Treue: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Treue: Roman' von Hernan Diaz
4.9
4.9 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Treue: Roman"

Am Anfang steht das Geld. Und ein Mann, der es zu vermehren versteht wie kein Zweiter. In der schillernden New Yorker Finanzwelt der 20er-Jahre wächst Benjamin Rasks Vermögen ins Unermessliche. Aber erst seine Ehe mit der geheimnisvollen Helen gibt seinem Leben Sinn. Bald vibriert die ganze Stadt vor Gerüchten um das enigmatische Paar, und mit der Zeit beginnen die vielen Erzählungen die Wahrheit über die Eheleute zu verschleiern. Bis sich eine unerwartete Stimme in dem Gewirr Gehör verschafft. "Treue" ist ein fulminantes Spiel mit dem Leser, eine vierteilige Matroschka, deren Kern den großen amerikanischen Mythos des Kapitals für immer verändert. Was als klassischer Roman über Macht und Männer beginnt, gipfelt in einer provokanten und hochmodernen Geschichte der Emanzipation.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:416
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446273757

Rezensionen zu "Treue: Roman"

  1. Alter Wein in neuen Schläuchen?

    "Treue" (im Orginal Trust) von Hernan Diaz ist ein aktuell gefeierter Roman, der es auf die Longlist für den Booker Preis 2022 geschafft hat. 

    Auf den ersten Blick scheint es "alter Wein in neuen Schläuchen" zu sein: Erzählt wird die Geschichte des Börsenspekulanten Benjamin Rask, der im Manhattan der 20er Jahre erfolgsein sein Vermögen zu mehren versteht. Selbst beim Börsencrash im Jahr 1929 steht er als Gewinner dar, gilt aber gleichzeitig als mitverantwortlich für den Bankrott zahlreicher Geschäfte und Warenhäuser. Verheiratet ist er mit Helen Brevoort, die den sozialen und geselligen Part bedient und sich für wohltätige Zwecke einsetzt. Von außen betrachtet scheint das Paar recht ungleich und irgendwie nicht zueinander zu passen. Es geht neben dem Finanz- und Machtthema einerseits auch um die Besonderheit der Beziehung dieses Ehepaares. Schließlich geht es auch um Helens psychische Krankheit, der sie nach mehreren experimentellen Behandlungsmethoden in einer Schweizer Heilanstalt erliegt. 

    Insbesondere der Haupterzählstrang dieses Romans wirkt wie eine Geschichte über Möglichkeiten und Grenzen des amerikanischen Traums. Damit allein wird man Diaz' Roman sicherlich aber nicht gerecht, zumal die erzählte Geschichte erst mal nur einen "Roman im Roman" darstellt: Dieser erste Teil des gesamten Romans trägt den Titel "Verpflichtungen" und wurde von Harold Vanner verfasst. Insgesamt gibt es aber vier Teile mit je eigenem Titel, in einem je eigenen literarischen Format und mit individueller Autorenschaft. Das literarische Verwirrspiel beginnt. Diese Erzählkonstruktion wurde verschiedentlich mit der russischen Matroschka verglichen.

    In Diaz' Roman ist es nun so, dass die verschiedenen Perspektiven, die in den verschiedenen Teilen entwickelt werden, einander widersprechen. Als LeserIn sieht man sich mit einem literarischen Rätsel konfrontiert, in dem man verschiedene Puzzelteile sortieren und am Ende zusammenfügen muss. Dabei ist man sich jederzeit bewusst, dem Wissensstand stets hinterherzuhinken. Dieses ist sehr gut gemacht, auch wenn die Grundidee, ein bestimmtes Geschehen auf verschiedene Arten und Weisen innerhalb eines Romans immer neu und anders zu erählen, keineswegs neu ist. Ich denke beispielsweise an Calvinos "Wenn eine Reisender in einer Winternacht". Aber auch wenn Diaz' Erzählkonstrukt nicht wirklich innovativ ist, so ist es doch außerordentlich gut umgesetzt. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, genauer auf die einzelnen Teile und deren jeweilige Perspektiven einzugehen. Gerade bei diesem Buch ist es eine schwierige Gratwanderung, zu entscheiden, ab wo das Spoilern beginnen würde. Ich überlasse es hier der interessierten Leserschaft, sich möglichst unvoreingenommen in diesen Roman fallenzulassen. 

    Sehr gerne spreche ich für diesen auch in sprachlicher und stilistischer  Hinsicht sehr ansprechenden Roman eine Leseempfehlung aus. 

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  1. Ein Finanzgenie

    New York in den 1920er-Jahren: Die Wirtschaft boomt, die Finanzbranche wächst. Und ein Mann profitiert davon besonders. Selbst beim großen Börsencrash 1929 fährt er saftige Gewinne ein. Welche Art Mensch ist er? Und wie ist dieser erstaunliche Erfolg bloß möglich?

    „Treue“ ist ein Roman von Hernan Diaz.

    Meine Meinung:
    Der Roman gliedert sich in vier Teile, die als Werke unterschiedlicher Urheber ausgegeben werden: der Roman „Verpflichtungen“, eine Autobiografie, ein Memoir und ein Tagebuch, erzählt aus verschiedenen Perspektiven. Ein interessanter und gut durchdachter Aufbau.

    Die Geschichte fokussiert sich auf die 1920er- und 1930er-Jahre, umspannt aber auch weitere Jahrzehnte. Ihr Schwerpunkt liegt in New York.

    Sprachlich variiert der Roman sehr stark. Das passt einerseits hervorragend zu den verschiedenen, teils unzuverlässigen Erzählstimmen, ihren jeweiligen Hintergründen und Intentionen. Andererseits sorgt dies dafür, dass mich manche Teile mehr, manche weniger angesprochen haben. Vor allem der zweite Teil ist in stilistischer Hinsicht kein Vergnügen. Festzustellen ist aber, dass es der Autor trefflich versteht, mit Sprache umzugehen. Immer wieder tauchen kluge Sätze und Gedanken auf, die man sich merken möchte.

    Für mich gibt es im gesamten Roman keine klassischen Sympathieträger. Dennoch haben wir es mit reizvollen Charakteren zu tun, die bewusst ein wenig ambivalent und diffus bleiben.

    Inhaltlich dreht sich die Geschichte - zumindest vordergründig - um Reichtum, Macht, Moral und Deutungshoheit. Der Handel an der Börse und die Finanzwelt nehmen breiten Raum ein. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen, denn es gelingt Diaz sehr gut, diese Themen verständlich zu machen. Darüber hinaus steckt aber noch viel mehr darin, wobei ich an dieser Stelle nicht zu viel vorwegnehmen möchte. Ich kann allerdings verraten, dass Täuschung und Wahrheit weitere zentrale Motive sind. Alles in allem ist die Geschichte facettenreich und vielschichtig angelegt.

    Auf den mehr als 400 Seiten gibt es durchaus kleinere Längen. Durch die unterschiedlichen Perspektiven kommt aber dennoch keine Langeweile auf. Zum einen kann der Roman immer wieder überraschen. Zum anderen entsteht ein spannendes Verwirrspiel, was den Lesesog noch verstärkt. Sobald man glaubt, man habe verstanden, wie sich alles zugetragen hat, lässt ein neues Mosaiksteinchen das zuvor Gelesene in neuem Licht erscheinen. Erst am Ende ergibt sich ein vollständiges Bild. Dann wird die Gesellschaftskritik in Gänze ersichtlich, die dazu führt, dass der Roman noch länger nachhallt.

    Nur ein kleines Manko: Der deutsche Titel kommt bei Weitem nicht an die Mehrdeutigkeit des englischsprachigen Originals („Trust“) heran und passt nach meinem Empfinden nur mäßig gut zum Inhalt.

    Mein Fazit:
    Mit „Treue“ ist Hernan Diaz ein in mehrfacher Sicht ungewöhnlicher und kreativer Roman gelungen. Eine besondere Geschichte mit vielen Ebenen, die zwar ein wenig Ausdauer erfordert, die sich aber lohnt. Eine empfehlenswerte Lektüre und ein Lesehighlight des Jahres 2022.

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  1. Einzigartig

    Einzigartig

    Der Roman "Treue" von Hernan Díaz ist in 4 Abschnitte unterteilt. Jeder Abschnitt ist im Grunde genommen ein eigenständiges Buch. Es handelt sich also um eine Zusammenstellung von 4 Werken, zusammengefasst zu einem. Der Vergleich mit den Matroschka-Figuren, die ja sicher jeder kennt, ist durchaus passend, da man beim lesen schnell merkt, dass alles miteinander verstrickt ist. Das eine steckt im anderen, man muss es nur ans Licht holen!

    Der erste Teil ist mit "Verpflichtungen " von Harold Vanner betitelt, und erzählt wie der Börsenspekulant Benjamin Rask zu dem wurde, was er war, nämlich ein reicher Mann, der sich alles leisten konnte. Als seine Frau Helen mit einem sehr schweren Leiden in eine Nervenklinik in die Schweiz gebracht wird, merkt er, dass man nicht alles mit Geld bekommen kann.

    Im zweiten Teil erfahren wir die Geschichte des Finanziers Andrew Bevel. Schnell wird klar, dass der erste Teil des Buches mit dem zweiten eng verknüpft ist. Mehr noch, hier lesen wir die Biografie Bevels, der diese nur verfasst hat, um dem Schriftsteller des Romans Verpflichtungen, etwas entgegenzusetzen. Bevel erkennt in dem Roman, sein Leben und das seiner Frau Mildred, wieder, allerdings ist er mit den Schilderungen nicht einverstanden. Laut ihm sei vieles erfunden und nicht korrekt dargestellt. Seine Biografie ist allerdings noch nicht komplett ausgereift, es wurde einiges nur stichpunktartig festgehalten.

    Dieser Umstand erklärt sich im dritten Teil, in dem wir durch Ida Partenza erfahren, wie die Biografie zustande gekommen ist. Ida ist eine begabte junge Italienerin, die sich auf einen Posten in Andrew Bevels Firma bewirbt. Sie ahnt am Anfang nicht was sie erwartet, und geht als bald insofern in der Sache auf, dass sie ein unheimlich großes Interesse an den Tag legt, um das wahre Leben von Mildred Bevel zu ergründen. Keine der beiden Versionen scheinen Mildred gerecht zu werden.

    Durch den vierten Teil bekommt der Leser nun endlich Antworten, auf die er schon lange gewartet hat.

    Das gesamte Konzept ist sehr originell und man ist während des Lesens ständig im Zweifel über den Wahrheitsgehalt des gelesenen. Die Absichten die Vanner und Bevel antreiben ihre Version zu erzählen, liegen nicht direkt auf der Hand. Auch dies ist etwas, was der Leser sich nach und nach erarbeiten muss. Das meiste wird erst am Ende komplett klar, bis dahin muss man sich mit den eigenen Spekulationen begnügen. Und genau dieses raten und spekulieren macht dieses Buch aus.
    Es dreht sich durch Andrews Tätigkeit natürlich vieles um die Finanzwelt. Ein Thema, dass mich persönlich eher langweilt, meine Kenntnisse zu den einzelnen Transaktionen sind ebenfalls eher begrenzt. Doch trotz allem hat mich dieses ausgetüftelte Werk in seinen Bann gezogen. Es besticht durch seine Andersartigkeit! Klare Leseempfehlung!

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  1. 5
    04. Aug 2022 

    Außergewöhnliches Leseerlebnis

    Hernan Díaz, dessen Debut „In der Ferne“ 2018 für den Pulitzer Preis und den PEN/ Faulkner Award nominiert war, hat nun mit „Treue“ seinen zweiten Roman vorgelegt.
    Leicht irritiert ist der Leser, wenn er das Buch aufschlägt. Denn nach Titel und Autorenname findet sich ein Inhaltsverzeichnis mit vier verschiedenen Texten von vier verschiedenen Autoren. Womit haben wir es hier zu tun?
    Das erste Buch „ Verpflichtungen“ stammt von dem ( fiktiven?) Schriftsteller Harold Vanner, 1938 veröffentlicht. Es erzählt die Geschichte vom spektakulären Aufstieg des amerikanischen Finanzgenies Benjamin Rask und dessen Ehefrau Helen. Aus reichem Hause stammend -seine Familie schaffte ein Vermögen mit dem weltweiten Handel von Tabak -verlegt er sich auf finanzielle Transaktionen und hat riesigen Erfolg damit. Doch er findet wenig Gefallen an Luxus; Politik und Macht sind auch nicht seine Ziele. Ihm geht es um die Vermehrung des Geldes als Selbstzweck. Seine Ehefrau Helen entstammt einer alten, angesehenen Familie, „ deren Vermögen nicht mit ihrem Namen Schritt gehalten hatte.“ Sie ist außerordentlich klug und begabt und findet ihre Erfüllung im philanthropischen Mäzenatentum.
    Beim großen Börsencrash nutzt Rask die Mechanismen des Marktes und verdient am Verlust anderer. Seine Geschäfte mögen legal gewesen sein, moralisch verwerflich waren sie allemal. Sein guter Ruf schwindet und nach Helens Tod verlässt ihn sein finanzielles Glück.
    Hier haben wir es mit einem konventionellen Gesellschaftsroman zu tun, geschrieben in der Tradition eines Henry James oder einer Edith Wharton.
    Der nächste Text nun unterscheidet sich sprachlich und stilistisch ganz stark vom ersten. Es sind die Memoiren eines Andrew Bevel, in dem wir unschwer die reale Vorlage für Benjamin Rask erkennen. Verärgert über den erfolgreichen Schlüsselroman von Harold Vanner will er nun seine Version der Geschichte publizieren. Er findet seine Geschäftspraktiken völlig verfälscht dargestellt und das Andenken seiner Frau beschmutzt. Mit sehr viel Eitelkeit geht es ihm darum, sich und seine finanziellen Strategien ins rechte Licht zu rücken, seine wirtschaftsliberalen Thesen zu verbreiten und seine Frau zu überhöhen. „ Unser Wohlstand ist Beleg unserer guten Taten.“
    Dieser Text ist fragmentarisch. Immer wieder finden sich noch zu ergänzende Lücken, Platzhalter, die genauer ausgeführt werden sollen und mehr.
    Mit dem dritten Text ergreift eine Frau das Wort. Unter dem Titel „ Erinnerte Memoiren“ versetzt sich die nunmehr alt gewordene Schriftstellerin Ida Partenza in die Zeit zurück, als sie für Andrew Bevel als Sekretärin arbeitete und dessen Memoiren in eine druckreife Form bringen sollte. ( So macht auch der Pleonasmus im Titel Sinn. )
    Hier werden wir als Gegenpol zur reichen Finanzwelt, zur Wall Street nach Brooklyn, ins Viertel italienischer Einwanderer, versetzt. Ida ist die Tochter eines italienischen Anarchisten, der ihre Arbeit bei einem Kapitalisten sehr kritisch sieht. Schließlich kämpft er schon sein Leben lang gegen alles, was Bevel verkörpert. Auch Ida sieht, wie sich Bevel die Wahrheit zurechtbiegt, damit sie in sein Weltbild passt. Und rückblickend fragt sie sich, ob sie Bevels Ehefrau gerecht wurde, indem sie seinen Anweisungen folgte.
    Aufschluss darüber gibt der letzte und kürzeste Abschnitt des Romans, die Tagebuchaufzeichnungen der kranken Mildred Bevel. Dieser Teil ist das eigentliche Zentrum, denn hier wartet der Autor mit einem Überraschungseffekt auf und danach sieht man die ganze Geschichte in einem völlig neuen Licht.

    Was sich jetzt vielleicht nach einer komplizierten Struktur anhört, liest sich dank der Erzählkunst von Hernan Díaz erfrischend leicht und höchst vergnüglich. Wie ein Detektiv macht sich der Leser auf, den unterschiedlichen Fährten und Spuren zu folgen. Dabei fragt er sich immer wieder, wer hier die Wahrheit erzählt, wem er glauben und vertrauen kann und welche Absicht hinter den Verfälschungen und Verdrehungen steckt.
    An der Figur des reichen Finanzmoguls Rask/ Bevel zeigt Díaz die Mechanismen eines zügellosen Kapitalismus und zerstört den Mythos des Selfmademans, der sich ganz allein aus eigener Kraft nach oben schafft. Ohne das geerbte Kapital, ohne den familiären Hintergrund einer wohlhabenden Familie hätte er es nie so weit gebracht. Vertuscht wird die Gier nach dem Geld mit dem immer wiederkehrenden Mantra, man habe nicht nur sein eigenes Interesse im Blick, sondern jegliches Tun gelte ebenso dem Wohl der Allgemeinheit, des Staates.
    An dem Verhältnis zwischen dem Ehepaar zeigt der Autor, welche Rolle die Männer damals ihren Frauen zugeordnet haben. Während sämtliche Männer im Roman ( auch der Anarchisten- Vater ) Kinder ihrer Zeit sind, so sind die Frauen ihrer Zeit weit voraus.
    Neben der originellen Konstruktion überzeugt der Roman auch mit seiner literarischen Qualität.Die Sprache ist elegant, anschaulich, manchmal ironisch ( „ Nach drei Generationen gescheiterter Politiker und Romanciers hatten sie einen Zustand würdevoller Prekarität erreicht.“) und voller bemerkenswerter Sätze. „ Der feine Herr von heute ist der Emporkömmling von gestern.“
    Der Autor vermag es, jedem Abschnitt einen eigenen Stil, eine eigene Tonlage zu geben. Humor zeigt er auch, wenn er im dritten Teil Ida Überlegungen anstellen lässt zu den literarischen Vorbildern und der literarischen Qualität von Vanners Kurzroman.
    Leider hat der deutsche Titel „ Treue“ nicht die Doppeldeutigkeit des amerikanischen „ Trust“, der einerseits „ Vertrauen“ meint, aber auch auf auf das Wirtschaftswesen anspielt mit dem „ Trust“ als Großkonzern oder Treuhandgesellschaft. „ Vertrauen“ als Titel hätte mir passender erschienen, denn darum geht es vor allem im Roman. Wem kann man trauen, wem glauben ? Welcher Erzähler kommt der Wahrheit am nächsten? Aber es steht ebenfalls für das Vertrauen, das sich die Eheleute entgegenbringen.

    Fazit: „ Treue“ ist ein außergewöhnliches Leseerlebnis und mit Hernan Díaz gilt es einen großartigen Erzähler zu entdecken. Zu Recht steht auch sein zweiter Roman auf der Nominierungsliste für den Man Booker Prize 2022.

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  1. 5
    04. Aug 2022 

    "Vertrauen" muss es heißen

    “Treue” heißt in der deutschen Ausgabe ein Roman des argentinischen Autors Hernan Diaz, der in verschiedenen Teilen eine Geschichte rund um das Thema Vertrauen („Trust“ – so der wesentlich bessere englische Originaltitel) erzählt. Dabei nimmt der Roman den Leser mit in das New York der Wolkenkratzer-Aufbau-Jahre der 1920er. Die Wall Street und das Finanzwesen nehmen immer größeren Raum ein in der Stadt und tragen dazu bei, dass die Stadt ihr heutiges, unverwechselbares architektonisches Aussehen bekommt. Ein Protagonist dieser Zeit und des Geschehens ist Andrew Bevel, der von seinen Vorfahren Reichtum erbt, aber sehr viel mehr Gefallen daran findet, sich seinen Reichtum in den neuen Börsenstrukturen selbst zu schaffen.
    Über das Leben von Bevel erhalten wir in diesem Roman zwei verschiedene Versionen. Zum einen hat der Schriftsteller Vanner eine Biografie von Bevel und dessen Ehefrau Mildred geschrieben. Zum anderen arbeitet auch Bevel selbst an einer Version seiner Biografie, da er mit der Romanversion von Vanner so gar nicht einverstanden ist, sich selbst darin unverstanden fühlt und insbesondere die Darstellung seiner Frau als misslungen und vollkommen missverständlich einschätzt.
    Der Leser liest beide Texte (von Nr. 2 eine noch unfertige Version) als zwei aufeinanderfolgende Abschnitte des Romans und ist verwundert: Warum die gleiche Geschichte zweimal irgendwie gleich und doch mit so vielen und durchaus erheblichen Unterschieden? Diese Frage löst sich dann im dritten Teil des Romans auf, in dem wir über die Entstehungsgeschichte der Bevel-Version seiner Biografie lesen. Die Leser lernen Ida kennen, Tochter eines nonkonformistischen italienischen Einwanderers, die in den Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit versucht, sich Fähigkeiten anzueignen, die ihr gegen alle Widerstände eine Stellung und eine Stelle im Leben verschaffen können. Tatsächlich erhält sie eine Anstellung bei Andrew Bevel und erkennt erst Schritt für Schritt, dass es sich dabei nicht um einen normalen Sekretärinnenposten handelt, sondern darum, Bevel stenotypistisch und schriftstellerisch bei der Erstellung seiner Biografie zu unterstützen. Sie steht gegenüber ihrem Vater und Freunden mit dieser Anstellung in klarer Opposition, denn in den Kreisen des Vaters bedeutet das Börsengeschehen und das Wirken der Börsenmagnaten, wie Bevel einer ist, die reine Ausbeutung und verbrecherisches Wirken. Doch ein noch viel stärkeres Hindernis für Idas Arbeit ist die Verschlossenheit ihres Arbeitgebers, der zwar einerseits in dem zu erstellenden Buch sein Leben offenlegen möchte, aber gleichzeitig aus vielen Seiten seines Lebens ein Geheimnis macht und alles dafür tut, dass die Gesellschaft und mit ihr auch Ida nichts davon erfahren. Und so geht Ida auch auf eigene Faust auf die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis und kommt dabei immer wieder an die Grenzen des Vertrauens. Wem kann sie wirklich vertrauen? Was an Vanners Darstellung entspricht der Wahrheit? Was an Bevels Erzählungen ist schlicht falsch? Welche anderen Möglichkeiten hat sie, Erkenntnisse zu gewinnen, ohne ihren Arbeitgeber vor den Kopf zu stoßen? Ein mehr als schwieriges Umfeld also, in dem dieses Buch entstehen soll, dass dann aber gar nicht entsteht, sondern abgebrochen werden muss, da Bevel mitten in seinem Entstehungsprozess plötzlich verstirbt.
    Und so bleibt die Arbeit mit Bevel in Idas Leben eine bloße Episode auf ihrem Weg hin zu einer erfolgreichen Schriftstellerin. Doch als dann Jahre, ja Jahrzehnte später Bevels Besitz der Öffentlichkeit als Museum zugänglich gemacht wird, packt sie wieder die Neugier der Vergangenheit und erneut versucht sie, sich Klarheit zu verschaffen darüber, was wirklich damals geschehen ist und vor allem, was für eine Person Mildred Bevel wirklich war. Um das zu entschlüsseln werden ihr tatsächlich Mildreds Tagebücher zur Verfügung gestellt. Aber kann man denen trauen?
    Im vierten Teil des Romans können sich die Leser diese Frage selber stellen, wenn sie die fragmentarischen Texte dieser Tagebücher ungefiltert vor Augen haben. Und wieder ergibt sich ein Bild, das den ersten beiden Versionen der Geschichte deutlich widerspricht. Hier ist Mildred diejenige, die sich im Börsengeschehen tummelt und die entscheidenden Entscheidungen und Entschlüsse fällt, die Bevels Ruf als Börsentitan begründen.
    Aber was stimmt denn nun? Welche der Versionen kommt der Wirklichkeit nah? Welcher Version kann man vertrauen? Diese Frage ist nach Lektüre des Romans für mich nicht zu beantworten. Eher erschüttert der Roman irgendwie jegliches Vertrauen in das geschriebene Wort. Und untermauert vielmehr: es gibt nicht die eine, einzige Wahrheit.
    Jede Wahrheit ist nur eine Version der Wirklichkeit, gespiegelt durch die Individualität und das individuelle Interesse des Verfassers.
    Rund um diese Aussage hat Diaz den Roman mit einem beeindruckenden strukturellen Konzept geschrieben. Der Roman hat mich an verschiedenen Stellen überraschen können und doch schließt sich am Ende logisch und konsistent ein Kreis, der kaum besser diese Aussage auf den Punkt bringen könnte. Deshalb gebe ich eine klare Leseempfehlung ab und mit ihr 5 Sterne. Warum der deutsche Verlag allerdings den Titel „Treue“ gewählt hat, bleibt mir vollkommen verschlossen.

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  1. "Die Genealogie des Geldes"

    "Wenn Kapital Kapital erzeugt, das Kapital erzeugt" dann hat man das Perpetuum Mobile des wachsenden Reichtums entdeckt und kann die Finanzmärkte beherrschen. So zumindest ergeht es Benjamin Rusk, dessen Vorfahren den Grundstein ihres Familienvermögens im Tabakhandel legten. Rusk jedoch stößt nach den ersten Wirtschaftskrisen, die Amerika Ende des 19. Jahrhunderts erschütterten, die verderbliche Ware ab, zieht nach New York und investiert lieber an der Börse. Sein Aufstieg ist kometenhaft, seine Bewunderer versuchen seinen Strategien zu folgen, doch Rusk scheint dem Geschehen auf dem Parkett immer einen Schritt voraus zu sein.
    Die ersten Börsenbeben der 1920er Jahre lassen ihn immer reicher werden und als es schließlich 1929 zum großen Crash kommt, viele Geschäftsleute ruiniert sind und die Krise im Land erschreckende Ausmaße annimmt, werden die kritschen Stimmen laut, die behaupten, dass dieser Schlamassel allein Rusk anzurechnen wäre.

    Im Geschäftlichen läuft alles bestens, Rusk hat eine außerordentliche Begabung für Zahlen. Seine Frau Helen hingegen engagiert sich für die Kunst und sieht sich verpflichtet, mit den steigenden Gewinnen ihres Mannes, ihre Wohltätigkeit auszuweiten. Sie scheint das komplette Gegengewicht ihres geschäftstüchtigen Ehemannes zu sein und geht in ihrem Mäzenentum auf, bis sie eines Tages krank wird und das Erbe ihres Vaters, der dem Wahnsinn verfiel, antritt.

    Harold Vanner weiß von dieser Familiengeschichte zu erzählen und hat einen kurzen Roman darüber verfasst, dem Diaz einen Platz an erster Stelle seines Buches gibt.

    Im Anschluss erfahren wir von einem ganz ähnlichen Finanzmagnaten an der New Yorker Börse. Es ist die Autobiografie des Andrew Bevel. Sie weist Lücken auf, ist mit Platzhaltern versehen und kleinen Notizen, wie diese zu einem späteren Zeitpunkt zu füllen seien.

    Hintereinander gelesen, bekommt der vorangegangene Roman ein Innenleben und was eben noch eine Erkenntniss war, darf bezweifelt werden. Doch Diazs "Treue" begnügt sich nicht mit einer Schachtel in der Schachtel, sondern der Leser darf sich noch auf zwei weitere Ebenen begeben, bevor er herausfindet, dass....

    Haha, nein! Es wäre ein Verbrechen einem zukünftigen Leser das Vergnügen des Auspackens einer raffiniert verstrickten Geschichte zu nehmen, die wirklich bis zum Schluss überraschend bleibt. Aber selbst wenn man ahnt, dass hinter den großartigen und zitierungswürdigen Passagen, eine noch weitaus schockierendere Geschichte erzählt wird, kann man die ersten "Umverpackungen" nicht vergessen.

    Diaz weiß mit Worten, Längen, Vergleichen und Andeutungen, die es zu deuten gilt, umzugehen und hat mich mit einer intelligenten, fulminanten Geschichte überzeugt. Absolut klasse!

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  1. 5
    02. Aug 2022 

    Ein hochwertiges Stück literarischer Detektivarbeit

    trust [trʌst] s 1. Vertrauen, Zutrauen; 2. Stiftung; 3. Investmentgesellschaft, Großkonzern, Trust, Kartell; 5. Treuhandschaft, Pflegschaft; usw.

    Der Titel des englischsprachigen Originals dieses Romans von Hernan Diaz ist „Trust“. Und genau dieses „Trust“ enthält in seiner Bedeutungsvielfalt bereits die wichtigsten Komponenten des Romans. Vordergründig geht es um ein Ehepaar der New Yorker Finanz-High-Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Um diese Ehepartner herum konstruiert nun Diaz ein kongeniales literarisches Puzzlespiel, in welchem es für die Leserschaft heißt herauszufinden, welcher Darstellung von Personen, deren Leben, historischen Ereignissen und scheinbaren Sachverhalten sie vertrauen kann und welcher nicht. Schon der schweizerische Politiker Ernst Reinhardt sagte: „Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ Der zweite Teil des Zitats wird häufig vernachlässigt, sollte mit Blick auf den Roman jedoch fast noch stärker hervorgehoben werden: „Aber die Nachwelt behält sich Korrekturen vor.“ Ob die Korrekturen immer "der Wahrheit" zuträglich sind, hinterfragt der vorliegende Roman.

    So lässt uns Diaz mithilfe von vier Texten das literarische Puzzle nach und nach zusammensetzen, über welches inhaltlich an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden sollten. Denn jeder Leser und jede Leserin sollte für sich selbst die vielen Aha-Momenten erleben und die Raffinessen des Romans entdecken können. Durch eine kongeniale Konstruktion führt der Autor seine Leser:innen zunächst aufs Glatteis, nur um sie dann wieder Schritt für Schritt mit der – in dieser Form bisher noch nicht an anderer Stelle gesehenen - Technik der Perspektivvariation und pointierten Formulierungen davon herunterzugeleiten; hin zu einer Annäherung an „die Wahrheit“. Die mitunter diametralen Darstellungen münden in einem überraschenden, fulminanten Finale. Dabei bleibt der Roman in seiner Gesamtheit stets konsistent und lädt dazu ein, nach Abschluss der Lektüre gleich noch einmal von vorn zu beginnen, um noch einmal alle Kniffe dieses Ausnahmeautors erfassen zu können und das Buch mit neuen Augen zu lesen.

    Es handelt sich hierbei um ein Gesamtkunstwerk der Spitzenklasse, welches man keinesfalls allein auf einen „Finanzroman“ reduzieren sollte. Es werden menschliche Abgründe genauso erzählt wie Verschleierungen von Geschehnissen, Vertrauen(-sverlust) in Menschen und Erzählinstanzen. Um den Roman mit einem Zitat aus ebendiesen zu beschreiben: „Die Erwartungen und Ansprüche der Leser waren dazu da, gezielt durcheinandergebracht und untergraben zu werden.“ Und ebenso in Anlehnung an ein Zitat aus dem Buch, kann man sagen, dass „Treue“ nicht nur Literatur ist, sondern auch Beweisstück. Man muss den Ungenauigkeiten und Freiheiten genauso auf die Schliche kommen wie den Beschönigungen und Selbstverherrlichungen, um letztlich bestenfalls einen Eindruck von den wahren Personen und Geschehnissen dahinter zu erhaschen. Denn „Treue“ zeigt, wie die Realität zurechtgebogen werden kann, je nachdem wer die Deutungshoheit hat.

    Mit der Hoffnung zwar viel über die herausragende Qualität und Kreativität des Romans gesagt aber nur wenig über den Inhalt verraten zu haben, beschließe ich meine Rezension mit der dringenden Empfehlung, dieses Buch zu lesen. Für mich handelt es sich hierbei um ein echtes Meisterwerk und Lesehighlight dieses Jahres. Dem Autor bleibt zu wünschen, dass er den Booker Prize 2022, für welchen er mit „Trust“ nominiert ist, auch gewinnt. Denn dieses Stück sprachlich hochklassiger, emotional und kognitiv mitreißender, bestechend konstruierter sowie großartig von Hannes Meyer übersetzter Literatur verdient nicht nur fachliche Anerkennung, sondern auch ein großes, begeistertes Publikum.

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  1. Von der Macht des Geldes

    Kurzmeinung: Endlich mal wieder ein großartiger Erzähler am Werk!

    Hernan Diaz hat in seinem neuen Roman „Treue“ die Finanzwelt aufs Korn genommen. Aber einmal so richtig. Haupt-Handlungszeitraum und Handlungsort sind die 1920iger in New York, Höhepunkt dieser Zeit ist der Börsencrash 1929, doch gibt es chronologische Ausschläge des Romans bis in die Neuzeit. Die Thematik des Romans hat nur entfernt etwas mit „Treue“ zu tun, man muss tief graben, um derartige Beziehungen herzustellen, es geht um Weltsicht und um Geld.

    Im Mittelpunkt des Romans steht ein Finanzhai, ein Finanzmagnat, der Probleme mit der Weltsicht hat, beziehungsweise damit, wie ihn die Welt sieht und der mit allen möglichen Mitteln versucht, das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm hat, in seinem Sinne zurechtzurücken. Ist er nicht eher ein Wohltäter der Menschheit, der Arbeitsplätze bereitstellt und letztlich das ganze Land finanziert? Davon zeugen auch zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen, die seine Familie gründete. Er, eine Stütze der Menschheit, soll zum Börsencrash 1929 beigetragen haben und Tausende von Menschen in den Ruin getrieben haben. Das ist glatter Rufmord. Zum Beweis führt der Financier unter anderem seine Familienchronik an, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, sie weist ehrenwerte Geschäftsmänner und Gentlemen auf, die in Tabak und Baumwolle machten, mit Bereitschaft zum Risiko klug investierten und schließlich Privatbanken gründeten. Und was wäre die moderne Gesellschaft ohne Bänker? Sie würde nicht existieren können.

    Der Kommentar:
    Wie Hernan Diaz mit den unterschiedlichsten stilistischen Mitteln, auf humorige und geistreich-listige Weise seinem Thema beikommt, die Finanzwelt abbildet und seinen Protagonisten in seinen Bemühungen, sich rechtzufertigen und reinzuwaschen, entlarvt, ist ein einziges Lesevergnügen. Macht korrumpiert, das ist eine alte Weisheit. Aber auch das Bonmot „Geld regiert die Welt“ stimmt. Wer schreibt die Geschichte der Reichen? Doch die Reichen selber.

    Hernan Diaz literarischer Stil ist hochpreisig, hochwertig. Er schreibt Aphorismen in seinen Text, „der feine Herr von heute ist der Emporkömmling von gestern“, es ist eine Freude, sie zu entdecken; er baut ein Rätsel auf, das der Leser lösen muss – was ist Wahrheit? - er ist lyrisch „das letzte Leuchten des Sommers, vermischt sich mit den ersten Atemzügen des Herbstes“ und seine Protagonisten bestechen bis in die Nebenfiguren hinein. Mit der seitens der Leserschaft vielbeschworenen und geforderten Tiefe und Originalität, hat Diaz keine Probleme, seine Textkomposition ist zudem ausgefallen und gewieft. Diaz ist witzig und spart nicht mit Seitenhieben bezüglich der Gesellschaft; über die moderne Musik lässt er seinen Protagonisten beispielsweise sagen „der Großteil der Musik klang wie der Moment, wenn die Musiker ihre Instrumente stimmen.“ Bravo! Last but not least: Diaz ist unterhaltsam! (Was zu beweisen war).

    Authentisch muss sein Text nicht sein, es liegt ihm fern, ein genaues, reales Abbild von Börsengeschäften zu liefern, so wie sie sind - und dennoch bekommt man einen Einblick in das Denken und das Leben von denen, die denken, sie seien der Nabel der Welt. Wer wissen will, wie Bankgeschäfte „in echt“ und in allen Details funktionieren, muss ein Fachbuch lesen. Oder das WallStreetJournal.

    Fazit: Hernan Diaz, geboren 1973 in Argentinien und recht eigentlich ein Weltenbürger, heute in New York ansässig, ist ein großartiger Erzähler, der alle Fähigkeiten mitbringt, damit ein Roman gelingt. Er weiß, wie es funktioniert und tut es uns mit überdies mit diesen Worten kund: „die Erwartungen und Ansprüche des Lesers sind dazu da, gezielt durcheinandergebracht und untergraben zu werden.“ Wer Diaz auf dieser Grundlage liest, wird nicht enttäuscht werden. Ganz im Gegenteil. Die volle Punktzahl ist selbstverständlich.

    Lesehighlight. Leseempfehlung!

    Kategorie: Literatur mit Anspruch
    Verlag: Hanser 2022

    Auf der Longlist des Man Booker Prize, 2022.

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  1. Hernan Diaz ist ein großer Erzähler

    Hernan Diaz Roman „Treue“ lebt von seiner ungewöhnlichen Konstruktion, einer großartigen, immer treffenden Sprache, den zahlreichen Hinweisen und gelegten Fährten, die es zu entschlüsseln gilt, und einem Blick auf die Gesellschaft, der mit mehr als einem Klischee bricht.
    Der Roman besteht aus vier Texten mit jeweils unterschiedlichen fiktiven Autor:innen.
    Zunächst lesen wir den Roman „Verpflichtungen“, der von einem Autor namens Harold Vanner verfasst wurde. Der Fokus liegt dort auf der Lebensgeschichte des New Yorker Finanzgenies Benjamin Rask, der durch geschickte Transaktionen an der Börse und einer enormen Intuition sein ohnehin schon großes Vermögen bis ins Unermessliche steigern konnte. Aus den diversen Börsencrashs, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1929 die Wirtschaft erschütterten, ging er grundsätzlich als Sieger hervor. Harold Vanner erzählt zugleich die Geschichte von Helen Brevoort, die aus einer berühmten, zwischenzeitlich verarmten Familie stammt und die Ehefrau von Benjamin Rask wird. Harold Vanner beleuchtet die Ehe und versucht die Beziehung der beiden zu ergründen.
    Beim zweiten Text handelt es sich um die unvollständigen Memoiren von Andrew Bevel, einem New Yorker Financier, der ebenfalls in den 1920er Jahren seinen Reichtum durch Börsenspekulationen vermehren konnte. In einer trockenen, zuweilen zäh zu lesenden Selbstbeweihräucherung berichtet Bevel von seinen Erfolgen und seiner lieben Frau Mildred. Ich bin Hernan Diaz sehr dankbar, dass er diesen Text fragmentarisch kurz gehalten hat.
    Der dritte Teil nennt sich „Erinnerte Memoiren“ und wurde von Ida Partenza verfasst, die wir als alte Frau kennenlernen. Sie erzählt rückblickend von ihrer Familie und ihrer Arbeit als Privatsekretärin beim größten Financier an der Wall Street. Der Erzählstrang der Vergangenheit lässt sich zeitlich ebenfalls auf die 1920er Jahre datieren. Seit ihrer Arbeit für den New Yorker Financier beschäftigen sie Fragen, die sie nun im Alter durch die Freigabe von Archivunterlagen, die aus dem Privatbesitz eines verstorbenen Financiers stammen, zu klären hofft. Ida begibt sich auf Spurensuche und nähert sich einer ungeschönten Wahrheit an. Der letzte Text bietet uns einen Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen von Mildred Bevel. Es sind diese letzten Aufzeichnungen, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen und zu diversen A-ha-Momenten führen.

    Es ist unmöglich, detaillierter vom Inhalt zu erzählen. Teil der Lesefreude sind nämlich die zahlreichen Irritationen, Verbindungen, falsche und richtige Fährten, die Diaz präsentiert, die erlebt und entdeckt werden wollen. Jeder der Texte erfordert Aufmerksamkeit, ein permanentes Mitdenken und Neusortieren des Gelesenen. Ein Interesse für die Welt des Geldes ist nicht zwangsläufig nötig, um diesen Roman genießen zu können. Diaz zeichnet ein sehr lebendiges Bild der damaligen Zeit und beleuchtet Fragen, die sich um Reichtum, Macht, Moral, Geschichtsschreibung und Geschlechterverhältnisse drehen. Eine weitere Stärke des Romans liegt in der sprachlichen Umsetzung. Diaz beherrscht die Kunst, eine Geschichte zu erzählen. Seine Formulierungen treffen messerscharf, erweitern Denkräume und bescheren pures Leseglück. Ich wünsche diesem Roman viele Leser:innen.

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  1. Ein vielschichtiges, intelligentes Lese-Highlight

    Hernan Diaz´ zweiter Roman genießt so viele Vorschusslorbeeren, dass er gleich in zwanzig Sprachen übersetzt wird. Die Inhaltsangabe weist vier Teile mit jeweils verschiedener Urheberschaft aus. Ungewöhnlich, denkt man sich, und liest los. Alle Teile erzählen ähnliche Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven (der Verlag spricht von einer vierteiligen Matroschka). Man braucht jeden einzelnen Teil, um zum Kern vorzudringen. Im Fokus steht ein irrsinnig erfolgreicher Geschäftsmann im New York der 1920er Jahre, der dank vorausschauender, rücksichtsloser und kluger Finanzgeschäfte an der Börse zu enormem Reichtum kommt.

    Beim ersten Teil handelt es sich um einen Roman. Dort werden uns Benjamin Rask und seine spätere Frau Helen vorgestellt. Benjamin weiß nach einer eher unglücklichen, einsamen Jugend das Vermögen des Vaters zu vermehren. Er entdeckt seine Passion und sein Talent für die Finanzmärkte. Dank seiner Intelligenz und seinem ausgeprägten Sinn für Logik, Analytik und Mathematik kann er unglaubliche finanzielle Erfolge verzeichnen: „Auf seine wenigen Niederlagen folgten große Triumphe. Wer auf seiner Seite der Geschäfte stand, der wurde reich.“
    Auch Helen Brevoort hat eine wechselhafte Jugend erlebt. Sie wurde allein von ihrem Vater unterrichtet, die exzentrische Mutter zerrte das Mädchen durch Europa, man lebte auf Kosten vermeintlicher Freunde, Heimat blieb ein Fremdwort. Es mutet märchenhaft an, als diese beiden, Benjamin und Helen, sich verbinden. Junges Geld findet einen alten Namen – eine bekannte Geschichte wieder neu erzählt, denkt man. Wir dürfen als Leser erleben, wie das Imperium Rask zu wahrer Blüte gedeiht und sogar den Unbilden des desaströsen Börsenjahres 1929 zu trotzen weiß. „Inmitten der allgemeinen Verwüstung stand nur noch Rask aufrecht zwischen den Trümmern. Und er ragte höher auf als je zuvor, da ein Großteil der Verluste der anderen Spekulanten sein Gewinn geworden war.“ Dieser Höhenflug bleibt nicht ohne Folgen.

    Beim zweiten Teil lesen wir ein Manuskript für die Autobiografie eines Andrew Bevel, die im Grunde vom dritten Teil, den „Erinnerten Memoiren“ von Ida Partenza, flankiert wird. Der vierte Teil „Vereinbarungen“ liefert den Schlüssel zum Ganzen. Mehr möchte ich über den Inhalt nicht preisgeben. Alles andere sollte sich ein jeder selbst erlesen dürfen. Alle Teile stehen miteinander in Verbindung, schaffen neue Sichtweisen und Perspektiven, die dazu führen, dass man sicher Geglaubtes wieder hinterfragt, dass man kombiniert und rätselt. Immer wenn man meint, der Wahrheit auf der Spur zu sein, schafft es Diaz, seine Leser wieder zu verwirren. Das geschieht auf eine dermaßen raffinierte, intelligente Art, dass es ein Erlebnis ist. Diaz führt uns nebenbei in die Finanzwelt der 1920er Jahre ein. Doch keine Sorge, er erklärt alles, was nötig ist, man sollte sich keinesfalls davon abschrecken lassen, denn geht nicht nur um Geldgeschäfte und Erfolg, sondern nicht unwesentlich auch um die persönliche Beziehung eines Ehepaares, das in dieser Glamourwelt zum Paar des öffentlichen Interesses wird.

    Den dritten Teil hat Diaz auf zwei Zeitebenen angelegt. Wir lernen die zauberhafte Ida Partenza kennen, die sich in der Gegenwart auf Spurensuche in die Vergangenheit begibt. Mit ihr wird ein Gegenentwurf zur kalten Finanzwelt geschaffen. Immer wieder blitzt Kritik an den herrschenden Sozialnormen der damaligen Epoche auf, das Zeitkolorit wirkt authentisch. Diaz´ Charakterzeichnungen sind durchgehend treffsicher und vielschichtig. Kleinere Ausflüge in die Klischeeabteilung verzeihe ich gern, weil mit ihnen gleichzeitig Humor verbunden ist.

    Hernan Diaz ist ein großartiger Geschichtenerzähler! Hier baut er ein mehrschichtiges Konstrukt, das er in der amerikanischen Vergangenheit ansiedelt, in dem er viele Themen unterbringt und Bezüge zur Gegenwart herstellt. Dafür findet er verschiedene Töne (klassisch, sachlich, modern, fragmentarisch – aber immer gekonnt), absolut faszinierend! Auch die kleinen Fingerzeige und Anmerkungen am Rande, die die Fantasie des Lesers anregen („Die Erwartungen und Ansprüche des Lesers waren dazu da, gezielt durcheinander gebracht und untergraben zu werden“) oder die Bonmots („Reichtum gleicht weniger einem Granitblock als vielmehr einem Flussbecken mit zahlreichen Flüssen und Seitenarmen.“), die man als allgemeingültige Weisheiten herausschreiben möchte… Ich komme aus dem Schwärmen nicht heraus, die Sprache ist ein Genuss!

    Es geht natürlich um den (zeitlos) unübersichtlichen Finanzmarkt und seine Profiteure, um die Stellung der Frau und deren Emanzipation, um Diskriminierung, um Einwandererschicksale, um die Verlässlichkeit von Erinnerungen, um Treue/-bruch und Vertrauen – und vieles mehr. Jeder Teil ist für sich fesselnd, die komplette Genialität dieses Romans ergibt sich aber erst mit den letzten Seiten. Erst dann kann man dem Bild das letzte Puzzlesteinchen zufügen - mit einem Aha-Erlebnis ersten Ranges! Es ist Hernan Diaz beeindruckend gelungen, seinen Plot komplett und in sich schlüssig über die Ziellinie zu bringen. Man möchte gleich noch einmal zu lesen anfangen, um auch jeden Fingerzeig zu erkennen. Hannes Meyer hat diesen komplexen Roman kongenial ins Deutsche übertragen. Er ist ein Highlight am Literaturhimmel. Eigentlich reichen hier fünf Sterne nicht. Bitte denkt euch den sechsten hinzu und lest dieses Buch!!!

    Riesige Lese-Empfehlung!

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