Trügerische Anziehung: Roman
Eshkol Nevos vielschichtiger Roman „Trügerische Anziehung“ beschäftigt sich in drei Erzählungen mit Beziehungen unterschiedlicher Art – Mann–Frau, Mutter-Kind, Vater-Kind. Es geht um sexuelle Anziehung, um Liebe, Freundschaft, Verantwortung, Schuld und Tod, aber auch um die Suche nach der eigenen Identität, um Sehnsucht nach dem wahren Leben, nach Glück, Zufriedenheit, Erfüllung. Die Figuren, die uns begegnen, handeln häufig so nachvollziehbar und man kann ihre Ängste, Wünsche und Motivation verstehen. Andererseits werden viele Fehler gemacht und der einzelne steht sich selbst im Weg: die junge Witwe, die sich während der Totenwache mit einem Liebhaber trifft, der angesehen Arzt, der anscheinend einer jungen Medizinerin nachstellt, der Sohn, der die Mutter in einer schwierigen Situation allein lässt. Warum findet der / die einzelne nicht zu seinem / ihrem Glück, obwohl es doch so nahe liegt?
Die Stränge der drei Erzählungen sind lose miteinander verknüpft und wie in einem klugen Vexierspiel sucht der Leser nach Überschneidungen und Verbindungen. Spannend und mit Thriller-Elementen müssen die Fäden entwirrt werden, denn die Wahrheit ist versteckt. Wie war es wirklich? Was ist passiert? Wem können wir trauen? Wie genau kennt man den geliebten Menschen? Diese Fragen durchziehen den Roman und das Suchen und Miträtseln wecken Neugier und bescheren einen soghaften Lesegenuss. Die einzelnen Figuren sind nicht durchweg vertrauenswürdig, die Perspektiven wechseln und immer wieder müssen wir die Darstellungen des Erzählers und den Wahrheitsgehalt hinterfragen.
Eine klare Leseempfehlung für alle, die hintergründige, spannende und ungewöhnliche Geschichten lieben, bei denen gut und böse nicht klar definiert wird, viele Grauschattierungen auftreten, die unterschiedlichen Protagonisten vordergründig charmant und liebenswert wirken, dann aber doch eine ganz andere, dunklere Seite von sich preisgeben.
Omri verschlägt es nach La Paz in Bolivien. Er hat sich eine zweiwöchige Auszeit von seiner Frau und seinem Beruf genommen. Einfach mal weg, kurz vor dem absehbaren Ehe aus mit Orna und dem Beruf, der ihn zunehmend überfordert.
Auf dem Weg zurück zu seinem Hostel wird er von einer attraktiven Frau angesprochen, die einen schweigsamen Mann im Schlepptau führt, auch sie ist Jüdin. Froh darüber mit ihr Hebräisch sprechen zu können, begleitet er die beiden zur angesagten Eisdiele. Es fasziniert und verstört ihn, dass sie, wie einer religiösen Mädchenschule entsprungen wirkt, ihn aber mit hungrigem Blick ansieht. Und als sie ihn am späten Abend in seinem Hotelzimmer besucht, kann er sich ihrem Wirkkreis nicht mehr entziehen.
Dr. Caro hat seine Frau verloren. Während sie in der Onkologie zurückgeblieben ist, geht sein Leben erbarmungslos weiter. Die Kinder haben ein Leben auf anderen Kontinenten gewählt, das einzige, was ihn verlässlich aufrecht hält, ist sein Beruf als leitender Mediziner auf der Station für Inneres. Dort darf er seine Erfahrungen an die jungen angehenden Ärzt*innen weitergeben, unter anderem an Liat-Ben-Abu. In der Pause kommen sie immer häufiger ins Gespräch und Dr. Caro bemerkt zunehmend Gemeinsamkeiten, die sein Interesse an der jungen Frau vertiefen.
Liat beginnt eine Affäre mit einem anderen Arzt der Station, der keinen guten Ruf genießt. Als die Beziehung zu Ende geht, möchte Dr. Caro ihr die Traurigkeit nehmen, allerdings wirbeln die Konsequenzen sein bisheriges Dasein mit zerstörerischer Kraft durcheinander.
Fazit: Eshkol Nevo hat drei Geschichten erschaffen, die nur lose miteinander verbunden sind. Alle Erzählungen haben das Thema Liebe und Verlust gemeinsam. Aus welchen Gründen lassen wir uns auf einen anderen Menschen ein, welche Bedürfnisse glauben wir werden Erfüllung finden? Der Wunsch nach finanzieller Absicherung, der uns dazu treiben kann, über Leichen zu gehen? Das Vertreiben der Einsamkeit und das Sehnen nach Zugehörigkeit? Oder der Frust, der sich in einer jahrelangen Beziehung ansammeln kann und das Begehren einfach daraus auszubrechen und loszulassen? Ganz egal welche Empfindungen uns bewegen, alles hat Konsequenzen, jeder weitere Atemzug entscheidet darüber, ob ich lebe oder nicht. Ich habe dieses Buch mit größter Spannung gelesen. Der Autor hat in mir eine Resonanz erzeugt, die nachhallt. Die Sprache ist spielerisch:
ohrenbetäubendes Schweigen S. 89
und erkenntnisreich:
Vielleicht war ihre Liebe aufgebraucht, bevor sie geheiratet hatte und nun ähnelte sie einem vergessenen Ferienort außerhalb der Saison? S. 42
Die Gedanken, die der Autor in die Köpfe seiner Protagonist*innen zaubert, sind so erhellend selbst erkennend wie bewundernswert lebenserfahren. Allen Geschichten ist ebenfalls gemein, dass die jungen Frauen, ebenso wie die jungen Männer beim Militär und auch bei Einsätzen waren, was mein Gespür dafür bestätigt, wie angespannt die Lage im Mittleren Osten ist.
Dieses Buch ist ein rundum gelungenes Gesamtpaket, das ich unbedingt empfehlen möchte.
Der israelische Autor Eshkol Nevo präsentiert hier drei weitgehend voneinander unabhängige Erzählungen, in denen Menschen sich nicht nur wegen moralischer Vergehen behaupten müssen, sondern auch juristischen Beistand nachsuchen. Die unterschiedlichen Erzähler berichten sehr persönlich aus Ich-Perspektive, nur einzelne Figuren tauchen übergreifend auf.
In „Die Straße des Todes“ begegnet der frisch geschiedene Omri, der Vater einer kleinen Tochter ist, in Bolivien einem Paar auf Hochzeitsreise, Mor und Ronen. Omri spürt schnell eine verwirrende erotische Anziehung zu Mor, die ihn in der Nacht besucht und eigenartige Fragen stellt. Später erfährt Omri, dass Ronen noch während des Honeymoons bei einer Fahrradtour tödlich verunglückt. Omri kommt von Mor nicht los und verstrickt sich in eine verhängnisvolle Affäre voller Widersprüche, die ihn selbst zum Verdächtigen macht.
In „Familiäre Vorbelastung“ lernen wir den erfolgreichen Oberarzt Dr. Asher Caro kennen, der in seinem Beruf aufgeht und sich der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses in seiner Klinik verschrieben hat. Seit dem Tod seiner Frau quälen ihn Trauer und Einsamkeit, die erwachsenen Kinder leben weit entfernt. Mit der jungen, talentierten Kollegin Liat teilt er verschiedene Interessen, beide verbindet eine freundschaftliche Kollegialität, bis es zu einem einschneidenden Vorfall kommt, der Dr. Caro an den Pranger stellt.
Die letzte Erzählung „Ein Mann trat ins Paradies“ ist die anspruchsvollste und symbolträchtigste. Chellis Mann Ofer verschwindet spurlos in einem Obstgarten. Chelli ruft die Polizei und ist überrascht, als sie sich selbst in einer Vernehmungssituation wiederfindet. Die Anzeichen, dass Ofer keinem Verbrechen zum Opfer fiel, sondern freiwillig untertauchte, mehren sich schließlich. Chelli und Tochter Ori sammeln Indizien, die sie auf die Spur des Abtrünnigen bringen sollen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei literarische 100-Wort-Geschichten, die Ofer hinterlassen hat und die Teile seiner Seele offenlegen. Diese dritte Erzählung gibt Einblicke ins israelische Leben und in den staatlichen Überwachungsstaat. Darüber hinaus zeigen sich viele religiöse Anspielungen zu einer Geschichte aus dem Talmud.
Auch wenn man sich auf jede Erzählung wieder neu einstellen muss, habe ich sie sehr interessiert und gerne gelesen. Die Ich-Perspektive lässt dezidierte Aufschlüsse über das Innenleben der jeweiligen Erzähler zu. Aus ihrer Beobachtung treten andere Sichtweisen hinzu, die mitunter widersprüchliche Aspekte desselben Grundproblems offenlegen. Als Leser ist man permanent gefordert. Man hört genau zu, evaluiert, hinterfragt, bestätigt und zweifelt. Der Autor lässt bewusst Leerstellen, er erzählt nicht alles aus, streut aber immer wieder Hinweise wie beiläufig ein. Man muss damit leben können, dass auch die Enden mehrere Deutungsmöglichkeiten zulassen. Insofern eignet sich das Buch hervorragend zur Diskussion in Lesekreisen.
Die jeweiligen Erzähler wirken maximal aufrichtig, müssen aber nicht zuverlässig sein. Sie setzen sich mit den gegen sie erhobenen Vorwürfen intensiv auseinander, indem sie ihr eigenes Verhalten kritisch hinterfragen. Erinnerungen und Rückblicke machen die Figuren nahbar, zeigen auch ihre Schattenseiten auf. Die Charakterzeichnungen faszinieren im Verlauf der Lektüre, gezeigt werden Brüche, Verletzungen, Ambivalenzen und Widersprüche. Saubermänner und -frauen sucht man vergeblich, ganz wie im echten Leben. Man begibt sich dreimal auf eine spannende Spurensuche nach der Wahrheit, die manchmal kriminalistische Züge annimmt, auch wenn es primär um moralische Integrität geht.
Eshkol Nevo beherrscht sein Metier. Sein ansprechender, versierter Schreibstil hat mir gefallen, der Autor überlässt nichts dem Zufall. Im Verlauf ergeben sich viele überraschende Wendungen. Die meisten haben mich überzeugt, manche wirken aber auch aufgesetzt oder höchst unwahrscheinlich. Kleinigkeiten chargieren sogar ins Klischeehafte. Mit dem ominösen Ausgang der dritten Erzählung hadere ich am meisten. Andere in unserer Leserunde waren gerade davon begeistert.
Dennoch hat mir das kaleidoskopartige Spiel mit der Wahrheit und dem Leser spannende Lesestunden beschert, weshalb ich die Sternezahl in meiner Wertung am Ende gerne aufrunde.
Große Leseempfehlung!
Der israelische Autor Eshkol Nevo erzählt hier drei Geschichten, die nur lose Verbindungen zueinander aufweisen. Dennoch haben alle drei Geschichten etwas gemeinsam, sie lassen uns nur das sehen, was die Protagonisten uns sehen lassen wollen, doch ihr Innenleben wird uns in nur in Teilen präsentiert.
In der ersten Erzählung geht es um Omri, einem Musiker, der auf einer Reise ein Paar trifft. Zwischen ihm und Mor, der Frau, knistert es, und als er sie später, nach dem fragwürdigen Unfalltod ihres Mannes wiedersieht, wird mehr daraus. Viele Fragen lassen den Leser an Mor zweifeln, ob Mor wirklich ehrlich ist mit dem was sie erzählt.
Die zweite Geschichte ist ganz anders aufgebaut. Hier ist es ein gut situierter Arzt, Witwer, der sich zu einer Assistenzärztin hingezogen fühlt, allerdings eher väterlich, sofern man ihm dies wirklich glauben darf. Eine Berührung löst eine gewaltige Welle aus, die auch hier am Ende wieder Zweifel aufleben lässt.
Die dritte und auch letzte Geschichte ist etwas abgedrehter. Sie schildert wie ein Mann seine Frau auf einem Spaziergang stehen lässt, und spurlos verschwindet. Die Frau und die Tochter suchen ein Jahr lang nach Spuren, um an Ende etwas sehr abgedrehtes zu erfahren. Was kann ein Mann alles vor seiner Frau verbergen, ohne das sie es ahnt?
Der Autor hat einen tollen Stil, der mich sehr begeistert hat. Auch wenn mir die letzte Handlung beinahe zu abgehoben war, finde ich den Kern, die Aussage des Ganzen doch sehr zutreffend auf das, was uns Menschen ausmacht. Jeder lässt die anderen nur das sehen, was er ihnen zeigen möchte. Sicherlich ist es nicht immer so ausgeprägt wie es hier dargestellt wird, doch ich denke niemand ist ganz frei davon.
Hier wird obendrein sicher auch noch ein großer Anteil dessen einfließen, was für die israelitische Bevölkerung prägend ist und war. Der Autor verpackt auch diese Dramen in diesem Buch, zwar dezent, aber sie sind da.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, es ist anders, regt zum nachdenken an, und konnte mich auf jeden Fall begeistern.
Drei Beziehungsgeschichten aus Israel – was ist wahr, was nicht? Kann man sich selber glauben?
Ich habe dieses Buch gerne gelesen; es war mir nie langweilig damit, aber es ist nicht drin, was drauf steht: Roman. Es handelt sich um drei Erzählungen, die allerdings thematisch ähnlich sind, geht es doch in allen um Irrtümer in problematischen Beziehungen, um trügerische Fehleinschätzungen, die falsche Hoffnungen erwecken, so wie der deutsche Titel nahelegt. Erstaunlicherweise lautet er im Original so wie die letzte Geschichte: 'Ein Mann trat ins Paradies', was man als passend für alle drei Geschichten ansehen könnte und was eine Anspielung auf den Talmud ist.
Da ist zum einen Omri, frisch geschieden, der sich auf eine Beziehung zur geheimnisvollen Mor einlässt, die ihn später zu einem fatalen Fehler überreden will. Ist sie eine traumatisierte junge Frau in Schwierigkeiten oder eine 'Straßenkatze', wie sie von einigen genannt wird? Omri sieht zwar seinen Fehler: 'Ich bin nur ein Mann, der blind einer Frau gefolgt ist, die die richtigen Knöpfe gedrückt hat.' (86), aber er kann sich anscheinend nur schwer von ihr lösen, weil sie ihm wieder so etwas wie Lebenslust gegeben hat.
Ein ähnlicher Fall zeigt sich in der zweiten Geschichte, wo ein gerade verwitweter, 68-jähriger Arzt, der seine Frau schrecklich vermisst, sich von einer jungen Assistenzärztin angezogen fühlt, die ähnliche Interessen wie er hat und für die er ein Beschützergefühl entwickelt. Oder ist es mehr? Ein Vorfall, dessen wahrer Charakter nicht geklärt wird, bringt ihn in Schwierigkeiten.
Die dritte Geschichte fängt spektakulär an: während eines Spaziergangs in einer Obstplantage verschwindet der Ehemann spurlos, eine beängstigende Situation. Seine Leiche wird nie gefunden. Nach und nach erfährt der Leser einiges über ihre zuerst harmonisch erscheinende Ehe und der verschwundene Ofer wird immer rätselhafter. Zwar gibt der Autor einige Hinweise und präsentiert auch kurze Texte des Verschwundenen, die aber schwer zu entschlüsseln sind. Ein paar versteckte Hinweise gibt es, aber letztlich bleibt alles ungewiss. Diese Geschichte hat mir wegen des psychodelischen Traumes am Ende nicht so gut gefallen.
Fazit
Es sind drei rätselhafte Geschichten über das menschliche Miteinander, so ungewiss, wie das Leben manchmal ist. Der Autor taucht tief in die Psyche der Hauptpersonen ein, deren Denken und Handeln man aber nie ganz verstehen kann. Es fragt sich, ob sie sich selber verstehen. Jedenfalls vermittelt es dem Leser Einsichten in die komplizierten Beziehungen von Mann und Frau und den Wahrheitsgehalt von dem, was man von anderen oder sich selber glaubt. Ich werde gerne noch mehr von Eshkol Nevo lesen.
Komplexe Verstrickungen menschlicher Beziehungen und die Suche nach Wahrheit
Eshkol Nevo, ein Meister der feinen Beobachtung und psychologischen Tiefe, bringt mit „Trügerische Anziehung“ einen Roman, der die Leser auf eine emotionale und gedankliche Achterbahnfahrt mitnimmt. Das Buch erzählt die Geschichten von drei Protagonisten: Omri, Dr. Caro und Chelli, deren Leben durch unerwartete Ereignisse und Begegnungen aus der Bahn geworfen wird, während sie nach Erklärungen für ihr eigenes Handeln und das der anderen suchen.
In „Trügerische Anziehung“ zeigt Eshkol Nevo eindrucksvoll die komplexen inneren Welten seiner Charaktere und deren Handlungen. Omri wird von einer mysteriösen Frau fasziniert, die entweder eine trauernde Witwe oder eine Femme fatale ist. Diese Ambiguität zieht ihn an und lässt ihn ständig zwischen Vernunft und Verlangen schwanken. Nevo verdeutlicht hier, wie stark die menschliche Neugier und die Suche nach Wahrheit die Wahrnehmung und Entscheidungen beeinflussen können.
In der zweiten Geschichte versucht der Arzt Dr. Caro, seine junge Kollegin zu beschützen, wobei freundschaftlich väterliche Gefühle und sexuelles Begehren sein Handeln beeinflussen.
Nevo gelingt es, die feinen Nuancen der Beziehungen und die Grenzen zwischen professioneller Distanz und persönlicher Fürsorge sensibel darzustellen.
Besonders eindrucksvoll ist die Geschichte von Chelli, die den Albtraum erlebt, dass ihr Mann während eines gemeinsamen Spaziergangs im Obstgarten spurlos verschwindet. Diese mysteriöse und schmerzliche Erfahrung stürzt sie in eine Krise, in der sie die Wahrheit über ihre Ehe und ihr eigenes Leben hinterfragt. Nevo beschreibt den emotionalen und psychologischen Aufruhr, der durch plötzliche und unerklärliche Verluste ausgelöst wird, mit großer Eindringlichkeit und Sensibilität.
Nevos Fähigkeit, komplizierte Bindungen und komplexe Charaktere in subtile, aber eindrucksvolle Geschichten zu verwandeln, macht seinen Roman besonders. Er verzichtet auf übertriebene Dramatik und setzt stattdessen auf leise, aber tief gehende Emotionen und Gedanken.
Besonders gefallen hat mir die zweite Geschichte, da der Autor hier stilistisch geschickt Musikstücke in die Erzählung integriert.
„Dann legte ich Schubert auf: die A-Dur-Sonate D 664.“ S. 213
Die A-Dur-Sonate D 664 von Franz Schubert, auch bekannt als „Klaviersonate Nr. 13“, wurde 1819 komponiert und ist ein typisches Beispiel für Schuberts lyrischen Stil. Sie ist leicht zugänglich und freudig, mit einem ruhigen, nachdenklichen zweiten Satz und einem beschwingten Rondo zum Abschluss. Diese musikalische Struktur unterstreicht die positive Ausstrahlung der Erzählung.
Im Roman wird die Sonate von Dr. Caro als Metapher für die emotionale Reise der Figuren verwendet.
Dr. Caro beschreibt die Sonate wie folgt:
„Die Sonate beginnt mit meinem Lieblingsmotiv, das während des ganzen Stücks immer wiederkehrt und mit jedem Mal anders klingt: Wie ein Kinderspiel. Wie eine Aufforderung zum Tanz. Wie ein pochendes Herz nach einem Badeunfall. Wie eine strenge Rüge. Wie die Erleichterung nach dem Schmerz. Wie das Älterwerden. Wie etwas, das man für einen Augenblick hatte und dann wieder verlor.“ S. 213
Israelische Bräuche und religiöse Symbolik spielen eine entscheidende Rolle bei der Interpretation des Textes. Der Obstgarten als „pardés“ symbolisiert das Konzept des Garten Gottes und steht metaphorisch für spirituelle Erfüllung. Die Zahl Hundert hat im jüdischen Kontext eine besondere Bedeutung, die Dankbarkeit und spirituelle Achtsamkeit widerspiegelt. In der jüdischen Tradition wird empfohlen, täglich 100 Segenssprüche zu sprechen, was sich in den 100 Worten und 100 Geschichten im dritten Teil des Romans widerspiegelt. Diese Struktur symbolisiert spirituelle Vollständigkeit und Erfüllung.
Gott wird im Roman sowohl als „Gott der Orthodoxen“, der Gebote und Gebete fordert, als auch als innerer Gott dargestellt, der den Protagonisten hilft, mit Entbehrungen umzugehen.
Ungewollt enthält der Roman auch einen Bezug zur Realität.
„Nachdem die Thailänder an uns vorübergefahren waren, hörten wir in der Ferne Musik. Trance-Musik von einer Party. Eine Outdoor-Party, sagte Ofer.“ S. 221
Dieser Satz hat es in sich. Er führt uns in die. Realität, die der Autor sich ausgedacht hat und bittere Wahrheit wurde.
„Dass die dritte - die titelgebende - Geschichte "Ein Mann trat ins Paradies“, in der eine männliche Person in einem Hain verschwindet und sich auf einen Rave verirrt, uns heute als Parabel auf das Massaker der Hamas auf dem israelischen Supernova Festival und die Traumata des 7. Oktober verweist, ist der Aktualität geschuldet. "Die Endszene des Buches ist ein Fest, es ist eine Rave-Party", sagt Nevo. "Als ich diese Szene 2020 schrieb, dachte ich an die unschuldigen Partys, an denen ich als Jugendlicher teilgenommen habe." Doch seit dem 7. Oktober bekommt diese Szene eine völlig neue Bedeutung.“
Quelle: https://www.ndr.de/kultur/buch/tipps/Roman-Truegerische-Anziehung-Ein-Me...
Das Cover zeigt eine Grafik von Marleigh Culver mit schwarzen, schwingenden Linien auf graublauem Hintergrund, die hin und wieder zu einer dicken Linie verschmelzen wie bei einer Achtbahnfahrt.
Eine Danksagung und besonders Zitate runden die drei Erzählungen ab.
Fazit
„Trügerische Anziehung“ von Sokol Nevo ist ein beeindruckendes Werk, das tiefgehende Einblicke in die menschliche Psyche und zwischenmenschliche Beziehungen bietet. Die intensive Erkundung der innersten Gedanken, Zweifel und Konflikte der Charaktere macht das Thema besonders herausfordernd und anspruchsvoll. Nevo gelingt es, durch seine präzise und eindringliche Erzählweise den Leser dazu zu zwingen, sich mit den komplexen emotionalen und psychologischen Dynamiken zu beschäftigen. Dabei werden unbequeme und oft widersprüchliche Aspekte des menschlichen Lebens aufgezeigt, die die Lektüre zu einer intensiven Erfahrung machen."
Ich meine: Eine besondere Leseerfahrung mit viel Tiefe.
Dieser Roman besteht aus drei Geschichten, die lose miteinander verwoben sind.
Es geht in allen drei sowohl um das Thema Verlust und damit verbundener Trauer als auch um das Thema Liebe. Eine attraktive junge Frau verliert auf ihrer Hochzeitsreise in Bolivien auf einer Mountainebike Tour ihren Mann. Sie beginnt schon vor diesem Verlust, bei dem unklar bleibt, ob es ein Unfall ist oder gar Mord, einen heißen Flirt mit Omri, ein Israeli wie sie, der auf der Reise die Scheidung von seiner Frau verarbeiten will. Der 68jährige Chefarzt Dr. Caro hat vor kurzer Zeit seine Ehefrau verloren, sie starb an Krebs. Der trauernde Witwer fühlt sich zu seiner deutlich jüngeren Assistenztärztin hingezogen. Die Mitte 40jährige Ehefrau Chelli verliert bei einem Spaziergang durch eine Zitrusplantage ihren Ehemann, er verschwindet zwischen den Bäumen und taucht nicht mehr auf.
Die drei Protagonisten Omri, Dr. Caro und Chelli haben ein ausgeprägt liebevolles Verhältnis zu ihren Kindern, was der Autor in eindrucksvoller Weise durch Rückblicke auf Szenen ihres familiären Alltags schildert. Man spürt förmlich die behagliche Wärme, die Familie geben kann.
Die drei Geschichten haben jeweils Elemente eines Krimis, aber auch einer Liebesgeschichte. Letzteres nicht in einem romantisch, kitschigen Sinn. Geschildert werden vielmehr die vielfältigen Aspekte der Anziehung zwischen Mann und Frau: Erotische Leidenschaft; freundschaftlich väterliche Gefühle, in die auch sexuelles Begehren einfließen; die über die Jahre gewachsene tiefe Liebe zwischen Eheleuten.
Um diese Bandbreite abzubilden, baut der Autor Elemente in die Storys ein, die konstruiert wirken könnten, m. E. aber ein wirksames Mittel im Gesamtzusammenhang des Romans bilden. Was sehr gut deutlich wird ist, dass in den Irrungen und Wirrungen zwischenmenschlicher Beziehungen vieles nicht erklärbar und damit uneindeutig bleibt, je nachdem, aus wessen Sicht berichtet wird und je nachdem, welche Erfahrungen jeder Einzelne in seinem Leben gemacht hat. Wie deute ich die Wahrnehmung anderer, was ist wahr, wo hört die individuelle Interpretation eines Geschehens auf, wo fängt sie an ? All diese Fragen werden durch die psychologisch fein, aber eben nicht eindeutig, ausgeleuchteten Charaktere aufgeworfen.
Hauptschauplatz des Romans ist Israel. Der Leser erfährt vom jüdischen Brauch der Schiw'a, der Trauer in der ersten Woche nach dem Begräbnis mit Besuchen von Freunden, Bekannten und Angehörigen des Verstorbenen. Man bekommt eine Ahnung davon, wie es ist, in Israel zu leben. Auch die beschriebenen Orte, z. B. die wüstengleichen Landschaften, ein Berg in Obergaliläa, von dem aus man den See Genezareth und das Mittelmeer sehen kann, die Wohnsituationen, Staus auf Autobahnen auch hier, die Hitze und schließlich im letzten Teil die Zitrusplantage, tragen dazu bei.
Das hebräische Original des Romans lautet übersetzt "Ein Mann betritt einen Obstgarten", eine Anspielung auf eine Geschichte aus dem Talmud, auf die m. E. die drei Geschichten in ihrer Essenz wie auf einen Höhepunkt zusteuern. Zu erwähnen ist unbedingt der Soundtrack des Romans, der sich über die Bandbreite von King Crimson Rock bis hin zu einer Klaviersonate Schuberts erstreckt, was die Fähigkeit Nevos, Gefühle in Worte zu fassen, noch verstärkt.
Ich bin begeistert von diesem Roman, für mich ein Meisterwerk. 5 Sterne !
Der neue Roman von Eshkol Nevo bezieht sich locker auf eine Geschichte aus dem Talmud und ist im Original auch danach benannt: Ein Mann trat ins Paradies. Der Roman besteht aus drei Stories vom Umfang einer Novelle, die sehr lose miteinander verbunden sind. Erst die letzte Geschichte, die in einem Orangenhain ihren Anfang nimmt, vereint alle Protagonisten, was aber inhaltlich nebensächlich bleibt. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist vielleicht, dass das hebräische Wort für Paradies auch „Obstgarten“ bedeuten kann.
In allen Geschichten ist das typische israelische Lebensgefühl permanenter Bedrohung mehr oder weniger greifbar. Dass in der dritten Geschichte Bezüge zum Überfall der Hamas am 8. Oktober 2023 bestehen, und zwar zum Massaker von Re´im, ist ein fast schon mystisches Zusammentreffen, denn das israelische Original ist bereits 2021 veröffentlicht worden.
Bei jeder der drei Stories bleiben Zweifel: Stimmt das so wirklich? Etwas wurde zurückgehalten und kommt später ans Licht, und immer noch fragt man sich: War das jetzt alles? Kommt noch was? Die Figuren wollen ihre Version glaubhaft machen, manchmal auch sich selbst gegenüber, und die Leserin muss entscheiden, ob sie daran glauben will. Aber es geht im Roman nicht nur um Lügen, sondern auch um Selbstbetrug: Kann ich meinem dunklen Zwilling in die Augen schauen? Kann ich zugeben, dass ich einen Fehler gemacht habe? In zwei der Geschichten wird das zu einer existenziellen Frage.
Schuld und Verantwortung ist das Thema, es geht darum, wie gut man seine Nächsten kennen kann, um fließende Grenzen – zwischen Treue - Untreue, Mann – Frau, Cis – Queer, Schuld – Unschuld, Lüge – Wahrheit. Und darum, dass sich in einem Menschen auch Gegensätze vereinen können.
„Ich dachte, dass es nicht zwingend ein Entweder–Oder sein musste. Entweder Femme fatale oder vom Unglück verfolgt. Entweder sie mochte mich oder sie hatte mich benutzt. Durch und durch gute Menschen gab es nur in Hollywood-Filmen. Echte Menschen sind beides.“
Der Verlauf der drei Geschichten ist bei jeder vollkommen unvorhersehbar, eine Qualität an sich. Das liegt einmal an Nevos beeindruckendem schriftstellerischem Können, aber auch an einem Übermaß an Konstruiertheit. Der Autor greift zu tief und zu offensichtlich in die Trickkiste.
Im ersten Teil ist das noch nicht der Fall; diese Geschichte hat mich am meisten überzeugt. Die zweite Story bemüht unwahrscheinliche Zufälle, und im dritten Teil wurde es mir endgültig zu viel: Haben die Widersprüche vorher in den Figuren selbst gelegen, verlagern sie sich nun auch auf das Setting. Die Chronologie passt nicht, bestimmte faktische Elemente stimmen nicht überein, die Uneindeutigkeit wird um der Botschaft willen allzu gewollt hergestellt. Dazu kommt ein Abdriften in Traum- und Trancewelten, was auf mich ziemlich befremdlich wirkte und dazu führt, dass der dritte Teil für sich steht und die Einordnung ins Genre Roman zweifelhaft werden lässt. Natürlich ist jeder Roman ein Konstrukt, schreibt jeder Autor um ein Gerüst herum, um seine Botschaft rüberzubringen. Die Kunst besteht darin, das Gerippe zu verbergen. In Nevos Roman schimmert es deutlich durch.
Dennoch erzeugt Nevo immer wieder beträchtlichen Lesesog, weil man einfach neugierig ist, wie er seine teils sehr gewagten Konstrukte auflösen wird. Gelungen in diesem Roman fand ich die facettenreiche Zeichnung der Figuren, die bei aller Fehlbarkeit nahbar und sympathisch wirken und niemals vorgeführt werden.
Ein Roman, der sich leicht und unterhaltsam liest, auch wenn ich mir die Konstruktion eleganter gewünscht hätte.
Rätselspass mit Nevo
Der neue Roman des vielfach preisgekrönten israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo war in Israel das am häufigsten verkaufte Buch in einem Jahr. Dies weckt hohe Erwartungen. Dennoch bin ich weitgehend ohne Erwartungshaltung an die Lektüre herangegangen. Für mich war es der erste Roman aus der Feder von Nevo. Rückblickend und vorwegnehmend kann ich sagen: sicher auch nicht der letzte.
Im als Roman etikettierten Buch geht es im Grunde um drei Einzelgeschichten, die aber durch das lockere Band der Uneindeutigkeit thematisch lose miteinander verknüpft sind. Wenn man so will, ein Etikettenschwindel. Allein ob ein vages, verbindendes Thema die Ansammlung mehrerer Geschichten zu einem Roman macht, könnte man sicher kontrovers diskutieren. Viel Diskussionsstoff bietet aber auch jede der einzelnen Geschichten. In zwei der Geschichten geht es um ein moralisches Dilemma: Sollte man einem Anderen zuliebe, falsche Aussagen machen und damit gleichzeitig ggfs. unangenehme Konsequenzen riskieren? Eine spannende Frage und ein gemeinsames Grundmuster 2 der 3 Geschichten, das ich gerne auch in der 3. Geschichte in einer wieder anders gearteten Variante wiedergefunden hätte. Tatsächlich fand ich keinen Zugang zur dritten Geschichte, in der es um ein plötzliches Verschwinden eines Mannes geht. Die anderen beiden Geschichten las ich soweit gerne. In er einen geht es um Omri, der sich zu Mor, die ihre Hochzeitsreise gemeinsam mit ihrem Ehemann in Bolivien verbringt, erotisch hingezogen fühlt. Man fragt sich, ob sie den liebevoll und fürsorglich auftretenden Vater, der allerdings mit Eheproblemen kämpft, gezielt verführt und seine Standfestigkeit testet? Als ihr Mann bei einem Unfall, der möglicherweise keiner war, zu Tode kommt, bittet Mor ihn zu ihren Gunsten auszusagen.
In der zweiten Geschichte geht es ebenfalls um eine Art trügerischer Anziehung eines Arztes zu einer Kollegin. Ihm droht eine Anklage wegen sexuellem Missbrauch, da seine Finger ihm nicht immer so gehorchen, wie sie sollten. Auch hier wird der männliche Protagonist mit einer Gewissensfrage konfrontiert. Meiner Meinung nach lassen sich diese beiden Geschichten gut vergleichend diskutieren, da sie ein gemeinsames Grundmuster aufweisen. Das hat mir gut gefallen.
Grundsätzlich hat mich das Buch gerade wegen der programmatischen Bearbeitung von Uneindeutigkeit angesprochen; in sprachlicher Hinsicht lässt es sich gut lesen. Ich muss jedoch sagen, dass mir einige Darstellungen zu stereotyp geraten sind, gerade was die männlichen Protagonisten betrifft. Hätte es das wirklich gebraucht? Auch erschienen mir einige Wendungen recht aus dem Hut gezaubert; es gab mitunter ein paar Zufälle zu viel. Mit der letzten Geschichte konnte Nevo mich gar nicht erreichen. Ich habe sie schlicht nicht verstanden.
Dennoch ziehe ich eine posititve Gesamtbilanz und würde es noch mit anderen Werken des Autoren probieren.