Und dahinter das Meer
Dass während des Zweiten Weltkriegs deutsche Stadtkinder via Kinderlandverschickung in sogenannte „luftsichere Gebiete“ verbracht wurden, ist weitgehend bekannt. Neu für mich war die Tatsache, dass britische Kinder zu ihrer eigenen Sicherheit sogar nach Übersee geschickt wurden. Ein solches Kind ist die 11-jährige Beatrix, die 1940 mitten aus den Londoner Kriegswirren über den Ozean nach Maine in die USA verschifft wird, wo sie in Familie Gregory eine liebevolle Gastfamilie findet. Gastmutter Nancy hat sich schon immer eine Tochter gewünscht, die Söhne Gerald (9) und William (13) freuen sich über die neue Schwester und Vater Ethan lässt seine anfänglichen Zweifel in Bezug auf den Familienzuwachs schnell fahren. Die positive, dankbare Beatrix tut allen gut. Das Mädchen selbst fühlt sich schnell heimisch. Sie genießt das große, lichtdurchflutete Haus, das einen krassen Gegensatz zur engen Arbeiterwohnung in London bildet. Die Sommer verbringen die Gregorys regelmäßig in ihrem idyllischen Ferienhaus auf einer kleinen Insel an der Atlantikküste. Es sind insbesondere diese unbeschwerten, glücklichen Sommer, von denen Beatrix lebenslang zehrt. Es macht Freude, ihre diesbezüglichen Erlebnisse zu begleiten und man ist traurig, als Bea diesen Sehnsuchtsort bereits 1945 überraschend wieder verlassen muss, um erneut ins Unbekannte aufzubrechen, zumal sich zwischen ihr und William gerade eine zarte Liebe zu entspinnen beginnt.
Der Roman setzt sich aus drei chronologischen Teilen (1940-1945/ August 1951/ 1960 – 1965) zusammen, hinzu kommen ein Prolog (Oktober 1963) und ein Epilog (August 1977). Die Kapitel sind kurz und schildern wechselweise jeweils die Perspektiven verschiedener Figuren, was für eine differenzierte Darstellung der Charaktere sorgt. Man erfährt auf diese Weise viel über ihr Innenleben. Der Gegensatz zwischen dem Überlebenskampf im bombardierten Kriegs- und Nachkriegs- London zum friedvollen Leben der gut situierten Gregorys in den USA wird anhand vieler Beispiele deutlich. Zwischenmenschliche Spannungen, Konflikte, Sehnsüchte, Wünsche sowie verpasste Möglichkeiten der einzelnen Figuren werden herausgearbeitet. Diese Struktur macht den Roman ungemein kurzweilig. Als Leser hat man Sympathien und Antipathien schnell verteilt, man sollte sie im Verlauf des Romans jedoch wiederholt überprüfen.
Die Jahre in Maine prägen sowohl Bea als auch die Gregorys. Neben all das Schöne, was Bea dort erlebte, gesellt sich in der Heimat jedoch auch eine undefinierbare melancholische Traurigkeit, an die sie möglichst nicht rühren möchte. Transatlantische Besuche scheitern lange an den Kosten, Briefkontakte kommen nur unregelmäßig oder in großen Abständen zustande. Die innere Zerrissenheit Beas wird offensichtlich. Der Roman zeichnet den Werdegang der beiden Familien nach, zeigt Freud und Leid, beginnende und endende Beziehungen, Todesfälle, Schicksalsschläge und Geburten – alles, was ein Menschenleben ausmacht. Dabei lässt die Autorin bewusst Leerstellen, sie erzählt bei weitem nicht alles aus. Durch Zeitsprünge und Momentaufnahmen bleiben Lücken, die man sich selbst füllen darf. Auffallend dabei ist, dass sich die Charaktere im Lauf der Jahre verändern, manchmal auch sehr grundlegend. Das kann irritieren, man muss die Geschichte unbedingt vor dem Hintergrund ihrer Zeit lesen.
Die Autorin, die erst mit Ende 40 begann, sich mit dem Schreiben zu beschäftigen, verfügt über solides Handwerkszeug und ansehnliches Talent. Stilistisch hat mich der Text überzeugt, nur ganz selten stolpert man über einen etwas zu gefühlig geratenen Satz. Im Gegenzug tauchen zahlreiche schöne Textstellen mit ansprechenden Sprachbildern auf. Die Dialoge sind gelungen, Phrasen sucht man vergeblich. Ich mag das Setting ebenso wie das Thema. Als Schwachstelle kann man das früh eingeleitete Happyend empfinden. Um dieses Ziel zu erreichen, musste Spence-Ash schon ein wenig in die Trickkiste greifen: Manche Figur legt einen charakterlichen Salto rückwärts hin, ist kaum mehr wiederzuerkennen, damit am Ende alles passt.
Aber soll ich was sagen? Das hat mich kaum gestört! Ich habe mich vom wendungsreichen Plot mitziehen lassen und Sympathieträgerin Bea die Daumen gedrückt, dass sie ihr Lebensglück am Ende noch finden möge. „Und dahinter das Meer“ mag keine so genannte große Literatur sein. Bei dem Buch handelt sich aber um einen unterhaltsamen, von Claudia Feldmann gut übersetzten historischen Roman, der zwei völlig verschiedene Familiengeschichten mit all ihren Entwicklungen ins Zentrum stellt und der mir fern von jedem Kitsch schöne Lesestunden bereitet hat.
Ich wünsche dem Buch, das es auf eine große Leserschaft trifft, die genau das sucht: ein fesselndes, kurzweiliges Leseerlebnis. Das stimmungsvoll gestaltete Cover sollte dabei in die richtige Richtung weisen.
Die Verschickung von Kindern zum Schutz vor gegnerischen Bombenangriff gab es im Zweiten Weltkrieg nicht nur in Nazideutschland. Während aber deutsche Schulkinder und Mütter mit Kleinkindern ab Oktober 1940 lediglich aus den vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdeten Gebieten im Deutschen Reich untergebracht wurden, schickten britische Eltern bis zu einem deutschen U-Boot-Angriff auf ein Transportschiff am 18. September 1940 mit 77 toten Kindern ihre sogar nach Amerika.
Zwischen zwei Welten
Dies ist die spannende Ausgangssituation im Debütroman "Und dahinter das Meer" der 1959 geborenen US-Amerikanerin Laura Spence-Ash. Ab dem Sommer 1940 liegt zwischen der elfjährigen Arbeitertochter Beatrix Thompson aus London und ihren Eltern ein Ozean, weil ihr Vater es zu ihrem Schutz so will. In Boston wartet auf die zunächst wütende und verängstigte Beatrix, die künftig Bea genannt wird, ein überaus freundlicher Empfang: Mutter Nancy Gregory hat sich seit langem eine Tochter gewünscht, Vater Ethan ist ihr nach anfänglichen Zweifeln schnell zugetan und für die Söhne William und Gerald, 13 Jahre bzw. 9 Jahre alt, wird sie zur Schwester, die das Leben der Familie positiv verändert. Beatrix selbst fühlt sich im lichtdurchfluteten großen Haus der Gregorys und vor allem auf der Sommerinsel vor der Küste von Maine wie ihr Idol Prinzessin Margret. Da sowohl ihre Eltern als auch sie selbst in ihren Briefen zum Schutz des jeweils anderen nicht die Wahrheit schreiben, wird die Entfremdung schnell größer:
"Dieser Ozean, in dem sie jetzt schwimmt, und der sie voneinander trennt, ist während des vergangenen Jahres breiter geworden." (S. 67)
Umso schwerer für alle, als Beatrix pflichtbewusst im August 1945 nach einer Zeit der Ungewissheit überstürzt nach London zurückkehren muss, zumal William und sie inzwischen heimlich mehr als nur Geschwister sind. Schwierig gestaltet sich nach der Rückkehr das Verhältnis zu ihrer Mutter Millie, die nie mit ihrer Trauer über den Verlust der Tochter zurechtkam, immer Neid auf die Gregorys verspürte und nun am liebsten Beatrix‘ Erinnerungen an die fünf Jahre in der Ferne auslöschen würde.
Alles strebt Richtung Happy End
So interessant die Thematik dieses Romans ist, so hätte ich mir, vor allem in der zweiten Hälfte, eine andere Fokussierung gewünscht. Sehr schön erzählt Laura Spence-Ash von Beatrix‘ Ankommen und Auftauen bei den Gregorys und besonders von den Familiensommern auf der Insel. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt zunehmend auf Nebenhandlungen und die Liebesgeschichte, bei der sich meine sehr frühe Ahnung trotz mancher Irrungen und Wirrungen genau bestätigte. Dafür bleiben in der eigentlich gekonnt mit großen Zeitsprüngen von 1940 bis 1977 konzipierten Handlung wichtige Ereignisse wie Beatrix‘ Rückkehr nach London ausgespart. In sehr kurzen, einen Lesesog erzeugenden Abschnitten wird personal aus der Sicht acht verschiedener Akteure erzählt, mit der Folge, dass ich keinem von ihnen richtig nahekam, nicht einmal Beatrix. Schade außerdem, dass Konflikte, Gefühle und Charakteränderungen mehr beschrieben als durch die Handlung gezeigt werden, was sie für mich leider oftmals nicht nachvollziehbar machte.
Auch wenn der Roman bei mir deshalb nicht wie gewünscht funktioniert hat: Für alle, die einen sommerlichen Liebesroman mit viel Wohlfühlatmosphäre suchen, dürfte "Und dahinter das Meer" eine passende Empfehlung sein.
In diesem Roman lernen wir Beatrix kennen, die elfjährige Tochter britischer Eltern, die im Verlauf des zweiten Weltkriegs zu einer Gastfamilie nach Boston/USA geschickt wird, um dem Bombenhagel in Großbritannien zu entgehen. Sie findet liebevolle Aufnahme und lernt ein ganz anderes Leben kennen als zuhause: Beatrix stammt aus einem Arbeiterhaushalt, hier in den USA dagegen gibt es für sie keine großen wirtschaftlichen Nöte. Ihre Mutter Millie in London dagegen vermisst ihr einziges Kind sehr - sie möchte Bea zurückholen, doch ihr Ehemann ist dagegen. Konflikte bietet die Story reichlich und anfangs begeisterte sie mich auch - doch die Autorin spannt die Handlung über eine zeitlichen Rahmen von 30 Jahren, irgendwann zog sich das Ganze gewaltig. Die Zeitsprünge in der Geschichte taten dem Stoff nicht gut, es bleiben Lücken. Auch die Entwicklung der Charaktere verläuft nicht immer gradlinig, so einiges erscheint wenig glaubwürdig oder kaum erklärbar. Die ursprünglichen Konflikte ( eine junge Frau zwischen zwei Brüdern, die familiären Spannungen in London und Boston,Todesfälle darunter ein Selbstmord) werden angerissen, aber nicht folgerichtig abgearbeitet. Hauptsache Happy End, so scheint es am Schluss: Das ist sprunghaft und nicht immer schlüssig, von daher nicht die Sorte von erzählerischem Handwerk, das mir gefällt. Immerhin, die Autorin tut einen nostalgischen Blick in die USA, zurück in die Zeit, als Amerika die Führungsrolle der westlichen Welt übernahm und das Land noch überwiegend geeint den Problemen trotzte.
London, 1940: Während immer häufiger deutsche Bomben auf die englische Hauptstadt fallen, entschließen sich Millie und Reginald dazu, ihre Tochter Beatrix in die sicheren USA zu schicken. Nach einer langen Schifffahrt warten in Boston die Gregorys auf die Elfjährige. Schnell lebt sich das Mädchen in seiner Gastfamilie ein, was nicht nur an der Herzlichkeit der Eltern, sondern vor allem auch an den Brüdern William und Gerald liegt - und natürlich an der Insel, die sich im Besitz der Gregorys befindet und Beatrix unvergessliche Sommer beschert...
"Und dahinter das Meer" ist der späte Debütroman der 1959 geborenen Laura Spence-Ash, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann bei mare erschienen ist. In den USA wurde der Roman zum Bestseller und in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt, wie wir es im Klappentext erfahren. Und auch in Deutschland sollte der Erfolg gewiss sein, spricht "Und dahinter das Meer" doch eine breite Zielgruppe an.
Bereits das Cover, bei dem mare im Vergleich zum Original lediglich die Bomber entfernt hat, dürfte bei potenziellen Leser:innen einen gewissen Kaufreiz entfachen. Eine Frau mit dem Rücken zu den Betrachter:innen, die in die Ferne schaut? Dahinter steckt doch bestimmt eine leicht verdauliche Romanze mit gewissem Kitschfaktor...
Nun, ganz so einfach macht es "Und dahinter das Meer" der Leserschaft nicht. Wobei nicht verhehlt werden darf, dass auch die angesprochenen Käufer:innen nicht enttäuscht sein werden. Denn tatsächlich bewegt sich der Roman in romantischen Gefilden, wobei auch die Kitschgrenze das ein oder andere Mal überschritten wird. Was das Buch von den anderen Rückenfrauen allerdings unterscheidet, sind das hohe sprachliche Niveau und die Erzählkunst Spence-Ashs.
Einerseits gelingt es der Autorin, insbesondere die Insel und das dortige sommerliche unbeschwerte Leben plastisch und liebevoll zu beschreiben. Andererseits - und das ist das eigentlich große Plus des Romans - erweckt sie ihre Figuren so zum Leben, dass man das Gefühl bekommt, seine Freizeit mit ihnen zu verbringen. Dies erreicht Spence-Ash unter anderem mit zahlreichen Perspektivwechseln, manchmal gar innerhalb einer Seite. So ist beispielsweise Bea, wie sie von der Familie bald genannt wird, ihr Zwiespalt hervorragend anzumerken. Von 1940 bis 1945 wird sie einen Großteil ihres bisherigen Lebens in den Staaten bei dieser fremden Familie verbringen, die ihr bald doch näher als die eigene scheint. Darf so etwas überhaupt sein? Und darf sie mehr als schwesterliche Gefühle für den zwei Jahre älteren William entwickeln? Auch Beas Londoner Vater Reginald ist so eine herzerwärmende, authentische Figur. Er ist derjenige, der die wohl schwierigste Entscheidung seines Lebens getroffen und sein Kind verschickt hat. Sein stilles Leid, sein Schwanken zwischen Überzeugung und Zweifeln ist für die Leserschaft stets zu spüren.
Während man die Erzählweise inklusive zahlreicher Adjektive über weite Strecken als schön bezeichnen kann, setzt die Autorin ihre kleinen, überraschenden Nadelstiche eher in der Erzählstruktur. Da "Und dahinter das Meer" über seine gut 360 Seiten einen Zeitraum von insgesamt 37 Jahren behandelt, setzt sie immer wieder erzählerische Lücken und schildert manchmal erst im Nachhinein, manchmal sogar gar nicht, was den Figuren in der ausgelassenen Zeit widerfahren ist. So wirkt es weniger gefällig als die Sprache, wenn liebgewonnene Figuren plötzlich und unvermittelt verstorben sind - ein weiterer bemerkenswerter Kontrast zu den oben genannten Romanzen.
Früh wird hingegen klar, dass "Und dahinter das Meer" im Grunde ein Liebesroman ist. Denn natürlich sind nicht nur Beas Gefühle für William kompliziert - erschwerend hinzu kommt, dass auch der zwei Jahre jüngere Gerald sein Herz an die große Gastschwester verliert. Daraus könnte wie in Emily Brontës "Sturmhöhe" ein bitterböses und furchtbares Eifersuchtsdrama entstehen. Spence-Ash setzt hingegen überwiegend auf Harmonie, was ihr wiederum den Kitschvorwurf einbringen könnte.
Ohnehin kann man dem Buch vieles vorwerfen: Es ist teilweise vorhersehbar, es ist zuckersüß und es nervt mit amerikanischen Spielereien wie den Abkürzungen "Mr und Mrs G.". Nur dass mich all dies mit der Zeit kaum noch störte, weil Spence-Ash es mit ihren melancholischen Rückblicken immer wieder schaffte, mir eine Gänsehaut zu bescheren oder mich zu Tränen zu rühren. Fast so, als schaute man sich eine besonders gelungene Folge der 80er-Jahre-Serie "Wunderbare Jahre" an. Gleichzeitig rührte mich die endlose Empathie und Liebe der Autorin für ihre Figuren, denen sie irgendwann partout kein Leid mehr antun wollte.
Insgesamt ist "Und dahinter das Meer" so etwas wie eine Wohlfühldecke mit kleineren Mängeln in schweren Zeiten, ein warmherziger Liebes- und Familienroman, um den Zyniker:innen einen großen Bogen machen sollten. Alle anderen sollten aber einen Blick riskieren. Auch diejenigen, die sonst keine Bücher mit Rückenfrauen kaufen.
Die Luftangriffe auf London nehmen 1940 zu. Der Vater der elfjährigen Beatrix will seine Tochter beschützen und sie daher in die USA schicken. Die Mutter kommt damit aber nicht klar, zumal Beatrix ihr die Schuld gibt. Zunächst fühlt sich das Mädchen in Boston fremd, aber schon bald wird sie zu einem Familienmitglied der Gregorys und fühlt sich zu Hause. Doch dann muss sie zurück nach London.
Der Schreibstil der Autorin lässt sich gut lesen. Aber etwas hat mich beim Lesen gestört. Die vielen Perspektivwechsel haben für mich verhindert, dass die Gefühle der Protagonisten bei mir ankamen. Dadurch fehlte mir die Tiefe, die notwendig gewesen wäre, um mich wirklich zu berühren. Die Geschichte geht über einen recht langen Zeitraum und entwickelt sich später anders, als ich vermutet hätte.
Ich kann natürlich die Eltern verstehen, die für ihr Kind das Beste, also Sicherheit, wollen. Aber hätte ich mich mein Kind wirklich so ziehen lassen können? Ich denke nicht. Beatrix ist in einer wichtigen Entwicklungsphase, in der eine stabile Beziehung notwendig ist. Doch sie muss die Trennung von ihren Eltern verkraften und weiß zunächst nicht, was sie erwartet. Wann wird sie Vater und Mutter wiedersehen? Sie hat aber Glück, dass sie bei wirklich netten Menschen unterkommt. Herr Gregory weiß genau, dass Bea nur eine Zeit lang bei ihnen bleiben wird. Er ist daher vorsichtiger, doch seine Frau hat sich immer eine Tochter gewünscht und schenkt Bea ihre ganze Liebe. Auch die Söhne William und Gerald nehmen Bea gerne auf und zu William hat sie eine besondere Beziehung. Bea bleibt fünf Jahre dort und fühlt sich immer mehr als Familienmitglied. Als sie dann zu ihren Eltern nach London zurückkehrt, fehlt das innige Verhältnis. Ihre wahren Eltern sind ihr fremd geworden. Ich kann die Eifersucht ihrer Mutter nachvollziehen.
Die Konflikte, die sich aus der ganzen Situation ergeben, werden nicht wirklich thematisiert. Mir scheint es, dass es der Autorin wichtiger war, alles zu einem guten Ende zu führen, das mir aber nicht so recht glaubhaft erscheint.
Ein ruhiger Roman, der mich nicht ganz überzeugen konnte.
London 1940: die elfjährige Beatrix und ihre Eltern fürchten sich vor den immer mehr werdenden Bombenangriffen in der Stadt. Deshalb wird beschlossen, dass ihre Tochter in die USA verschickt wird, um dort in Sicherheit das Ende des Krieges abzuwarten. Das Mädchen landet bei den Gregorys, einer mittelständischen Familie mit zwei Söhnen, die sie herzlich aufnimmt. Sie verbringt fünf Jahre bei ihnen und die Zeit prägt sie nachhaltig. Zurück in London wird der Kontakt zu und die Berührungspunkte mit ihrer amerikanischen Gastfamilie immer weniger, doch das Schicksal wird sie wieder zusammenbringen...
Der Debutroman von Laura Spence-Ash verspricht eine wohlige Familiengeschichte zwischen England und den USA. Über einen Zeitraum von 37 Jahren lernen wir die verschiedenen Protagonist:innen kennen - neben Beatrix spielen die beiden Gastfamilienbrüder William und Gerald eine wesentliche Rolle, aber auch die Eltern beider Familien sowie in späterer Folge auch die Ehefrau von William. In kurzen Erzählepisoden werden Ereignisse aus der Sicht der verschiedenen Charaktere geschildert, was angenehm und abwechslungsreich zu lesen ist. Die Sprache der Autorin gefällt mir wirklich gut, sie ist kurzweilig mit einem Hauch Melancholie und sie weiß starke Bilder zu erzeugen - besonders gelungen finde ich hier die geschaffene Atmosphäre auf der Sommerinsel in Maine, wo die Familie Gregory regelmäßig ihre Sommerferien verbringt. Ihr literarisches Talent beweist sie immer wieder durch wunderbare stilistische Kniffe, sei es sprachlich oder handwerklich gut gemachte Doppelungen und wiederkehrende Motive, wie beispielsweise das Meer.
Soviel zum Positiven. Leider hat mich der Roman aber enttäuscht. Das Thema, das Setting und der Buchtitel klangen für mich sehr interessant und ansprechend, aber bedauerlicherweise nervte mich das Erzählte über weite Strecken. Das hat vielerlei Gründe. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, was ja grundsätzlich nichts schlechtes ist. Da der Roman aber nur 364 Seiten hat, können die 37 Jahre dementsprechend nur sehr peripher abgedeckt werden. Wie das die Autorin macht, hat mir so gar nicht gefallen. Die Zeitsprünge sind vollkommen willkürlich, oft werden den Leser:innen bevorstehende Ereignisse angekündigt, aber dann werden diese - häufig für den Fortgang der Geschichte wesentlichen - Vorkommnisse dann nur in ein oder zwei Sätzen im Rückblick nacherzählt. Zudem werden oft Themen angeschnitten, die dann einfach wieder fallen gelassen werden - man wartet vergebens darauf, eine Erklärung oder eine Auflösung für Geschildertes zu erhalten. Weiters sind gewisse Aussagen über den Handlungsverlauf oder die Charaktere widersprüchlich oder inkonsequent, was vermutlich mit einem akkuraterem Lektorat vermieden hätte werden können.
Schade finde ich auch, dass die Figuren für mich allesamt schwer zu greifen sind, da sie nur sehr oberflächlich beschrieben werden und es meist ausgelassen wurde, Schlüsselszenen direkt zu beschreiben (diese werden, wie oben bereits erwähnt, oft nur kurz im Nachhinein geschildert). Außerdem vollziehen die Personen des Öfteren überraschende und nicht näher erläuterte Charakterwandlungen, die größtenteils unglaubwürdig sind. Besonders zwei Charaktere, nämlich Beatrix Mutter Millie als auch Williams Frau Rose sind sehr schwarz-weiß gezeichnet, doch zum Wohle des harmonischen Ausgangs der Geschichte, vollziehen sie einen plötzlichen Sinneswandel, der aber auch nicht näher begründet wird. Oft blieb ich ratlos ob der unerklärten Handlungen einzelner Figuren zurück. Augenscheinlich ist auch, dass wirklich alle Protagonist:innen sehr in der Vergangenheit verhaftet sind und die "gute alte Zeit" (in diesem Fall wohl die fünf Jahre, die Beatrix bei den Gregorys in den USA verbrachte) zurück sehnen. Interessant wäre es vielleicht, das Buch mit dem englischen Original zu vergleichen in der Hoffnung, dass einige immer wiederkehrende und beinahe lustlos wirkende Wortwiederholungen (z.B. "schön" oder "bezaubernd") ein wenig "lost in translation" sind. Das Happy End stört mich nicht so sehr, auch wenn es durchaus vorhersehbar war.
Mein Fazit: "Und dahinter das Meer" ist ein sprachlich schön formulierter Roman, der etliche erzählerische Schwächen aufweist. Wer eine dahinplätschernde Wohlfühlgeschichte mag und sich nicht daran stört, dass die Stringenz zu wünschen übrig lässt, ist hier gut aufgehoben. Meinen Geschmack konnte das Buch leider nicht treffen.
Ein wunderbarer Romananfang, der Lesefreude verspricht: ein Blick zurück, eine wehmütige Grundstimmung, Konflikte werden angedeutet, und im Mittelpunkt steht Beatrix. Um sie herum gruppieren sich ihre Herkunftsfamilie mit der Mutter Millie im Zentrum und ihre neue Familie in den USA, die aus Nancy und Ethan und ihren beiden Söhnen William und Gerald besteht.
Diesen Personen folgt der Roman chronologisch von 1944 bis 1977, und zwar in Zeitsprüngen. Die Autorin entscheidet sich für einen Episodenstil, der dazu führt, dass der Leser mit Leerstellen klarkommen muss, die er nicht immer eindeutig füllen kann.
Die vielen Episoden bindet die Autorin aber erzählerisch sehr geschickt zusammen. Sie doppelt manche Handlungselemente; so wird z. B. in den USA ein Kleid für Bea gekauft, während die Mutter in London ein Kleid ihrer Tochter weggibt. Zusätzlich setzt die Autorin durchgängige Motive ein wie z. B. das Schachspiel, das sie wirkungsvoll entfaltet, wenn sie die Familien und die Generationen damit zusammenbindet. Sehr aufwändig arbeitet sie mit dem Mittel des Kontrapunkts, wenn sie Personen wie z. B. die beiden Mütter oder die Brüder als Gegensatz gestaltet, wobei der Kontrast aber oft zu scharf, zu pointiert ausfällt.
Darüber hinaus hat mir das Erzählen der Autorin sehr gut gefallen. Sie gestaltet sehr stimmige Szenen, und vor allem bei schmerzlichen Szenen verzichtet sie auf Lamento und Dramatik, sondern erzählt unaufdringlich und empathisch. Jede Einzelszene wirkt gut durchdacht und sorgfältig komponiert. Dasselbe gilt auch für den Roman als Ganzes.
Die Schwächen des Romans liegen im Plot. Das Ziel des Romans ist offensichtlich die allumfassende Harmonie der Familie, die wieder ihren Sehnsuchtsort, den angestammten Sommersitz bewohnt. Diesem Ende wird alles untergeordnet. Die angedeuteten Konflikte werden keiner Klärung zugeführt, sondern sie verpuffen einfach. Auch die Figurengestaltung muss sich dem intendierten Ende unterordnen. Die Autorin vergibt jede Möglichkeit, einen Konflikt und damit auch ihre Figuren zu entwickeln. Ihre Figuren wachsen nicht an den Konflikten, sondern sie machen abrupte Änderungen durch, die nicht motiviert werden und daher unglaubwürdig sind. Und wenn die Figuren von ihrer ursprünglichen Anlage nicht zum Ende passen wollen, werden sie gewaltsam zurechtgebogen und sogar -gebrochen. Und das Ende muss man mögen: alle unter einem Dach, alle Generationen vereint, innere und äußere Ähnlichkeiten werden beschworen, jeder ist nur Teil einer Generationenkette, endlich ist jeder glücklich, keine Konflikte, keine Sorgen, keine finanziellen Probleme.
Schade. Die vielversprechenden Ansätze des Beginns werden nicht genutzt.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass der Roman seine Leserinnen finden wird, die wohlig-seufzend damit einverstanden sind, dass der märchenhafte Schluss wenig mit der Realität zu tun hat.
Wie ist es den Kindern ergangen, die während des zweiten Weltkriegs von ihren Familien aus dem Bombenhagel Londons in die Sicherheit von Gastfamilien geschickt worden sind?
Laura Spence-Ash widmet sich in ihrem Debüt-Roman „Und dahinter das Meer“ dieser Thematik.
Hauptperson dieses Romans ist Beatrix, die von ihren Eltern auf die Reise nach Amerika geschickt wird. Wir erfahren in kurzen Kapiteln aus verschiedenen Blickwinkeln, wie Beatrix, ihre Eltern, aber auch ihre Gastfamilie mit gemischten Gefühlen in diese Situation geraten und wie sie damit umgehen.
Hierbei geht es nicht um die eigentlichen Schrecken des Krieges, sondern um die Zerrissenheit eines jungen Mädchens zwischen zwei Familien und zwei Kontinenten. Beatrix verbringt fünf entscheidende Jahre ihres Lebens fern ihrer Heimat und weiß nicht mehr, wohin sie gehört.
Der Erzählstil ist angenehm, Beatrix wird so charakterisiert, dass Leserinnen sich mit ihr als Hauptperson identifizieren können. Auch ihren Vater und die Gastfamilie konnte ich mir beim Lesen gut vorstellen. Die Figur der Mutter macht hingegen eine Persönlichkeitswandlung durch, die mir nicht glaubhaft erscheint.
Mir fehlen in dem Roman manche Zusammenhänge: Während das Einleben in der Gastfamilie recht lebhaft geschildert wird, fehlt die Problematik der Heimkehr fast vollständig. Stattdessen driftet die eigentlich interessante Handlung immer mehr in Richtung Liebesroman ab.
Als leichte Lektüre lässt sich das Buch unterhaltsam lesen.
Kinderverschickung GB → USA während des Krieges – teils problematische Beziehungen der Familienmitglieder untereinander
Ein Kind zwischen zwei Welten: das britische Ehepaar Millie und Reg möchte die 11-jährige Tochter vor den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg in Sicherheit bringen, so dass Beatrix eines der Kinder ist, das ganz alleine über den Ozean an die Ostküste der USA zu Gasteltern verschifft wird. Sie trifft es gut an: die amerikanische Familie Gregory mit den beiden Söhnen, nur wenig jünger und älter als Bea, nimmt sie sehr liebevoll auf und besonders Mutter Nancy ist glücklich, eine Tochter zu haben.
Wir erfahren vieles über das zurückgebliebene Ehepaar und ihre Beziehung zueinander, ebenso wie über die interfamiliären Beziehungen der Gregory-Familie, alles in kurzen Kapiteln aus der jeweiligen Sicht einer bestimmten Person.
Allen war klar, dass Bea nur eine Tochter und Schwester 'auf Zeit' ist und nach Beendigung des Krieges zu ihren richtigen Eltern zurückkehren wird. Wie es mit diesen beiden Familien weiter geht, ob und wie sie weiter in Kontakt bleiben, erfahren wir über viele Jahre hinweg, wobei sich aber leider immer wieder erzählerischen Lücken auftun. Hat sich der Leser gerade in eine Situation vertieft und sind einige Fragen aufgetaucht, hat sich die Lebenssituation der Personen schon wieder geändert, obwohl man gerne noch dieses oder jenes hätte wissen wollen. Mit solchen erzählerischen Lücken kann man leben, aber mich hat auch gestört, dass einiges am Verhalten der Personen nicht nachvollziehbar ist, mir teilweise unglaubwürdig und widersprüchlich vorkommt und dass die Autorin dem Leser zu sehr vorgibt, wie er die Personen zu sehen hat.
Einige Szenen schrammen hart am Kitsch entlang, andere sind sehr einfühlsam geschildert. Wie es am Ende ausgehen wird, ist irgendwann offensichtlich, aber die geballte Ladung positiver Ereignisse erscheint doch ein wenig übertrieben.
Gefallen haben mir in der zweiten Hälfte etliche zitierenswerte Sätze und Stellen:
'Schon komisch, wie Orte ein Teil von uns werden.' (183)
'Wir wissen, wie schwer es ist, die Vergangenheit eines anderen zu verstehen.' (184)
'Beste Lügen sind immer zur Hälfte wahr.' (207)
'Manche Geheimnisse waren Bürden. Andere waren Geschenke, etwas, woran man sich immer wieder wärmen konnte.' (211)
Fazit
Im Großen und Ganzen war das nicht mein Roman. Auch ich mag zwischendurch leichte, gut geschriebene Unterhaltungsliteratur, doch hier war zu vieles, was mich gestört hat, allen voran die Entwicklung der Personen.
Dennoch denke ich, dass das Buch seine Leser finden wird, die sich bei leichter Urlaubslektüre mit viel Meer entspannen möchten.
Kurzmeinung: Man rätselt von Anfang an herum, wie die Autorin für das HäppyEnd störende Elemente wohl beiseite schaffen wird.
Die Autorin, die, wie sie selbst im Vorwort berichtet, spät zum Scheiben kam, nimmt sich das Thema „Kinderverschickungen“ während des Zweiten Weltkriegs vor. Die Thompsons in London sind besorgt, alldieweil der Krieg spürbar näher kommt und London bombadiert wird, so schicken sie ihre elfjährige Tochter in die USA, wo sie für die nächsten fünf Jahre eine Zweitfamilie findet, in der sie sich verwurzelt. Entfremdung ist vorprogammiert als sie 1945 nach London zurückkommt, so viel hat sich verändert, nicht nur äußerlich.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Die Autorn Laura Spence-Ash schreibt einen Sommerroman mit viel Gold und Blau, Meer und Strand und augustlicher Sommerfülle. Ich erinnere eine Gedichtzeile von Gottfried Benn „Erfüllungsstunde. Im Gelände, die roten und die goldenen Brände.“ Diese Stimmung herrscht im Roman vor. Dieses Gedicht trägt freilich den Titel „Einsamer nie als im August“ und ist, schaut man auf den Kontext, ein zutiefst deprimierter Aufschrei eines Dichters, der genau diese Zeit durchlebte.
Die Einsamkeit, die Schwere des Krieges, der Aufschrei, die Zerrissenheit, die ein zweimal entwurzeltes Kind empfinden und erleiden muss, bringt die Autorin nur unvollkommen aufs Papier. Sie versucht es immerhin, scheitert aber daran, dass sie partout einen Wohlfühlroman will. Es ist zu viel Sommerroman, zu viel Liebelei, zu viel Sonntagabend im ZDF. Mit ihrem Thema ist sie zudem spät dran. Darüber schrieb man in den 50ern und den 60ern. Hätte sie mit der Thematik dennoch überzeugen wollen, hätte sie tiefer schürfen müssen. Der letzte Abschnitt - bei dem die Autorin tief in die Schmonzette greift - ist eine Qual für Leser, die mehr wollen von Literatur als Sonntagabendunterhaltung. Freilich hat auch diese Art von Literatur ihre Berechtigung. Deshalb gilt dennoch als
Fazit: ein sehr nett geschriebener Sommerroman, der ganz kurz den Ernst des Lebens streift, aber nicht ernsthaft beunruhigen möchte. Doch wer will sich am Sonntagabend vom ZDF beunruhigen lassen? Der Roman kann allemal mit „Traumschiff“ und ähnlichen Sendungen mithalten. Lasst uns anstoßen auf das Leben! Für die Kategorie „Sonntagabend im ZDF“ ist mir der Roman drei Sterne wert.
Kategorie: Sonntagabend im ZDF
Mare 2024
Wie sehr prägen fünf Jahre im Leben eines Kindes die Persönlichkeit? Die Autorin Laura Spence-Ash stellt das sehr eindrucksvoll anhand von Beatrix dar, die als 11-Jährige 1940 bis 1945 in die USA verschickt wurde, damit ihre Eltern sie während dieser Kriegsjahre vor dem deutschen Bombenhagel in London in Sicherheit wussten.
Während ihr Vater nüchtern rational entschied, fiel ihrer Mutter dies zu akzeptieren sehr schwer – ihre Tochter war ihr Lebensinhalt. Auf total andere Verhältnisse traf Bea in Boston: eine Familie mit 2 Söhnen (William 13 Jahre und Gerald 9 Jahre) und einem Ferienhaus in Maine.
Urlaubsstimmung stieg bei mir bei den Beschreibungen der Sommermonate in Maine auf: Bea lernte schwimmen und der liebevolle Umgang aller mit ihr ließen mein Herz aufgehen. Zum Schmunzeln reizten mich immer wieder so Aussagen, wie z.B. die von Gerald: „Es gehört sich nicht, dass Eltern in einem Bett schlafen, wenn Kinder im Haus sind.“
Die Geschichte endet auch nicht mit Beas Rückkehr nach London, sondern wir begleiten die zwei Familien noch jahrzehntelang, lesen unter anderem von der Begeisterung über die Wahl von Präsident John F. Kennedy und der Trauer über dessen Ermordung. Und ich fand es beeindruckend, wie die Autorin immer wieder Zusammenhänge zu Beas gravierenden fünf Jahren in USA herstellt. Nein, dies ist kein Buch für Leser, die ‚Action‘ suchen, sondern ein ruhiges Buch, auf das man sich einlassen sollte.
Ich war begeistert von der Geschichte, der Charaktere, der Vielschichtigkeit, der Sprache und empfehle es wärmstens. Schade, dass ich nur die Höchstzahl der Rezensions-Sterne geben kann, ich wünschte, es wären mehr!
Ein Roman zum Wohlfühlen
England, während des 2. Weltkrieges: ein 11-jähriges Mädchen wird von den Eltern in die USA geschickt. Dort ist die Tochter in Sicherheit, und dort werden sich nette Menschen um sie kümmern. Und wenn der Krieg vorbei ist, kommt das Kind wieder zurück nach Hause. Denn ein Krieg kann nicht ewig dauern.
Dies ist die Ausgangssituation des Romans „Und dahinter das Meer“ der US-Autorin Laura Spence-Ash.
Tatsächlich sind es 5 Jahre, die Beatrix Thompson in Amerika bei den Gregorys verbringen wird. Hier wird sie ein anderes Leben führen, als sie es in England gewohnt war. Aus dem kriegsgeplagten London kommt sie 1940 in das beschauliche Boston, zu diesem Zeitpunkt ist hier vom Krieg in Europa noch nicht viel zu spüren. Die Familie Gregory lebt in bescheidenem Wohlstand. Vater Ethan ist Lehrer, seine Ehefrau Nancy ist Mutter und Hausfrau aus Überzeugung. Es gibt zwei Söhne: den 13-jährigen William und den 9-jährigen Gerald. In kurzer Zeit hat sich die 11-jährige Beatrix in die Familie eingelebt. Sie gehört wie selbstverständlich dazu, geht in die Schule, lernt neue Freunde kennen, verbringt die Urlaube mit den Gregorys auf einer Insel vor der Küste Maines. Diese Insel ist von Nancy, die aus einer reichen Familie stammt, in die Ehe gebracht worden und ist der einzige Luxus, den die Gregorys ihr Eigen nennen können.
„Und dahinter das Meer“ ist in mehrere Teile gegliedert. Der erste Teil dieses Romans behandelt die Zeit von 1940 bis 1945 und konzentriert sich auf Amerika, wobei immer wieder Blicke auf die daheimgebliebenen leiblichen Eltern in London geworfen werden. Darüber hinaus gibt es weitere chronologisch aufeinanderfolgende Teile, die jedoch in größeren Zeitabständen auseinanderliegen. Durch diese Lücken wird nicht alles in diesem Roman auserzählt. Stattdessen ist man auf die Erinnerungen der einzelnen Charaktere angewiesen, die im losen Wechsel in eigenen Kapiteln, die den Namen der jeweiligen Erzählfigur tragen, die Handlung vorantreiben. Insgesamt begleiten wir Bea und die beiden Familien über einen Zeitraum von 37 Jahren, in denen Bea den Kontakt zu ihrer amerikanischen Gastfamilie mal mehr oder weniger intensiv aufrechterhalten hat.
Menschen verändern sich, sowohl während der 5 Jahre, in denen Bea von dem 11-jährigen Kind zu einem 17-jährigen Teenager heranreift, als auch über den kompletten Handlungszeitraum dieses Romans, in dem aus den Kindern Erwachsene werden. Gerade die beiden Söhne der Gregorys, die der Leser als Kinder bzw. Jugendliche mit Wünschen und Träumen über ihre Zukunft kennenlernt, werden sich zu Menschen verändern, die feststellen müssen, dass sich Träume und Wünsche nicht immer erfüllen.
Bea, William und Gerald sind sich in diesem Roman am nächsten. Sie vereint die Erinnerung an die glücklichen 5 Jahre in ihrer Kindheit und Jugend. Wenn man diesen Roman beginnt, ist in kurzer Zeit klar, dass es in dieser Dreier-Konstellation nicht nur um Freundschaft geht, sondern dass sich tiefere Gefühle entwickeln werden. Doch in welche Richtung sich diese Gefühle entwickeln, also welcher der Brüder am Ende des Romans der Auserkorene von Bea sein wird, oder vielleicht keiner von beiden, bleibt bis zum Ende offen und verleitet zu heftigen Spekulationen. Die Hinweise, die die Autorin streut, sind nicht so eindeutig wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn in diesem Roman wird auch gestorben – völlig überraschend und unvorbereitet. Daher tut der Leser gut daran, seine Zuneigung nicht einzelnen Figuren zuteil werden zu lassen. Das könnte beim Lesen zu Erschütterungen führen.
Interessant ist in diesem Roman die Figurenzeichnung der beiden Mütter, die sich als jeweiliges Pendant in Übersee präsentieren. Beas leibliche Mutter Millie ist ganz anders als die Amerikanerin Nancy. Nancy geht in ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle auf. Die Sorge um das Wohl ihrer Familie ist ihr Lebensinhalt. Sie kocht und schmeißt den Haushalt, kümmert sich um die Kinder, und hat Angst vor dem Moment, an dem die Kinder erwachsen werden und sie nicht mehr brauchen könnten. Ohne ihre Familie scheint sie nicht existieren zu können. Millie hingegen ist ein anderes Kaliber. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Tochter in die USA zu schicken, wäre es nach ihr gegangen, wäre Bea bei ihr geblieben. Doch sie schafft es, sich mit der Situation zu arrangieren, was bleibt ihr auch anderes übrig. Sie lebt ihr Leben, so gut der Krieg es zulässt, geht arbeiten, leistet ihren Beitrag beim Kriegsdienst und wartet geduldig, aber nicht untätig ab, dass die Zeit ohne ihre Tochter irgendwann vorüber sein wird. Doch die Angst, dass Bea nicht mehr das Mädchen ist, dass sie in die USA geschickt hat, begleitet sie unterschwellig. Am Ende wird sich diese Angst bewahrheiten – eine andere Entwicklung wäre in diesem Roman unrealistisch gewesen.
Laura Spence-Ash hat einen sehr gefühlvollen Roman geschrieben, der die Figuren lieben und leiden lässt. Und der Leser fühlt mit ihnen. Die Autorin überträgt Emotionen, welche einzelne Szenen in diesem Roman unglaublich intensiv machen, leider aber auch manches Mal am Kitsch vorbeischrammen. Das mögen einzelne Formulierungen sein, die zuckersüß erscheinen und ein Risiko der Überzuckerung bergen. Dennoch geht dieser Roman nah, was nicht zuletzt an Entwicklungen in der Handlung liegt, die völlig überraschend erfolgen können und den Leser kalt erwischen. Das einzige Manko war für mich das viel zu süße Happy End des Romans, das mit den letzten Seiten trotz aller Finten, die die Autorin vorab geschlagen hat, vorhersehbar wurde. Das von der Autorin gewählte Ende erinnert an einen Hollywood-Liebesfilm, das dieser, bis dahin wundervolle Roman nicht nötig hat.
Fazit:
Eine berührende Geschichte, emotional erzählt, ohne aufdringlich zu sein – von wenigen Kitschmomenten abgesehen. Ungeachtet des gefühlsduseligen Happy Ends habe ich diesen Roman geliebt.
©Renie