgrund der globalen Erwärmung und ihren Folgen.

    Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly leben in London, die Eltern in ihrer Funktion als Umweltforscher:in sind ständig weltweit unterwegs, um zu mahnen, aufzuzeigen und zu retten was noch zu retten ist. Doch v.a. Francesca, Caros Stiefmutter, hält angesichts der großen Dürren und Wasserknappheit auf der einen Seite sowie zunehmend heftigerer Stürme und Überschwemmungen auf der anderen im Grunde keine Chance mehr, die Folgen des menschlichen Handelns noch umzukehren. Dennoch sorgt sie gemeinsam mit ihrem Mann vor und baut ihr Sommerhaus am Meer um. Für Pauly und seine Schwester.

    Als der Vater die beiden schließlich anruft und sie wegschickt aus London, ahnen sie nichts von den Plänen ihrer Eltern. Doch Caro erfasst die Dringlichkeit der Bitte ihres Vaters und macht sich mit ihrem kleinen Halbbruder auf den Weg. Als sie in High House eintreffen, werden sie zu ihrer Überraschung schon erwartet. Sally und ihr Großvater Grandy sind dort bereits eingezogen, aufgrund der ausdrücklichen Bitte von Francesca. Denn diese wusste, dass Caro und Pauly Hilfe brauchen würden auf ihrem Weg hin zur Selbstversorgung, unumgänglich, sobald die Folgen der Klimakatastrophe auch Großbritannien erreichen würden.

    "Eine Arche zu bauen genügt nicht, man muss auch wissen, wie man sie steuert."

    Erzählt wird hier wechselnd aus drei verschiedenen Ich-Perspektiven: Caro, Sally und Pauly. Dabei hat Pauly, der zu Beginn der Erzählung noch sehr jung ist, einen vergleichsweise kleinen Anteil, rundet durch seine Erinnerungsschnipsel das Bild jedoch ab. Und es ist interessant zu verfolgen, wie die unterschiedlichen Charaktere ihre Lage beurteilen und empfinden. Caro und Sally bestreiten den Hauptteil der Erzählung, berichten auch von ihrer Kindheit und Jugend. Sally, aufgewachsen im Dorf bei ihrem Großvater, der immer alles selbst reparieren und sich weitesgehend selbst versorgen konnte mit seinem Wissen über Tierhaltung, Anbau von Gemüse, Obst und Getreide sowie Fischfang, übernimmt in High House meist die praktischen Dinge und geht die Aufgaben pragmatisch an. Caro, die immer schon eine Ersatzmutter für Pauly war, weil Francesca im Grunde nie da war, fühlt sich unwohl in der neuen Situation, erkennt aber, dass ihr keine andere Wahl bleibt. Allein schon um Pauly willen. Und Pauly nimmt zunächst mit seiner kindlichen Naivität den neuen Wohnort als gegeben hin, wächst allmählich aber auch in Aufgaben hinein und findet seinen Platz. Grandy schließlich hat keinen eigenen Erzählstrang, ist aber der wissende Ruhepol in ihrer Mitte. Doch Grandy ist alt...

    Und wie ergeht es den Vieren, immer allein miteinander ohne Kontakt zur Außenwelt? Welche Perspektiven sehen sie, welche Zukunftsgedanken hegen sie, welche Ängste brechen sich Bahn? Einsamkeit und harte Lebensbedingungen fordern zusehends ihren Tribut, ein Ausweg ist nicht zu sehen - auch nicht in Zukunft. Alltägliche Sorgen wie auch existentielle Fragen erhalten hier einen Raum, meist unaufgeregt und distanziert bis lakonisch geschildert, aber deshalb nicht weniger eindringlich. Auch wenn mir keine der Figuren - außer Grandy vielleicht - wirklich nahe kam, hat mich die Melancholie und Beklemmung der Situation immer mehr erfasst.

    Ich glaube, das Schlimmste für mich war die Tatsache, dass hier zwar die Folgen unseres menschlichen Handelns drakonisch vor Augen geführt werden, die Figuren selbst aber auch nicht hätten sagen können, was sie anders hätten machen können, abgesehen von politisch und wirtschaftlich einschneidenden Maßnahmen. Caro, Pauly und Sally haben dank Francescas Vorsorge überlebt. Doch die Frage drängt sich auf: ja, und dann?

    Ein wirklich eindringliches Leseerlebnis, das mich sicher noch weiter beschäftigen wird...

    © Parden

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  1. 5
    19. Jun 2023 

    Eine leise Dystopie, die umso lauter nachhallt

    Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens der Rezension aufgefallen, dass es sich hierbei um dieselbe Autorin handelt, sonst hätte ich vielleicht vorschnell die Finger von „Und dann verschwand die Zeit“ gelassen. Da hätte ich wirklich etwas verpasst!

    In ihrem aktuellen Roman entwirft die Autorin ein dystopisches Szenario, welches in der nahen Zukunft im Küstengebiet Großbritanniens angesiedelt ist. Gleich zu Beginn wird klar: das Meer hat sich die Küste hinauf gefressen und eine Flussmündung ist langfristig überflutet. Eine zusammengewürfelte Truppe versucht im „High House“, einem - schon dem Namen zu entnehmend - etwas erhöht liegendem Anwesen mit Garten, Wasserrad und Holzofen abgeschnitten vom Umland zu überleben. Dieses Szenario könnte man sich ganz leicht als apokalyptischen Blockbuster vorstellen, in dem sehr viel und vor allem sehr laut passiert. Aber so ist das Buch von Greengrass überhaupt nicht angelegt.

    Das Figurenensemble zum Beispiel besteht aus einem Halbgeschwisterpaar. Bei Eintreffen im High House, ist Caro noch keine 20 Jahre und ihr kleiner Halbbruder Pauly erst ca. vier Jahre alt. Sie musste schon früh eine mütterliche Rolle übernehmen, war doch die leibliche Mutter von Pauly schon vor den Ereignissen, die zur Übersiedlung ins High House geführt haben, mehr ab- als anwesend. Die Klimaforscherin schien mehr Interesse daran zu haben, die Welt vor der Klimakatastrophe zu schützen, als Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Als die beiden im High House ankommen, leben dort aber bereits zwei Personen. Die ungefähr Mitte 20jährige Sally und ihr Großvater Grandy. Nun müssen sich diese Menschen nicht nur mit den anstehenden Naturkatastrophen arrangieren sondern auch mit sich untereinander. Greengrass lässt dabei ihre Leserschaft tief in die Köpfe drei der Protagonisten eintauchen, indem sie im wechselnden Rhythmus Sally, Caro und Pauly als Ich-Erzähler:innen pro Kapitel einsetzt. Wir erfahren dadurch immer mehr, wie es zu dieser Ausnahmesituation gekommen ist und bleiben meist ganz nah an den persönlichen Erfahrungen der Protagonist:innen.

    Da sich die Autorin sowohl bezogen auf die Figuren aber auch das geografische Umfeld im Mikrobereich bewegt und gar nicht ein weltumfassendes Makrobild des Zustandes der Erde und der Menschheit entwirft (jedoch durchaus an der ein oder anderen Stelle erahnen lässt), bleibt der Roman stets sehr ruhig in seiner Erzählweise. Es müssen nicht immer die großen Dramen ausgepackt werden, um zu zeigen, was die Veränderung unserer Lebensbedingungen auf dieser Erde ganz konkret für einzelne Personen bedeuten kann. Sie präsentiert uns auch keine eindeutigen Heldenfiguren oder Bösewichte, vieles bleibt grau und diesig wie die Landschaft im Roman.

    Was mich zu einer weiteren Stärke dieses Romans führt: Die ruhigen ganz detaillierten Naturbeschreibungen der Autorin lassen ganz ohne Effekthascherei ein düsteres Bild der zukünftigen, und leider nicht mehr ganz so fernen, Lebensumstände für Flora und Fauna im Kopf der Leserschaft auferstehen. Durch Erzählstil, welcher nach und nach durch die Augen der verschiedenen Figuren diese Welt für die Lesenden sichtbar macht, wird man Stück für Stück in die düstere Atmosphäre eingesogen und kann sich nur sehr schwer daraus befreien.

    Wenn man schon gar nicht erst in dieser Szenerie landen möchte, die sich weit ab von romantisierten Selbstversorgungsfantasien bewegt, so bietet einem die Autorin auch keinen klaren Ausweg daraus an. Sie lässt vieles offen und behandelt letztlich auch die Frage, wie lebenswert ein Leben ist, wenn man eine Katastrophe zwar überlebt hat, dann aber auch irgendwie weiterleben muss. Den Themen nähert sich Greengrass sehr ruhig, was den Inhalt des Buches während und nach der Lektüre nicht weniger laut nachhallen lässt. Für mich ein absolut empfehlenswertes Lesehighlight, fernab von jedem Katastrophentourismus.

    „Man denkt, man hat noch Zeit. Und dann hat man plötzlich keine mehr.“

    5/5 Sterne

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  1. "Ich habe eine komplette Welt vergessen."

    Zur Autorin und zur Übersetzerin (Quelle: Verlag):

    Jessie Greengrass, geboren 1982, studierte Philosophie in Cambridge und London, wo sie heute noch lebt. Ihre Erzählungssammlung »An Account of the Decline of the Great Auk, According to One Who Saw It« wurde mit renommierten britischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit ihrem ersten Roman steht sie auf den Shortlists mehrerer Preise und gilt als eine der vielversprechendsten englischen Autorinnen..
    Andrea O’Brien, geboren 1967, übersetzt seit fast 20 Jahren zeitgenössische Literatur aus dem Englischen. Für ihre Übersetzungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Übersetzerstipendium des Freistaat Bayern und dem Literaturstipendium der Stadt München.

    Mein Lese-Eindruck:

    Was für ein beklemmendes Buch!
    Die Autorin erzählt von einer Dystopie, die eigentlich keine mehr ist. Das, was sie als Endzeitszenario schildert, gibt es bereits, und das macht die Lektüre so beklemmend: Dürren, Stürme, Starkregen, das Ansteigen des Meeresspiegels, Insektensterben, Migrationsbewegungen, Überschwemmungen und Waldbrände. Man denke nur an die momentanen heftigen Waldbrände in Kanada, deren Rauch das Leben in New York erschwert.

    Die Autorin geht nur einen winzigen Schritt weiter: die klimatischen Verhältnisse werden zur Katastrophe, und eine Art Sintflut bricht über England herein. Eine Klimaforscherin, die jahrelang mit ihrem Mann für den Klimaschutz gekämpft hat, erkennt die Erfolglosigkeit ihres Engagements und baut für die beiden Kinder der Familie eine Art Arche Noah: ein hochgelegenes Haus, das ehemalige Sommerhaus der Familie, wird ausgestattet mit allem, was das Überleben der Kinder auf Jahre hinaus sichern soll: vom Saatgut angefangen über Lego-Spielzeug für den kleinen Paul, Kleidung, Papier, Medikamente etc. bis hin zur autarken Strom- und Trinkwasserversorgung.
    Die Mutter sorgt auch dafür, dass ein pensionierter Hausmeister aus dem Nachbardorf und seine Enkelin in das Haus miteinziehen. Sie bringen handwerkliches und landwirtschaftliches Wissen mit und sichern damit ihr gemeinsames Überleben.

    Dieses Überleben ist alles andere als ein Ferienaufenthalt, sondern wird zunehmend geprägt von der täglichen Mühsal der Nahrungsbeschaffung und der Angst vor der Zukunft.

    Der Roman entwickelt keine Spannung, sondern lässt abwechselnd die drei jungen Menschen zu Wort kommen, die in verschiedenen Zeitebenen erzählen. Diese Mehrdimensionalität des Erzählens schafft ein breit gefächertes und eindrucksvolles Bild.
    In dieses Bild fügt die Autorin auch ethische Fragen ein: es geht um das Verhalten gegenüber Flüchtlingen, um das Recht des Stärkeren, und es geht auch um das Verhalten gegenüber einem Todkranken. Diese Fragen und andere werden sehr verhalten nur kurz gestreift, teilweise nur in Andeutungen formuliert– hier wäre ein längeres Verweilen gelegentlich sinnvoll gewesen.

    Insgesamt: ein beeindruckender Roman über eine Arche, die das Überleben sichert – aber wie lange? Und wofür?

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