Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft

Buchseite und Rezensionen zu 'Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft' von Swetlana Alexijewitsch
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft"

Swetlana Alexijewitsch wurde bekannt durch die Dokumentation menschlicher Schicksale und gilt als wichtigste Zeitzeugin der postsowjetischen Gesellschaft. Über viele Jahre hat sie mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe von Tschernobyl zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. Entstanden sind eindring-liche psychologische Porträts, die ungeheure Nähe zu den Betroffenen aufbauen und von höchster Sensibilität und journalistischer Perfektion zeugen.

Format:Taschenbuch
Seiten:282
Verlag: Aufbau
EAN:9783746670232

Rezensionen zu "Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft"

  1. 4
    17. Dez 2015 

    Sehr bewegend

    Zwei Rezensionen zu Tschernobyl haben mich auf das Buch aufmerksam gemacht, es würde einen bewegen und zum Nachdenken anregen, hieß es. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich eigentlich nicht viel über die damaligen Ereignisse, außer das der Atomreaktor explodiert ist. Dieses Buch befasst sich nicht mit den Geschehnisses als solche, sondern mit den Folgen. Und zwar den ganz persönlichen, die der betroffenen Menschen.

    In dem Buch gibt es keine chronologische Reihenfolge der Erzählungen. Wie auch, denn Tschernobyl ist für die Opfer allgegenwärtig und das seit fast 30 Jahren. Egal ob es um die heroische Unterstützung der „freiwilligen“ Arbeiter in den ersten Minuten, die Aussagen von Ärzten, Erziehern und Lehrern, Physikern oder Kindern geht. Sie alle geben Geschichten wieder, die schlicht unter die Haut gehen. Wenn 6- oder 7-jährige Kinder vom Tod berichten, wie er ihr Leben und Denken verändert, weil sie all ihre Freunde oder gar Familie verloren haben, dann verschlägt es einem die Sprache. Sich eine Jugend vorzustellen, die ohne Lachen sondern mit Verachtung über ihre Herkunft aufwächst, ist schlicht grausam.

    Es gab zwei Stellen, die mich mehr als bewegt haben. In der Ersten ging es um einen Mann, der zu einem Team gehörte, dass die Straßen von den streunenden Haustieren befreite. Sie haben die Tiere gesucht, erschossen und in großen Gruben vergraben. So lange bis ihnen die Kugeln ausgegangen sind und sie die lebenden Tiere so hineingeworfen haben. Ein junger Dackel versuchte wieder aus dem Loch heraus zu krabbeln und wurde mit dem Fuß zurück geschubst. Dieses Bild ist mir etliche Tage nicht aus dem Kopf gegangen, als hätte man die Unschuld und Menschlichkeit selbst einfach vergraben, um sie zu vergessen.

    Die zweite Szene ist gleichzeitig die Letzte im Buch. Sie wird von einer Frau wiedergegeben, die ihre große Liebe verloren hat. Vom Kennenlernen, der Entwicklung der besonderen Bindung zwischen ihnen, bis hin zum qualvollen und zähen Tod ihres Mannes, begleitet man sie. Man lernt eine Hülle kennen, die kaum noch fühlt, sich permanent in der Vergangenheit verliert und nicht einmal ihre Kinder wirklich wahr nimmt. Diese Worte haben mich zu Tränen gerürt, weil sie exakt das wiedergeben wofür Tschernobyl tatsächlich steht: unendliches, menschliches Leid – nicht für einen zerstörten Reaktor.

    So gut mir dieses Buch gefallen hat, so gibt es dennoch etwas, dass mich sehr gestört hat: es ist unheimlich schwer zu lesen. Es mutet teilweise an nur Gedankenschnipsel wahrzunehmen, weil die Sätze nur in Abschnitten und ohne Satzzeichnen wiedergegeben werden. Dies mag sicherlich zwei Gründe haben: die Menschen erzählen wie es ihnen gerade in den Kopf kommt sowie die unterschiedliche Tonalität der russischen Sprache. Das macht es zwar autentisch, sprachlich baut sich aber kein Lesefluss auf. Eine leichtere Verarbeitbarkeit hätte für mich ebenfalls zum Literaturnobelpreis gehört.

    Tschernobyl – eine Chronik der Zukunft muss man aber gelesen haben.

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  1. 5
    13. Nov 2015 

    Die Vergangenheit wird die Zukunft sein...

    Über mehrere Jahre hat Swetlana Alexijewitsch mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe von Tschernobyl zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. Was hier entstanden ist, sind eindringliche psychologische Porträts von Menschen, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen mussten. Die Texte weisen eine ungeheure Nähe zu den Betroffenen auf und sind Ausdruck einer Wahrnehmung, die höchster Sensibilität und journalistischer Perfektion entspringt.

    'Schicksal ist das Leben des einzelnen, Geschichte - das Leben von uns allen. Ich möchte Geschichte so erzählen, daß dabei das Schicksal nicht aus dem Blickfeld gerät... Der einzelne...' (S. 50)

    Dies schreibt Swetlana Alexijewitsch zu ihrer Motivation, dieses Buch zu verfassen. Über zwanzig Jahre hat sie gebraucht, um es fertigzustellen, hat Interviews geführt mit zahllosen Menschen, die von dem Supergau des AKWs in Tschernobyl im April 1986 betroffen waren und sind. Als Weißrussin ist Swetlana Alexijewitsch nicht nur Berichterstatterin, sondern gehört auch selbst zu denjenigen, die die Auswirkungen des Reaktorunglücks hautnah zu spüren bekommen - denn auch wenn der Vorfall inzwischen fast dreißig Jahre her ist, sind die Folgen für ein ganzes Volk bleibend und prägen dessen Zukunft auf unabsehbare Zeit. Doch Swetlana Alexijewitsch hat eine Möglichkeit gefunden, Abstand zu wahren, indem sie allein und unkommentiert die Worte ihrer zahllosen Interviewpartner wiedergibt. Als 'Monologe' bezeichnet sie daher die einzelnen Kapitel.

    'Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, er ist ein verseuchtes Objekt.' (S. 49)

    Diesen Satz sagte ein Arzt anstelle der üblichen Trostworte zu der Frau eines Mannes, der wenige Tage nach dem Reaktorunglück im Sterben lag. Erschütternd, wie nach der Katastrophe mit den Menschen umgegangen wurde. Sicher auch aus Hilflosigkeit. Aber ein bestimmtes Menschenbild steckte wohl auch dahinter, auch wenn Swetlana Alexijewitsch sicher recht hat, wenn sie feststellt, dass die Katastrophe an sich nichts mit einer Ideologie oder einer Staatsform zu tun hat.

    Eine mangelhafte Informationspolitik der Regierung gab es nicht nur gegenüber dem Ausland (erst als man zwei Tage nach der Explosion in Schweden erhöhte Radioaktivität an einem Atomkraftwerk maß und Wissenschaftler herausfanden, dass die Strahlung von außerhalb kam, fragte man in Moskau nach, ob dort Ursachen bekannt seien), sondern vor allem gegenüber der Bevölkerung. Dies schuf ein Klima der Absurditäten. Einerseits gab es Zwangsevakuierungen, andererseits aber wurde die Bevölkerung in den umliegenden Gebieten lange nicht über die Gefahr in Kenntnis gesetzt, da man eine Panik vermeiden wollte. Aktionismus auf der einen Seite, Verlogenheit auf der anderen Seite. Die Vertreibung aus den Dörfern, die Erschießung der Tiere, die Vernichtung von allen Dingen, der Pflanzen, selbst der Erde in sogenannten 'Mogilniks' - dabei waren die Gruben meist gar nicht wie vorgeschrieben gesichert, und wenig später wurde alles daraus - wie auch aus den verlassenen Dörfern - geplündert und verschachert. Die Menschen glaubten den offiziellen Stellungnahmen der Behörden rasch nicht mehr, zogen aber ihre Schlussfolgerungen aus dem persönlichen Handeln der einzelnen Behördenmitarbeiter - trugen diese beispielsweise Schutzkleidung, war die Lage bedrohlich. Nichts durfte wahrheitsgemäß dokumentiert und veröffentlicht werden, keine Katastrophenberichte, sondern nur Berichte von Heldentaten. Viele Soldaten meldeten sich freiwillig zum Einsatz im Katastrophengebiet, viele wurden unter Vortäuschung falscher Tatsachen dorthin beordert, manche unter Androhung des Parteiausschlusses oder Schlimmerem zum Einsatz gezwungen. In vielen Fällen wurde ohne ausreichende Schutzkleidung gearbeitet, Wodka galt als Allheilmittel. Es lockten Auszeichnungen, Orden, besondere Vergünstigungen - die Russen: ein Volk der Helden?

    Man hat mir ein Strahlenmeßgerät gegeben, aber was soll ich damit? Wenn ich Wäsche wasche, (...) klickt das Gerät nur so. Wenn ich Essen koche, einen Kuchen backe, klickt es. Wenn ich das Bett mache, klickt es. Was soll ich damit? (S. 183)

    Nun, die Monologe in diesem Buch haben nichts Heldenhaftes. Deutlich wird, dass man in ganz Weißrussland nicht ohne Strahlung leben kann. Tschernobyl hat einem ganzen Volk ein schweres Erbe aufgebürdet, was bei dem einzelnen bestenfalls zu Pragmatismus führt, oftmals aber auch zu Resignation, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Kinder kommen häufig
    entstellt zur Welt, viele mit einer nur kurzen Lebenserwartung. Umgesiedelte sind anderswo gar nicht erwünscht - wie eindringlich das Bild des kleinen Kindes, das von anderen Kindern im Dunkeln auf den Hof gedrängt wurde, um zu schauen, ob es womöglich strahlt. Es gibt gar keine Alternative, als da zu leben wo sie eben leben. Was sonst? Ein ganzes Volk nach Kanada umsiedeln? Die Menschen müssen sich mit den Gegebenheiten und den Folgen wohl oder übel arrangieren. Vor Tschernobyl kamen beispielsweise auf 100000 Einwohner Weißrusslands 82 Fälle von Krebserkrankungen. Heute meldet die Statsitik: 6000 Krebskranke auf 100000 Einwohner. Nur jeder Vierzehnte stirbt noch an Altersschwäche. Solche Zahlen (von denen es nicht viele gibt in diesem Buch) sprechen für sich.

    In diesem Buch kommen zahlreiche an Spätfolgen leidenede Menschen zu Wort oder aber deren Angehörige: die sog. Liquidatoren, die die Aufgabe hatten, das betroffene Gebiet zu dekontaminieren, die Soldaten, die die Zwangsevakuierung überwachten, die Helfer, die dazu beitrugen, die Lecks im AKW abzudichten, zwangsumgesiedelte Menschen, die Rückkehrer, die die unsichtbare Gefahr der Strahlen gegenüber der gefühlten Heimatlosigkeit in Kauf nehmen, aber auch etliche russische Flüchtlinge, die sich in der verstrahlten Umgebung von Tschernobyl niedergelassen haben (z.B. aus Tadschikistan oder aus Krigisien, aufgrund von Vertreibung oder Flucht vor Unruhen), Kinder, Journalisten, ehemalige Politiker und andere Entscheidungsträger - ein großes Spektrum, das verdeutlicht, dass in der Tat das ganze Volk betroffen ist. Ein mittlerweile dreißig Jahre in der Vergangenheit liegendes Unglück, das die Gegenwart bestimmt und eine dauerhaft verstrahlte Zukunft prognostizieren lässt.

    Schön, dass zwischendurch neben all dem Bedrückenden auch ein wenig Platz bleibt für - zugegeben recht schwarzen - Humor:

    Auf dem Markt verkauft eine Frau aus dem Ukrainischen große rote Äpfel. Sie ruft: 'Kauft Äpfel! Tschernobyl-Äpfel!' Jemand empfiehlt ihr: 'Du darfst nicht verraten, daß die Äpfel aus Tschernobyl sind, Tantchen. Sonst kauft sie keiner.' - 'Und wie sie kaufen! Der eine für die Schwiegermutter, der andere für seinen Vorgesetzten!' (S. 76)

    Dieses Buch ist eine imposante Sammlung von Originaltönen von Betroffenen quer durch die Bevölkerung. Unkommentiert abgedruckt, zeigen sie das Grauen und die Ängste der einzelnen, nüchtern oft in der Ausdrucksweise, und doch wird deutlich: die Vergangenheit wird die Zukunft sein. Eine eindrucksvolle und erschütternde Chronik. Und wie Fukushima (Japan) zeigt: nach dem Gau ist vor dem Gau... Niemand ist davor gefeit.

    © Parden

    Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alesijewitsch wurde bekannt durch die Dokumentation menschlicher Schicksale und gilt als wichtigste Zeitzeugin der postsowjetischen Gesellschaft. 2015 wurde ihr „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.

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