Über Meereshöhe

Rezensionen zu "Über Meereshöhe"

  1. 5
    10. Sep 2020 

    „Eine Pause vom Dunkel“

    Neben ihren umfangreichen Familien- und Gesellschaftsromanen wirkt der zweite Roman von Francesca Melandri wie ein Kammerspiel.
    Drei Figuren treffen hier aufeinander, auf einer kleinen süditalienischen Insel. Auf der Fähre dorthin begegnen sich Luisa und Paolo. Beide führt derselbe Grund hierher: Ein Angehöriger von ihnen ist in dem Hochsicherheitstrakt auf der Insel gefangen.
    Luisa, eine Bäuerin aus der Toskana, hat die lange Reise angetreten, um ihren Mann zu besuchen. Der ist seit zehn Jahren inhaftiert, weil er zwei Menschen getötet hat, einen Bekannten nach einem Streit und später noch einen Aufseher im Gefängnis. Dass ihr Mann jähzornig und gewalttätig sein konnte, bekam Luisa schon bald nach ihrer Heurat am eigenen Leib zu spüren. Nun musste sie ihre fünf Kinder allein großziehen und den Hof mit den 37 Tieren selbst versorgen.
    Paolo, ein ehemaliger Lehrer für Geschichte und Philosophie, ist angereist, um seinen Sohn zu sehen. Dieser hat im „Kampf für die Revolution“ drei Menschen umgebracht und steht immer noch treu zu seiner Ideologie.
    Die dritte, wichtige Figur ist der Strafvollzugsbeamten Pierfrancesco Nitti, der seit einigen Jahren auf der Insel lebt und arbeitet. Der alltägliche Umgang mit den Straftätern hat ihn hartherziger und brutaler werden lassen. Doch über diese Seite seines Wesens kann er nicht mit seiner Frau sprechen. Die aber leidet unter der „ Mauer des Schweigens“, die Pierfrancesco um sich errichtet hat.
    Eigentlich sollten Paolo und Luisa mit der nächsten Fähre wieder abreisen, aber ein Zwischenfall mit einem Gefangenentransport und ein aufziehender, schwerer Sturm , der „ Maestrale, zwingen die beiden, auf der Insel zu übernachten.
    Nitti quartiert sie in einem heruntergekommenen Haus mit eingeschlagenen Fenstern und nur einem Zimmer mit Bett ein. Seine Frau kocht für die ungewohnten Gäste und lädt sie zum Essen ein.
    Die erzwungene Gemeinsamkeit bringt die sonst so unterschiedlichen Figuren einander näher.
    Darüber hinaus passiert nicht viel; der Roman lebt von den Gesprächen und den Erinnerungen.
    Paolo denkt gern zurück an die Kindheitsjahre seines Sohnes, an glückliche Ferien am Meer mit Frau und Kind.
    Aber wie konnte aus dem hübschen, lieben Jungen von damals ein Mörder werden? Trägt er selbst eine gewisse Schuld daran? Hat er nicht seinen Sohn aufmerksam gemacht auf die Ungerechtigkeiten in der Welt? Doch was hat der bewaffnete Kampf gebracht, außer Tod und Leid? Seine Frau Emilia ist zerbrochen an den schrecklichen Verbrechen ihres Kindes; sie starb nach kurzer, schwerer Krankheit. Als Mahnmal für die Taten seines Sohnes trägt Paolo immer das Photo eines dreijährigen Mädchens bei sich, die Tochter eines der Opfer.
    In dieser gemeinsamen Nacht teilen die einfache Bäuerin vom Land und der Intellektuelle aus der Stadt ihren gemeinsamen Schmerz, finden Verständnis , Mitgefühl und Trost beim anderen. Luisa kann endlich weinen, etwas, was sie nicht mehr getan hatte, seit sie elf Jahre alt war. Und die tiefen Seufzer, die Paolo immer wieder ausstößt, werden schwächer.
    Es geht in diesem Roman um Kommunikation, um die fehlende und um die Kraft der Worte. Außerdem stehen hier mal nicht die Täter und deren Opfer im Zentrum, sondern die Angehörigen von Schwerverbrechern. Wie ist ihr weiteres Verhältnis zu ihnen? Wie fühlen sie sich, was empfinden sie? Scham? Mitschuld? Wut?
    Gleichzeitig setzt sich Francesca Melandri mit den Verbrechen der „Roten Brigaden“ und deren Folgen für die italienische Gesellschaft auseinander.
    Die Autorin beschreibt mit sehr viel Einfühlungsvermögen das schwere Schicksal ihrer Figuren. Es ist eine Geschichte voller Trauer und Melancholie, aber nicht hoffnungslos und deprimierend. Dafür sorgt schon die poetische Sprachkunst von Francesca Melandri. Auch die Landschaft und die Natur spielen eine wesentliche Rolle, werden bilderreich und sinnlich geschildert.
    „ Über Meereshöhe“ ist ein packender Roman, der berührt und nachdenklich macht.

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