Unberechenbar

Buchseite und Rezensionen zu 'Unberechenbar' von  Harald Lesch
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3 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Unberechenbar"

Gibt es eine perfekte Gesellschaft? Nein. Aber in welcher Gesellschaft wollen wir leben – vor allem, wenn es schwierig wird? Helfen da Physik, Mathematik oder die Wirtschaft? Harald Lesch und Thomas Schwartz analysieren mit Scharfsinn und Witz, welche Missstände und Fehlentwicklungen uns beschäftigen. Viel wichtiger aber: Sie begnügen sich nicht mit Krisen-Gejammer, sie wollen mehr. Ihre Schlüsse sind wissenschaftlich präzise, sie entlarven Verschwörungstheorien und Vorurteile, und stellen konkrete Forderungen, an Politik, Wirtschaft und jeden einzelnen. Pointiert und vor allem kreativ erklären Lesch und Schwartz, weshalb das Dorf-Prinzip hilft, singen das Lob der Grenze und lassen eine Freiheit fühlen, die Dialekt spricht und Raum gibt. Ein faszinierendes und bahnbrechendes Buch – ein Buch so unberechenbar wie das Leben.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783451393853

Rezensionen zu "Unberechenbar"

  1. 3
    28. Feb 2023 

    Nicht mehr als amüsant

    Seit über zwanzig Jahren bin ich als Familienmanagerin und Muttertier im Geschäft. Nebenbei engagiere ich mich ehrenamtlich und habe einen weiteren Job, für den ich sogar ein Gehalt bekomme. In der wenigen freien Zeit, die mir im Alltag bleibt, kümmere ich mich mehr um mich als um andere, denn Spaß muss sein und ein bisschen Egoismus ist schließlich gut für die „Work-Life Balance“.
    Bin ich mit meiner Lebenssituation eine Ausnahme? Wohl eher nicht. Aber nicht alle Frauen in ähnlicher Situation kommen in den Genuss eines ausgeglichenen und zufriedenen Daseins.
    Das erlebt auch Samantha Raymond, Protagonistin des Romans „Unberechenbar“ der amerikanischen Bestsellerautorin Dana Spiotta.
    Sam ist 53, lebt mit Mann und Teenager-Tochter in Syracuse, einer Kleinstadt im amerikanischen Bundesstaat New York. Hauptberuflich ist sie Ehefrau und Mutter. Als das Töchterchen noch klein war, mag dies eine ausfüllende Tätigkeit gewesen sein, insbesondere für jemanden wie Sam, die in ihrer Mutterrolle nach Perfektion strebte und ihre Tochter mit Liebe, Aufmerksamkeit und Kontrolle überflutete. Nun ist das Töchterchen fast schon eine erwachsene Frau und leistet erbitterten Widerstand gegen die mütterliche Fürsorge, so dass sich Sam ein anderes Betätigungsfeld suchen muss. Leider gibt es keinen angemessenen Ersatz für ihre bisherige Aufgaben. Bei Sam zeichnet sich daher eine Lebenskrise ab, und sie trifft eine verrückte Entscheidung. Die Architektur-interessierte Frau kauft ein heruntergekommenes, aber geschichtsträchtiges Haus, in das sie sofort einzieht, auch wenn diese Handlung gleichbedeutend mit der Trennung von ihrem Ehemann ist. Welche Entwicklung die Protagonistin Sam von da an widerfährt und ob sie tatsächlich eine Entscheidung getroffen hat, die ihrem Leben neue Impulse gibt, erzählt dieser abwechslungsreiche Roman.
    Auf den ersten Blick haben wir es also bei „Unberechenbar“ mit einem Entwicklungsroman zu tun: eine Mitt-Fünfzigerin bricht aus ihrem Alltag aus, beschreitet neue Wege und findet am Ende zu sich selbst. Tatsächlich kratzt die Bezeichnung „Entwicklungsroman" nur an der Oberfläche. Darunter schlummert eine Geschichte über die moderne amerikanische Gesellschaft. Es gibt kaum ein Thema, das die Autorin Dana Spiotta in ihrem Roman nicht anschneidet: die Präsidentschaftswahl von Donald Trump vor ein paar Jahren, Feminismus, Social Media, Verschwörungstheorien, Gendering, „Black Life Matters", Waffengesetze, etc. etc. etc. und als Add-on gibt es für den Leser Ausführungen über lokale und historische Feministinnen aus Syracuse, NY, USA.
    Diese Themenflut tut dem Roman nicht gut. Hier wird kaum etwas ausgelassen, das eine Gesellschaft unserer Zeit momentan beschäftigt, und die amerikanische im Besonderen.
    Doch selbst eine versierte Autorin wie Dana Spiotta ist nicht in der Lage, dieser Themen-Überfrachtung Frau zu werden und Tiefe in diesen Roman zu bringen. Hier leidet definitiv die Qualität unter der Quantität.

    Gutgetan hat dem Roman jedoch eine zweite Erzählperspektive, die dem Leser etwa nach dem ersten Drittel des Romans begegnet. Von diesem Zeitpunkt an gibt es immer wieder einen Wechsel von Sams Erzählperspektive auf die ihrer Tochter und somit eine Gegendarstellung zu der Sichtweise der Mutter. Wir erfahren, wie die junge Frau ihre Kindheit erlebt hat, so dass die Mutter-Tochter-Beziehung in ein anderes Licht gerückt wird. Mit einem Mal wird das Ausmaß von Sams Mutter-Dasein deutlich und die perfekte Mutter, als die sie sich gern sah und sieht, erweist sich als eine Frau mit Schwächen.
    Neben allen gesellschaftlichen Themen, die sich in diesem Roman finden lassen, beschäftigt Dana Spiotta den Leser mit einem nicht ganz so gesellschaftsrelevanten Thema (aber was nicht ist, kann noch werden): es geht um die Menopause einer Frau, auch Wechseljahre genannt. Überspitzt ausgedrückt, markiert der Beginn der Wechseljahre bei einer Frau den Start in eine Lebenskrise … glaubt man Dana Spiotta. Denn so präsentiert sich die Protagonistin Sam, die quasi ihr Menopäuschen als zusätzlichen Anlass für einen Bruch mit ihrem bisherigen Leben nimmt. Das ist unrealistisch, aber zugegebenermaßen amüsant und ich bin daher versucht, diesen Aspekt des Romans als humoristische Einlage zu betrachten.
    Mein Fazit lautet daher: „Unberechenbar“ ist ein amüsanter Gesellschaftsroman mit feministischer Ausprägung, der bei mir einen oberflächlichen Eindruck hinterlässt.

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  1. Weibliche Midlife Crisis

    Ende 2021 wurde der Kjona Verlag neu gegründet, dessen Motto „Nachhaltig, Neugierig, Unabhängig“ mich sofort angesprochen hat. „Unberechenbar“ habe ich mir als erstes Buch ausgesucht, nicht zuletzt, weil ich dasselbe Lebensalter wie Protagonistin Sam habe. Die Bücher des Kjona Verlags stehen ihren weniger nachhaltig produzierten Kollegen in nichts nach. Optik und Haptik sind wunderschön, vom glatten, hellen Papier lässt es sich bestens lesen. Einen Schutzumschlag braucht dieses augenfällig gestaltete Buch nicht. Äußerlich gibt es demnach Bestnoten von mir. Auch die Übersetzung von Andrea O´Brien lässt keine Wünsche offen.

    Nun zum Inhalt:
    Sam Raymond ist 53 Jahre alt, Hausfrau und mit dem Juristen Matt verheiratet. Beide haben eine 16-jährige Tochter namens Ally und bewohnen ein hübsches Haus in guter Wohngegend in einem Vorort der amerikanischen Stadt Syracuse. Alles könnte so schön sein. Doch Sam sticht der Hafer: Sie stand politisch schon immer links und kann es nicht verkraften, dass Donald Trump 2017 zum US- Präsidenten gewählt wird. Das ist für sie der äußere Anlass, ihr Leben neu zu überdenken. Aus einer Laune heraus kauft sie ein baufälliges, altes Haus in einem Problemviertel von Syracuse. Sie hat sich spontan in dieses historische Gebäude verliebt, in das sie viel Geld und Energie stecken muss, um es halbwegs bewohnbar zu machen. Ihr Mann Matt scheint sie bei dem Vorhaben zu unterstützen, er akzeptiert ihre Entscheidung. Über die Probleme der Eheleute erfahren wir nichts. Tochter Ally indessen bricht den Kontakt zur Mutter fast komplett ab, worunter Sam sehr leidet. Gleichzeitig hadert Sam mit ihren Wechseljahren, mit dem zunehmenden Altern ihres Körpers. Sam organisiert sich völlig neu, treibt viel Sport, ernährt sich gesund. Sie weitet ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Führerin im Clara Loomis House aus, engagiert sich in der linken Aktivistenszene für Umwelt, Klima, POC und andere Minderheiten. Sie tritt verschiedenen Gruppierungen bei, aus diesen Kreisen sucht sie sich einen neuen Freundeskreis.

    Bis zu diesem Zeitpunkt wirkt die Protagonistin ziemlich unberechenbar, naiv und abgedreht auf mich. Sam handelt völlig spontan und unüberlegt, ihre Meinung kann man kaum umreißen, irgendwie ist sie gegen alles, tritt als Weltverbesserin auf. Allerdings muss man ihr zu Gute halten, dass sie oft einen kritischen Blick auf ihr eigenes unzulängliches Verhalten mit seinen Widersprüchen wirft. Sie pendelt zwischen Überheblichkeit und Selbstzweifeln. Manche Leser/in mag das witzig und originell finden.

    Mit der zweiten Perspektive von Ally bekommt der Roman eine neue vielversprechende Dimension. Sams Tochter hat einen sehr kritischen, reifen und reflektierten Blick auf ihre Mutter. Zu oft hat sie sich schon über deren hysterische Wutattacken und Kontrollzwänge ärgern müssen. Ally entzaubert quasi die suggerierte Eigenwahrnehmung ihrer Mutter, wodurch auch der Leser einen anderen Blick auf das zuvor Gelesene bekommt: Steckt etwa hinter der zur Schau getragenen selbstbewussten Fassade in Wahrheit eine völlig verunsicherte Person? Manche Indizien sprechen dafür, auch das intensive Verhältnis von Sam zu ihrer betagten Mutter Lily zeigt, dass Sam mit 53 Jahren noch den Rückhalt der Älteren braucht. Indessen ist Sam für ihre eigene Tochter keine Vertrauensperson.

    So behandelt der Roman im Verlauf der Geschichte diese drei Frauengenerationen mit ihren individuellen Problemen und Herausforderungen. Es geht um Allys erste Liebe, zu ziehende Grenzen und Gefahren, um Sams Standortbestimmung in der Lebensmitte und um Lilys Krankheit und den drohenden Abschied am Lebensende. Viele Szenen sind sehr berührend geschildert und werden mit großer Empathie erzählt. Es geht auch um Beziehungen, politische Grundhaltungen, um Schieflagen im kapitalistischen System.

    Manche dieser Anliegen werden nicht völlig organisch in die Handlung eingewoben. Für meinen Geschmack zu offensichtlich vermittelt die Autorin ihre ideologischen Botschaften. Besonders deutlich ab Seite 305. Als Sam schwer verletzt wird, folgt ein Cliffhanger, der durch vier aufsatzartige Kapitel ausgefüllt wird: Dabei ist eine Ode an die Stadt Syracuse (die Heimat der Autorin); eine Aufzählung von bedeutungsvollen Kuriositäten, die Sam in Loomis House ausgestellt hat; Briefe und Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1868/69 der Frauenrechtlerin Clara Loomis selbst, die ihrerzeit in die Fänge der sektenähnlichen Oneida Community geraten ist; dazu eine traumähnliche Sequenz über die Bedeutung von Blut in einem Frauenleben…

    Mir ist schon klar, welche Aussagen die Autorin damit treffen will. Sie möchte Frauen ermutigen, liebevoll und selbstbewusst zur eigenen Weiblichkeit zu stehen. Sie macht exemplarisch deutlich, dass der Feminismus viele Vorreiterinnen brauchte, um heute selbstverständliche Freiheiten und das Recht am eigenen Körper zu erreichen. Sie zeigt weiterhin, dass Syracuse weit mehr zu bieten hat als soziale Probleme und Kriminalität. Die Art der Darstellung innerhalb des Romans jedoch hat mich irritiert.

    Die Familiengeschichte bekommt durch die unterschiedlichen Perspektiven der drei Protagonistinnen Tiefe. Insbesondere die Diskrepanzen zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung machen sie reizvoll, ebenso die authentischen Dialoge sowie die bewusst kantige Figurenzeichnung. Zum Ende hin habe ich gerade durch die genannten Passagen zu viel Pathos, zu viel Message und zuviel Kalkül empfunden. Ich weiß, dass die amerikanischen Leser viel toleranter gegenüber ideologischen Botschaften sind und bin gespannt, wie andere deutsche Leser/innen diesen Roman empfinden werden, für den ich nur eine eingeschränkte Empfehlung ausspreche. Vielleicht habe ich einfach alles etwas zu ernst genommen und mir fehlt die notwendige Portion Humor, um dieses Buch zu begreifen. Oder man braucht ein feministisch stärker geprägtes Weltbild. Auch das ist möglich.

    Ich wünsche dem Roman auf alle Fälle eine breite, begeisterte Leserschaft und dem Kjona Verlag weiterhin viel Erfolg.

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