Tigermann

Rezensionen zu "Tigermann"

  1. Warum der Tiger tötete ...

    „Tigermann“ beginnt mit einer schockierenden Nachricht, die sich rasch verbreitet: Margio, ein junger Mann, hat seinen Nachbarn durch Bisse in den Hals getötet. Für die javanische Dorfgemeinschaft, in der jeder jeden kennt, ist diese Tat völlig unverständlich. In der Zelle sitzend nach seinem Tatmotiv befragt antwortet Margio ruhig, er sei es nicht gewesen, sondern der Tiger, der in seinem Körper lebe.

    Erst ganz zum Schluss mit dem letzten Satz löst sich die Frage, warum es zur bestialischen Tötung kam. Diese Erkenntnis am Ende hat mich mitten ins Herz getroffen und ist absolut stimmig.

    Eka Kurniawan füllt die Seiten seiner Erzählung hauptsächlich mit Rückblicken. Im Fokus steht dabei Margios Familie, die aus sehr ärmlichen Verhältnisse stammt und unter den Wut- und Gewaltausbrüchen des Vaters leidet. Einen größeren Raum nimmt auch das schwierige Verhältnis ein, das Margios Eltern verbindet - die Ehe ist von Beginn an durch Lieblosigkeit und Gewalt geprägt. Als Margios Vater eines natürlichen Todes stirbt, sind alle Familienmitglieder erleichtert. Dem Autor gelingt es gut, die Gefühlswelt der Protagonist:innen darzustellen. Mit wenigen Worten skizziert er das Leben in einem dörflichen Wohngebiet am Rande der Stadt: Arrangierte Ehen, schüchterne Annäherung und erste Verliebtheit junger Menschen, Ehebruch, Beziehungen zwischen Nachbarn, Männer, die in ihrer Freizeit an Hahnenkämpfen teilnehmen, Tauben-Toto spielen und Wildschweine jagen, arme und reiche Familien und deren Umgang miteinander. Das magisch-mystische Element bzw. die Geschichte der Tigermänner in Margios Familie nimmt einen vergleichsweisen kleinen Raum ein, ist aber trotzdem entscheidend für diese bizarre Geschichte.

    Insgesamt schafft es der Autor, eine wirklich interessante, komplexe Geschichte auf nur 225 Seiten zu erzählen. Trotz der Kürze habe ich die Protagonist:innen und die Umgebung, in der „Tigermann“ spielt, sehr lebendig vor meinen Augen. Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die die verheerenden Auswirkungen von Gewalt innerhalb einer Familie auf einzelne Mitglieder zeigt. Das mythische Element hätte für meinen Geschmack noch weiter in den Mittelpunkt rücken können.

    Teilen